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Karl, der Kleingärtner

Fertig.

Mit einem zufriedenen Lächeln räumte Karl Stift und Lineal zurück in die abgegriffene Schreibmappe. Sie hatte seinem Vater gehört. Karl schloss den Din A 4-Block und legte den Jahreskalender darauf. Entspannt lehnte er sich auf seinem Gartenstuhl zurück. Gerade hatte er den letzten Punkt auf seiner heutigen To do-Liste  durchgestrichen. Gleich würde er nach Hause fahren, sein Unterhemd gegen ein Poloshirt tauschen und mit Erika  einen Ausflug zur Feste Ehrenbreitstein machen. Er lächelte, schloss die Augen und lauschte dem Gesang der Amsel. Es war immer dasselbe. Erika mochte nicht, wenn er im Unterhemd in seinem Schrebergarten saß. „Du siehst aus wie ein Proletarier.“ „Na und?“, hatte Karl geantwortet, „ ich bin ein Proletarier, warum sollte ich nicht wie einer aussehen.“ Schon sein Vater hatte im Unterhemd im diesem Schrebergarten gesessen. Karl dachte an die wenigen Schwarzweißaufnahmen, die ihm von seinem Vater  geblieben waren. Er hatte sie gerahmt und im Inneren der Gartenlaube aufgehängt. Auch das Mitgliedsabzeichen des Reichsbund Deutscher Kleingärtner, auf das sein Vater so stolz gewesen war und die Auszeichnungsmedaille der Reichsfachgruppe Reisebrieftaubenwesen hatte er aufgehängt. Für Lieselotte, die Brieftaube, die 1935 wegen hervorragender Flugleistung ausgezeichnet worden war, hatte er sogar  extra ein passendes Regalbrett gezimmert. „Dieses verstaubte, verlauste Vieh kommt mir nicht in die Laube“, hatte Erika protestiert und gedroht, den gesamten Schrebergarten zu boykottieren, wenn Karl darauf bestand, dass Lieselotte bei ihnen einzog. Also musste Lieselotte in der Holzkiste in der Garage bleiben. Aber die Aufzeichnungen seines Vaters aus mehr als fünfzig Jahren Gartenbau hatte Karl mit zum Schrebergarten genommen. Sie lagen jetzt auf Liselottes Regalbrett. Karl kannte sie auswendig. In jeder freien Minute studierte er die Notizen seines Vaters. Auch ein ganz besonderes Blatt hatte Karl zu den Unterlagen gelegt. Er hätte es gerne neben den Fotos aufgehängt. Aber Erika hätte ihm das nie erlaubt. „Das ist vorbei. Das geht uns nichts mehr an“, hätte sie gesagt.  „Vergesst nie, dass das heiligste Recht auf dieser Welt das Recht auf Erde ist, die man selbst bebauen will, und das heiligste Opfer das Blut, das man für diese Erde vergießt.“ Karl wusste, dass es ein Zitat Adolf Hitlers war. Sein Vater hatte es in sorgfältiger Normschrift auf ein Din A 4-Blatt gemalt. Auch ihm war verboten worden, es wieder aufzuhängen. Nach dem Krieg. Karl erinnerte sich an den Vater, wie er 1948 weinend in seinem zerbombten Schrebergarten stand. Der Vater war bei den ersten Kriegsgefangenen, die Russland freigelassen hatte. Die Mutter und er, der kleine, damals sechsjährige Karl, hatten versucht, ein bisschen aufzuräumen, sie wussten, wie sehr der Vater an seinem Schrebergarten hing.  Wie stolz er auf seine persönliche Bekanntschaft mit Hans Kammler war, dem Führer des Reichsbundes der Kleingärtner. Er hatte ihn auf dem Reichskleingärtnertag in Chemnitz kennengelernt. Karl erinnerte sich und schüttelte widerwillig den Kopf. Nein, sein Vater war kein Nazi. Er hatte nie Juden vergast. Aber er hatte seinen Grund und Boden geliebt und als er in den Krieg zog, freiwillig, dann nur, um das zu verteidigen, was er liebte. Später, nach dem Krieg, als sie den Schrebergarten längst wieder aufgebaut hatten und Karl ihn gemeinsam mit seinem Vater bewirtschaftete, hatte der Vater ihm abends beim Bier aus den alten Zeitschriften vorgelesen. Von gesunder Lebensweise und von gesunder und kräftigender Kost, die der Ertrag des Gartens ermöglicht, auch von Disziplin und genauer Planung und davon, dass es eine Unsitte sei, die wertvolle Scholle durch Bepflanzung mit ertraglosen Blumen zu vergeuden. Karl hatte das gefallen. Und er fand bis heute nichts Verwerfliches an der Einstellung seines Vaters. Karl öffnete die Augen, setzte sich auf, atmete tief die reine, würzige Luft ein und betrachtete voller Stolz seinen Garten. Morgen würden sie die Johannisbeeren ernten. Eine Rekordernte! Noch besser als im Juni vor fünf Jahren. Karl hatte extra die Küchenwaage von zuhause mitgebracht. Solche respektablen Ernten kamen nicht vom Nichtstun. Er liebte es, sich den wechselnden Herausforderungen der Natur zu stellen, Wind und Wetter heldenhaft zu trotzen und Mutter Erde immer höhere Erträge abzuringen. Karl kannte die unterschiedlichen Bedürfnisse und vielfältigen Bedrohungen seiner Pflanzen genau. Er hatte ein wachsames Auge auf die Schädlinge und studierte regelmäßig die Kataloge der einzelnen Anbieter für Dünger und Mittel zur Unkrautvernichtung und Ungezieferbekämpfung. Als Schädlingsmanagement hatte neulich ein Anbieter den Einsatz eines neuen Rattengiftes beschrieben. Karl merkte sich die Marke. Er wusste um die optimalsten Aussaattermine und griff selbst zum Pinsel, wenn er den Bienenflug aufgrund widriger Wetterverhältnisse als unbefriedigend empfand. Seit er in Pension war und nahezu jeden Tag im Schrebergarten werkelte, konnte er den Ertrag der Gemüsepflanzen noch einmal um 25 % steigern. Karl genoss Tage wie heute, wenn er schon am frühen Morgen die Bohnenreihen abschritt. 15 Stangen. Exakt nach der Sonne ausgerichtet, im genau vermessenen Abstand von jeweils 80 Zentimetern. Die disziplinierte Ordnung seiner Stangenbohnen verursachte Karl immer ein wohliges Kribbeln im Nacken. „Irgendwann werden sie lebendig und marschieren davon“, pflegte Erika die Heeresschau ihres Mannes zu kommentieren. Karl schnaubte dann nur verächtlich. Frauen! Was verstanden sie schon von effektiver, disziplinierter Gartenarbeit! Da war Kraft gefragt, kompromisslose Ausdauer. Aber besonders auch Köpfchen für die ausgetüftelten Anbaustrategien, die ausgewogenen Düngergaben und die gezielte  Verwendung der chemischen Mittel. Kampfmittel, wie Karl jedem grinsend erklärte, wenn es um Ungeziefer ging. Erika hatte er die Kräuterecke zugewiesen. Ein bisschen Unkrautjäten, im Sommer die Pflanzen schneiden und zum Trocknen in den Schatten hängen. Da konnte sie nicht viel verkehrt machen. Und wenn doch, war er augenblicklich zur Stelle, um es ihr noch einmal zu erklären. Der alte, einbeinige Kurt, vom Schrebergarten nebenan, der hatte ihn verstanden. Mit dem konnte er sich stundenlang über die richtige Kartoffelsorte unterhalten. Frühgold, Heidenniere, Inovator, Turdus. Kurt hatte sie alle gekannt. Und wie der immer seine riesigen Kohlköpfe bewundert hatte und den strammen, festen Lauch. Kurt war ein guter Kerl gewesen. Obwohl er Sozialist war. Aber über Politik haben sie nur  das eine Mal geredet. Als Kurt starb, wunderte sich Karl, wie wenig er über seinen ewigen Nachbarn wusste. Ehefrau? Kinder? Kurt war nur am Wochenende in seiner Laube gewesen und sie hatten eigentlich immer über den Garten gesprochen. Mit einem Sozialisten kann man nicht über Politik reden.

Und dann war Kurt einfach so gestorben, ohne etwas geregelt zu haben und hatte Karl mit dem ganzen Ärger allein gelassen. Karl hatte offiziell die Übernahme des Nachbargartens beantragt. Er war fest entschlossen, den Gemüseanbau im Sinne Kurts weiterzuführen und hatte ein entsprechendes Gesuch an Herrn von Ullrich, den ersten Vorsitzenden des Kleingartenvereins, gerichtet. Karl runzelte die Stirn und schnaubte ungehalten, als er an das Gespräch mit dem feinen Herrn von Ullrich zurück dachte. „Zieh Dir wenigstens ein Poloshirt über“, hatte Erika ihm nachgerufen, als er an einem Samstagnachmittag zur Vereinsklause „Abendfrieden“ losmarschierte. Karl hatte nur den Kopf geschüttelt. Sein Blick streifte das akkurat geschnittene Säulenobst. Der Fruchtansatz der Viktoria-Kirsche war vorbildlich. Karl nickte zufrieden.  Er hatte es nicht nötig, sich für Herrn von Ullrich zu  verkleiden. Karl hatte für den anderen gestimmt, bei der Vorstandswahl vor einem halben Jahr. Der von Ullrich war ihm zu liberal, hat nach seiner Wahl die strengen Anbauregeln geändert: wer wollte, konnte nun auch nur Rasen säen und auf den Gemüsebau verzichten. Zum Glück war es eine geheime Wahl gewesen. Der erste Vorsitzende des Kleingartenvereins saß am Tresen, als Karl das Vereinslokal betrat. Er stand auf und begrüßte Karl mit einem freundlichen Handschlag. Karl musterte seinen Gegenüber. „Der sieht nicht aus wie ein Gärtner, mit der hellen Hose und dem schicken Hemd. Der hat noch nie im Leben ein Gemüsebeet umgegraben.“ Von Ullrich unterbrach Karls Gedanken. „Schön, dass Sie gekommen sind. Lassen Sie uns zum Tisch gehen.“ Herr von Ullrich griff nach seiner ledereingebundenen Aktenmappe und ging Karl zum Stammtisch voraus. Nachdem sie Platz genommen hatten, zog der erste Vorsitzende ein paar Unterlagen aus der Mappe. Karl fühlte, wie er  nervös wurde und ärgerte sich über seine Unsicherheit. So offiziell hatte er sich dieses Gespräch nicht vorgestellt. Ein, zwei Bier, ein bisschen verhandeln, ob man die Pacht beim zweiten Schrebergarten nicht ein paar Euro billiger machen könnte, einen Schnaps auf den verstorbenen Kurt. Hand drauf. Und, damit alles seine Ordnung hatte, schließlich die Unterschrift unter den Pachtvertrag. Jetzt bereute er, dass er nicht Erikas Rat befolgt hatte. Er fühlte sich nackt und angreifbar in seinem verwaschenen Feinrippunterhemd. „Nun, Herr Klein, ich habe Ihr Ansinnen letzte Woche in der Vorstandssitzung vorgetragen“, begann Herr von Ullrich und schaute Karl freundlich an. „Wir wissen es zu schätzen, dass Sie seit vielen Jahren unsere Kleingartenanlage durch Ihren gepflegten Gemüsegarten bereichern.“ Karl nickte eifrig: „Seit über 70 Jahren, Herr Vorsitzender, der Schrebergarten hat schon meinem Vater gehört. Wir sind eine alte Gartenbaufamilie. Uralter Gartenadel, gewissermaßen. Ganz vernarrt in die eigene Scholle.“ Er lachte und verstummte verlegen, als der Vorsitzende nicht in sein Lachen einfiel. Herr von Ullrich musterte Karl schweigend. „Alt“, begann er schließlich „und vernarrt“. Der  Vorsitzende räusperte sich: „Sehen Sie, Herr Klein, damit hätten wir das Problem gewissermaßen auf den Punkt gebracht: Sie werden demnächst 80 Jahre alt. Denken Sie nicht, es wäre an der Zeit, die Gartenarbeit gelassener anzugehen?“ Karl starrte Herr von Ullrich sprachlos an. „Was erlaubte sich dieser Jungsporn? Was waren schon ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel, gemessen an seiner überragenden Erfahrung im Gemüsebau? Trotz seiner fast 80 Jahre hatte er immer noch die besten Ernten der gesamten Gartenanlage! Und warum? Weil er genau wusste, wann Dünger und wann das richtige Spritzmittel notwendig waren! Der feine Pinkel  war doch über Berliner Tiergartenrasen und ein paar Monatserdbeeren nicht hinausgekommen!“ Ehe Karl die passende Antwort formuliert hatte, fuhr Herr von Ullrich fort: „Dazu kommt, dass viele meiner Vereinskollegen Ihre Anbaumethoden kritisieren.“ Jetzt reichte es Karl! Er richtete sich auf, schob die Brust nach vorne, zog den Bauch ein  und straffte die Schultern: „Was gibt es an meinen Anbaumethoden auszusetzten?“, fragte er herausfordernd. „Kommen Sie vorbei! Schauen Sie sich meine Erträge an! Meine Erfolge sprechen für sich!“ Anscheinend hatte Karl den richtigen Ton getroffen. Mit Genugtuung stellte er fest, dass Herr von Ullrich anscheinend nach Argumenten suchte. Zögernd begann sein Gegner: „Der übertriebene Einsatz der Düngemittel und das viele Gift, das Sie versprühen.“ Karl hatte genug. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. „Die verstehen davon nichts! Diese Öko-Gänseblümchen-Züchter! Erzählen Sie das einmal einem aus der Landwirtschaft! Wer ernten will, muss Mutter Erde auch etwas zurückgeben! Und der Kampf gegen Schimmelpilze, Blattläuse und Kohlraupenbefall kann nicht mit einem Gartenschlauch gewonnen werden, da braucht es den gezielten Gifteinsatz. Aber davon habt Ihr junges Gemüse allesamt keine Ahnung! Für Euch kommt der Apfel doch aus dem Supermarkt!“ Karl atmete schwer. Herr von Ullrich war ebenfalls aufgestanden. „Wir sollten uns wieder beruhigen“, beschwichtigend legte der erste Vorsitzende  seine Hand auf Karls Arm. Wütend schüttelte Karl die Hand ab. Herr von Ullrich zuckte die Schultern. „Also, um die Sache zu Ende zu bringen“, begann er in ernstem Ton, „ Ihr Antrag auf Übernahme eines zweiten Schrebergartens wurde vom Vorstand einstimmig abgelehnt. Sie sollten dieses Votum aber nicht persönlich nehmen.“ Karl schnaubte vor Empörung: „Und ob ich das persönlich nehme! Darauf können Sie Ihren vornehmen Arsch verwetten! Aber Ihr werdet noch an mich denken, wenn Eure Schreberanlagen allesamt aussehen wie Reihenhausvorgärten. Wenn niemand mehr weiß, wie man einen Kohlrabi züchtet. Ihr werdet noch an mich denken!“ Erhobenen Hauptes schritt Karl zur Tür. Bevor er sie öffnete, wandte er sich dem Wirt der Vereinsschenke zu: „Wir sehen uns, Erich. Ich komme auf mein Bier vorbei, sobald dieser feine Herr gegangen ist. Er wird erleben, was er davon hat, mich einen alten Narren zu nennen.“

Karl erinnerte sich an den Sonntagmorgen, als sie ankamen, um Kurts Schrebergarten zu übernehmen. Städter! Das nervtötende schrille Kläffen ihres kleinen Köters hatte Karl die Frühstückslaune verdorben. Er ging zur Himbeerhecke und schaute hinüber: Kleines rotes Flitzerauto, Frau mit Ausschnitt bis zum Bauchnabel und zwei Gören, ein Junge, ein Mädchen. „Nein, Sie können den Wagen nicht einfach hier an der Hecke stehen lassen! Das ist eine Laubenkolonie und kein Aldiparkplatz!“ Karl hatte es schon befürchtet. Vor vier Wochen war ein Gartenbauunternehmen angerückt und hatte Kurts Gemüsebeete durch langweiligen, unnützen Rasen ersetzt. Karls Sonntag war verdorben. Kreischende Kinder, Dauerbeschallung aus dem CD-Player  und Hundegebell. Ein Gewitter mit anschließendem Dauerregen konnte nicht schlimmer sein. Nein, ein Gewitter wäre eine Wohltat dagegen. Ein Gewitter würde vorübergehen. Aber diese Sippe würde jetzt jedes Wochenende in den Schreibergarten einfallen. Und dann fiel ihm auch noch Erika in den Rücken. Die ganze folgende Woche lag sie ihm in den Ohren. „Es sind nun mal unsere neuen Nachbarn. Eine gute Nachbarschaft ist wichtig. Einer muss den Anfang machen. Wenigstens einmal musst Du ihnen eine Chance geben.“ Eigentlich war Erika Karl immer eine loyale Ehefrau. Aber wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie extrem stur auf ihrer Meinung beharren. Karl erinnerte sich an Lieselotte und schließlich, am nächsten Sonntag, als die ganze Brut wieder anrückte, hatte Karl nachgegeben und Erika erlaubt, sie zum Kaffee einzuladen. Es gab selbstgebackene Triester Torte mit der Johannisbeermarmelade aus der Rekordernte. Und sie kamen! Ein Alptraum! Sie mit rotlackierten Fingernägeln. Hat garantiert noch nie einen Setzling eingepflanzt. Und dann die Kinder! Nicht einen Moment stillsitzen konnten sie. Überall rumgerannt sind sie. „Nein, nicht auf die Beete treten! Ihr müsst auf den Wegen bleiben! Stellt die Gießkanne weg, das ist kein Kinderspielzeug!“ Mit dem Mädchen stimmte etwas nicht. Schlitzaugen und ein Mondgesicht. Und richtig reden konnte sie auch nicht, obwohl sie älter war als ihr Bruder. Und dann beobachtet Karl, wie der Hund seine Bohnenstangen beschnüffelte. Karl sprang auf, aber es war zu spät. Der Köter hatte tatsächlich das Bein gehoben! „Nehmen Sie das Vieh an die Leine!“ Karl konnte sich nur mit Mühe beherrschen. „Ja, natürlich!“, die Frau rief den Hund herbei und leinte ihn am Gartentisch an. „Entschuldigung. Zum Glück ist ja nichts passiert.“ Sie lächelte Karl freundlich an. Karl fing Erikas Blick auf und bemühte sich, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben:  “Ihr Hund verdirbt meine Bohnen. Sie haben tatsächlich überhaupt keine Ahnung vom Gemüsebau. Was wollen Sie überhaupt mit einem Schrebergarten?“ Die Frau lehnte sich zurück und atmete genussvoll tief ein. „Die frische Luft. Es ist wegen der Kinder. Mein geschiedener Mann meinte,  ein bisschen Natur am Wochenende  würde uns gut tun. Er hat den Schrebergarten für uns gemietet. Hier können die Kinder im Freien spielen, ohne dass ich sie ständig beaufsichtigen muss. Marie liebt Pflanzen“, liebevoll strich die Frau der kleinen Marie über die Wange. „Nächste Woche wird ein Sandkasten geliefert und eine Schaukel. Und die Kletterburg, die sich Philip gewünscht hat.“ „Ja! Kletterburg! Kletterburg!“ Philip war aufgesprungen und hüpfte aufgeregt um den Tisch. „Burg! Burg!“ ahmte Marie ihren kleinen Bruder nach und verhedderte sich in der Leine des Hundes, als sie Philip nachrannte. Mit verkniffenem Mund und schwer atmend starrte Karl auf die Kaffeelachen, die Erika eilig mit einem Geschirrhandtuch aufwischte. Marie hatte sich das Knie aufgeschlagen und weinte. „Nein“, Karl schüttelte energisch den Kopf, „wir haben ganz bestimmt kein Pflaster. Am besten bringen Sie die Kleine nach Hause und reinigen da die Wunde. Gartenerde kann sehr gefährlich sein, wegen der Bodenkeime!“ „Wirklich?“, musterte die Mutter die kleine  Wunde  „Ja, dann gehen wir jetzt wohl besser.“ „Besser ist das.“, erwiderte Karl, „und vergessen Sie den Hund nicht!“

„Ein Schrebergarten ist kein Kinderspielplatz!“ Es dauerte lange, bis sich Karls Blutdruck von dem Besuch der neuen Nachbarn erholt hatte. Dann nahm er den Bauhauskatalog und kalkulierte, was ihn ein hoher, stabiler Gartenzaun kosten würde

Aber das mit dem hohen, stabilen Gartenzaun wurde nichts. Punkt 2.5 der Kleingartenverordnung erlaubte nur Zäune bis zu einer Höhe von 1.00 Meter. Karl hatte noch einmal in der Verordnung nachgeschlagen, als Erika den Einwand vorbrachte. Und eine Ausnahmegenehmigung hatte der feine Herr von Ullrich ausdrücklich abgelehnt. „Einigen Sie sich mit Ihren neuen Nachbarn“, hatte Herr von Ullrich leichtfertig erklärt. „Schenken Sie dem Hund ein paar Leckerlies und kochen Sie Marmelade mit den Kindern. Sie werden sehen, die neuen Nachbarn werden eine nette Abwechslung in Ihrem Leben sein. Kinder sind ein Segen.“ Karl hätte gerne auf diese Abwechslung verzichtet. Das Johlen der Kinder, das Bellen und Jaulen des Hundes, die Musik, ja sogar die fremdartigen Kochdüfte, die vom Nachbargrundstück herüberwehten, alles störte Karls Gartenfrieden und machte seine Wochenenden zu einem einzigen Ärgernis. Karl hatte sogar überlegt, am Wochenende in der Stadt zu bleiben und seinen Schrebergarten nur noch unter der Woche aufzusuchen. Aber er wollte seine Pflanzen nicht mit diesen Eindringlichen alleine lassen.

Und dieser neugierige Hund und die ungezogenen Kinder drangen immer dreister in Karls Schrebergarten sein. Bälle und Frisbeescheiben landeten im Pflücksalat und der blöde Köter fand keinen besseren Platz, um seinen Kochen zu vergraben als Karls Möhrenbeet.

„Es ist ein Geschenk, er mag Sie.“ Karl hatte die Nachbarin  mit  dem abgenagten Knochen konfrontiert.

Und dann die Kinder!  Sie kamen durch die Himbeerhecke gekrochen, ohne auf Äste oder Fruchtstände zu achten. Oder sie kletterten über das kleine Gartentor. Standen dann einfach da:  der kleine Philipp mit seiner blöden Schwester an der Hand und fragten, ob das Kuchen sei, was da so lecker duftete.

Dann hatte Karl die kleine Marie erwischt, wie sie die Zucchiniblüten von den Pflanzen pflückte. Wutentbrannt schleppte er die Kleine zu ihrer Mutter. „Schauen Sie doch nur, wie niedlich sie aussieht, mit den gelben Blüten im Haar. Da kann man ihr doch gar nicht mehr böse sein, nicht wahr?“ Und ob Karl ihr böse sein konnte! „Wenn ich Ihre Kinder noch einmal in meinem Garten erwische, rufe ich die Polizei,“ herrschte er die Frau an. „Passen Sie auf Ihre Göre auf. Sie hat mir die ganze Zucchiniernte verdorben.“

Das war an einem Samstagmorgen gewesen. Am Samstagnachmittag kam die Nachbarin mit Kindern und Hund im Schlepptau und überreichte Karl eine ganze Tüte Zucchini und eine Flasche Wein dazu. „Die Zucchini hatte Aldi heute im Angebot. Da habe ich gleich an Sie gedacht.“

Da wusste Karl endgültig, dass diese Frau ihn nie verstehen würde.

Und dann geschah das mit den Erdbeeren. Karl kam gerade aus dem Baumarkt zurück, er hatte dort nach einem effektiven Mittel gegen Wühlmäuse gesucht, als die Göre über seinen eigenen Gartenpfad auf ihn zu stolperte und ihm ihren grellgelben Sandeimer unter die Nase hielt.  „Gefunden! Für Dich!“ nuschelte sie. Voller Entsetzten betrachtete Karl Maries Fundstücke im Eimer. Dann ging sein Blick zum Erdbeerbeet. Tatsächlich! Eine ganze Armee Wühlmäuse hätte nicht schlimmer wüten können. Wenn sie wenigstens nur die reifen Früchte genommen hätte!

„Sie dürfen ihr nicht böse sein. Sehen Sie doch, wie traurig sie jetzt. Sie wollte doch sogar mit Ihnen teilen!“ „Es sind meine Erdbeeren! Auf meinem Grund und Boden!“, schnaubte Karl. „Sie haben ja recht,“ die Mutter nickte beschwichtigend. „Aber Marie liebt buntes Essen. Schauen Sie,“ die Mutter zeigte auf die Liebesperlen in einer kleinen Schüssel auf dem Gartentisch. „Maries Lieblingsnascherei.  Bei den kleinen roten Beeren in Ihrem Garten konnte sie einfach nicht widerstehen.“ „Meine Erdbeeren sind nicht klein. Zumindest nicht, wenn man mit der Ernte wartet, bis sie reif sind. Und dieses Zuckerzeug,“ wütend deutete Karl auf die Liebesperlen,“  ist ungesunder chemischer Mist. Den sollten Sie Ihren Kindern umgehend abgewöhnen, geben Sie ihnen einen Apfel, dann müssen sie auch nicht im Nachbarsgarten wildern!“ Hätte der Schrebergarten der Nachbarin ein Gartentor gehabt, Karl hätte es wütend ins Schloss geworfen als er zu seinem übel zugerichteten Erdbeerbeet zurückstampfte. Liebesperlen! Kleine bunte Kügelchen! Karl dachte über die Liebesperlen nach, während er die herausgerissenen Pflanzen  einpflanzte und versuchte, den angerichteten Schaden zu beheben. Als er damit fertig war, hatte er einen Entschluss gefasst. Schädlingsmanagement. Kleine rosa Kügelchen.

Karl schlug  Erika vor, an diesem Wochenende einen Ausflug zur Feste Ehrenbreitstein zu machen. Erika freute sich.  Es kam selten vor, dass Karl sein Wochenende im Schrebergarten gegen eine andere Freizeitaktivität eintauschte. Erika war, genau wie Karl es erwartet hatte, am Samstagmorgen nicht mit zum Schrebergarten gekommen. Sie wollte zu Hause den Ausflug vorbereiten. Karl war alleine zum Schrebergarten gefahren, um noch schnell einige notwendige Pflegearbeiten zu erledigen. Zum Schluss stellte er ein sorgfältig mit Normschrift geschriebenes kleine Hinweistäfelchen auf: „Vorsicht Gift !“ Dann nahm er seine Schreibmappe von Isabellas Regalbrett  mit zum Gartentisch.

Fertig.  Mit einem zufriedenen Lächeln räumte Karl Stift und Lineal zurück in die abgegriffene Schreibmappe.  Karl schloss den Din A 4 Block und legte den Jahreskalender darauf. Entspannt lehnte er sich auf seinem Gartenstuhl zurück. Gerade hatte er den letzten Punkt auf seiner heutigen To do-Liste  durchgestrichen: Auslegen von  Rattengift im Erdbeerbeet. Er freute sich auf den Ausflug mit Erika.

Die Mutter ( Warten )

Bevor er davon fuhr legte er kurz den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich: „Nicht weinen! Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt.“ Sie schaute zu ihm auf. Wie groß er geworden war! In der ersten Zeit rief er an. Manchmal. Am Wochenende. Viel zu tun. Der Job. Die neue Wohnung. Die Leute hier sind klasse. Geile Schnecken in den Kneipen. Ich komme vorbei, wenn sich alles eingespielt hat. Oder Weihnachten. Vielleicht. Mal sehen, was die anderen vorhaben.

Die Christmette hat sie zu Hause am Fernsehen angeschaut. Ihr war immer so kalt in der Kirche. Und was wäre, wenn er käme, während sie in der Kirche war. Niemand würde ihm öffnen.  Und seine Schlüssel hatte er hier gelassen.  Ihre Schwester lud sie am ersten Weihnachtstag zum Essen ein. Sie lehnte ab. Ginge leider nicht.  Könnte sein, dass Jens kommt, dann musste sie doch daheim sein. Rouladen hatte sie gekocht. Und Rotkohl. Sein Lieblingsessen. Er kam auch am zweiten Weihnachtstag nicht. Am Neujahrstag schickte er eine SMS. Der Sohn der Nachbarin hat sie ihr vorgelesen. „Der besten Mutter der Welt! Ein gutes, neues Jahr! Viele Grüße aus Paris!“ Ob man das ausdrucken kann, hat sie den Nachbarjungen gefragt.

Einmal hat sie ihn angerufen. Nur so. Auf seinem Handy. Er war wütend geworden. Was das solle? Er sei gerade in einem wichtigen Meeting. Sie solle ihm nicht immerzu nachspionieren.

Eine Woche später hat er sie angerufen. Sich entschuldigt. Ja. Ostern klingt gut. Vielleicht Ostern. Falls nicht Rita … Mal sehen.

Freunde hatten sie eingeladen in ihr Ferienhaus an der Nordsee. Ein nettes Angebot. Ja, sie würde gerne mitfahren. An Ostern? Nein, zu Ostern würde Jens kommen. Und er würde Rita mitbringen. Sie hat sich beeilt mit den Ostereinkäufen. Schließlich sollten die beiden nicht vor verschlossener Tür warten müssen. Die Sahnetorte warf sie am Dienstag in die Mülltonne. Den Osterzopf aß sie unter der Woche. Er war trocken, aber zum Kaffee. Bestimmt war ihm etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Sie prüfte, ob ihr Handy geladen war, falls er anrief. Oder hatte er nach Ostern gesagt? Am nächsten Freitag kaufte sie für drei ein und wartete. Samstag und Sonntag verließ sie nicht das Haus. Sie betrachtete die Fotos auf der Kommode. Wie groß er geworden war. Und so selbständig. Dienstag wählte sie mit zitternden Fingern seine Handynummer. „Diese Rufnummer ist nicht vergeben.“ „Nein“, sagte der Nachbarjunge, „dein Handy ist nicht kaputt. Vermutlich hat Jens eine neue Handynummer.“ Sie nickte. Er hatte wohl vergessen, ihr die neue Handynummer zu geben.

Ihre Freunde schüttelten den Kopf. „Du musst doch nicht jedes Wochenende zu Hause sitzen und auf den Kerl warten. Er kann anrufen, bevor er vorbei kommt.“ Sie verstanden nicht. Er hatte noch nie vorher angerufen. So war er nicht. Eines Tages würde er einfach vor der Tür stehen. Sie würde da sein und ihm öffnen. Er würde wieder seinen Arm um ihre Schulter legen und sie kurz an sich ziehen. „Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt“, hatte er gesagt. Sie würde zu ihm aufschauen und lächeln. Ihr Junge! So groß! So erwachsen! So selbständig! Nein, sie würde am Wochenende nicht mehr mit ihren Freunden weggehen. Die Freunde konnte sie auch unter der Woche treffen. Aber ihren Jungen …  Was wäre sie eine schlechte Mutter, wenn sie nicht daheim wäre, wenn der Junge käme.

Den Muttertag verbrachte sie zu Hause in der Nähe des Telefons. Sie hatte Kuchen gebacken und die Türklingel kontrolliert. Manchmal trat sie auf die Türschwelle und schaute die Straße hinunter. Dabei hatte sie so ein Gefühl. Als wenn er jeden Moment käme.

Vielleicht käme er auch gar nicht an einem Wochenende. Vielleicht war er schon da gewesen. Letzte Woche. Am Dienstag vielleicht. Während sie beim Frisör war. Er hatte sie überraschen wollen, aber sie war nicht da. Bestimmt hatte ihn das enttäuscht. Oder verärgert. Bestimmt hatte er deshalb zu Muttertag nicht angerufen. Was sollte er auch von einer Mutter halten, die lieber zum Frisör geht, anstatt nur dieses eine Mal für ihren Sohn zu Hause zu sein?

So fing es an, dass sie das Haus nicht mehr verließ. Noch nicht einmal zum Einkaufen. Den Nachbarjungen freute das zusätzliche Taschengeld. „Du musst Dir helfen lassen. Das ist nicht mehr normal“, sagten die Freunde. Sie schüttelte den Kopf. Was wussten sie schon von diesem besonderen Band zwischen Mutter und Sohn. Jeden Morgen nahm sie sein Foto von der Kommode, stellte es vor sich hin und sprach mit dem Sohn. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie die Verbindung spüren. Sie konnte fühlen, dass er an sie dachte. Sie fühlte seine Sehnsucht nach ihr. Sie fühlte wie sehr er unter der Trennung litt. Wie gerne er gekommen wäre. So erwachsen. So selbständig. Jeden Morgen versprach sie ihm, zu warten, da zu sein, wenn er an ihre Tür klopfen würde. Für ihn da zu sein. Immer.

Als die Schmerzen begannen, ließ sie sich vom Nachbarjungen Schmerzmittel aus der Apotheke besorgen. Als die Schmerzen heftiger wurden, überlegte sie, ob sie den Arzt ins Haus bestellen sollte. Der Nachbarjunge war rot geworden, als sie ihn zum ersten Mal bat, Binden zu kaufen, die größte Größe und eine Flasche Korn. Die blutdurchtränkte Unterwäsche hatte sie in den Müll geworfen. Sie kannte ihren Körper. Sie wusste, was die Schmerzen bedeuteten. Der Arzt würde sie ins Krankenjaus überweisen. Operation. Mehr als acht Tage nicht zu Hause. Deshalb rief sie keinen Arzt. Sie litt. Aber es war normal für eine Mutter, zu leiden. Das war das Los der Mutter. Sie hatte ihn unter Schmerzen geboren. Es hatte sie fast zerrissen. Wieder fühlte es sich an, als würde etwas in ihr zerreißen. Fast als würde sie ihn ein zweites Mal zur Welt bringen. Sie würde auch diese Schmerzen aushalten. Nur noch diese Schmerzen aushalten, und er wäre da. Wieder bei ihr.

Der Nachbarjunge hat sie gefunden und die Eltern gerufen. Der Arzt schüttelte bedauernd den Kopf:  „Ich kann nichts mehr tun.“ „Sie müssen loslassen“, sagte der Priester. „Nein“, stöhnte sie. „Warten. Er kommt. Bestimmt.“ Sie kämpfe verbissen. Schweißnass. Stöhnte. Weigerte sich zu gehen. Ihre Schwester war da, weinte, streichelte ihre Hand:“ Es ist in Ordnung. Mach es Dir nicht so schwer.“ Mühsam hob sie den Kopf. Das Foto. „Warten!“ Ihr Blick zur Tür. Die Schwester schüttelte den Kopf: „Nein! Er wird nicht kommen. Wir haben ihn nicht einmal erreicht!“

Sie schloss die Augen. Warten. Er wird kommen. Dieses besondere Band. Er würde ihr nie verzeihen, wenn sie jetzt ging. Wenn sie ihn verließ, ohne dass er sich verabschieden konnte. Er würde ihr das nie verzeihen.

Er war auch zur Beerdigung nicht gekommen. Den Verkauf des Hauses hatte er von Berlin aus abgewickelt. Er war großzügig: Die Schwester konnte sich aus dem Haushalt nehmen, was sie wollte. Es war ihm egal.

Der Makler stöhnte, als er das Haus schon wieder zum Verkauf anbieten sollte. „Ich kann in diesem Haus nicht glücklich werden“, sagten alle, die es bewohnten, „immer wenn ich es betrete, umfängt mich diese traurige Sehnsucht.“

„Es ist ihre Seele“, vertraute die Nachbarin der Schwester an. „Ihre Seele kann das Haus nicht verlassen, sie wartet immer noch.“

Intercitiy nach Mailand – vielleicht

Karin saß am Küchentisch, und schaute ihm zu, wie er die Zeitung zusammenfaltete, die Kaffeetasse zur Tischmitte schob und sich nach seiner abgegriffenen Aktentasche bückte. Er hob sie auf den Stuhl neben sich. Karin hatte die Dose mit den belegten Broten und die Thermoskanne auf den Tisch  gestellt. Er mochte das Kantinenessen nicht und von dem Kaffee im Büro bekam er Sodbrennen. Sorgfältig räumte er die Aktentasche ein. Den Apfel rieb er am Hemdsärmel blank, bevor er ihn in der Tasche verstaute. Karin erinnerte sich: „An apple a day, keeps the doctor away“, hatte er früher lächelnd gesagt, wenn er auf seinen täglichen Apfel bestand. Keine Banane, kein anderes Obst, jeden Tag einen Apfel. Und jeden Morgen legte sie den Apfel auf dem Frühstückstisch für ihn bereit. Er stand auf, ging zum Fenster und zog sein Handy vom Ladekabel. Ein kurzer Blick nach draußen. Dieser Blick entschied, ob er einen Regenschirm mitnehmen würde. „Scheint ein sonniger Tag zu werden“, meinte er und schob das Handy in die Aktentasche. Der Autoschlüssel lag auf der Kommode neben der Tür, er griff danach : „Und vergiss nicht schon wieder, die Katzenbox in den Keller zu bringen“, sagte er noch, bevor er die Tür von außen zuzog. Als er gegangen war, saß sie da und schaute lange auf die Tür. Sie hatte den ganzen Morgen noch kein Wort gesprochen. Es war ihm nicht einmal aufgefallen. Karin stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Die Zeitung warf sie ins Altpapier. Die kleine graue Katzenbox stand neben der Kommode im Flur. Karin hatte sie gereinigt und die weiche Decke gewaschen. So viel Blut. Sie räumte die beiden Näpfe für Futter und Wasser in die Katzenbox. Als sie den kleinen Spielball dazu legte und das Glöckchen leise klingelte, brannten ihre Augen. Fast meinte sie, das zarte Trippeln von Katzenpfoten hinter sich zu hören. Er wollte keine neue Katze. Karin atmete tief durch, nahm die Wohnungsschlüssel und die Katzenbox und ging in den Keller. Sie schloss die Tür auf. Die Neonlampe flackerte und tauchte den Raum in ein kaltes, helles Licht. Sie stellte die Katzenbox neben die Tür und wandte sich zum Gehen, als ihr Blick auf den Koffer fiel. „Nur ein einziges Mal wurde er benutzt“, dachte Karin, strich mit den Fingerspitzen über das glatte Kunstleder und erinnerte sich.  Italien, Bibione. Sie nahm den Koffer mit nach oben.

Es war Nachmittag, als Karin mit dem Koffer die Wohnung verließ. Er war schwer. Sie ging die Straße hinunter und erschrak, als ein Wagen neben ihr anhielt. „Brauchen Sie ein Taxi?“ Karin nickte. Der Fahrer stieg aus und hob den Koffer in den Kofferraum. Als er ihr die Tür öffnete, stieg sie ein. „Zum Bahnhof?“ Sie nickte.

„35 Euro 40.“ Karin hätte nicht gedacht, dass ein Taxi so teuer war. Dann stand sie da, vor dem Bahnhof mit dem schweren Koffer. Andere Taxis kamen an. Reisende stiegen aus und betraten den Bahnhof. Karin folgte ihnen. Vor der großen Anzeigetafel blieb sie stehen. Sie las die Abfahrtszeiten der Züge und ihre Bestimmungsorte.  Intercity nach Hamburg, Berlin, Paris, Wien, Mailand. Vielleicht Mailand. Karin ging zur Rolltreppe und fuhr nach oben zum Café. Sie stellte ihren Koffer neben den Stuhl ganz vorne am Geländer und nahm Platz. Von hier aus konnte sie die Anzeigetafeln sehen und die ankommenden und abfahrenden Züge. Sie erinnerte sich. „Dies ist ein Kopfbahnhof“, hatte er ihr erklärt, als sie in den Zug nach  Latisana eingestiegen waren. Ihre Hochzeitsreise nach Bibione. Sie hatten einen Ausflug nach Venedig gemacht. Er hatte alles sorgfältig geplant und spielte ihren Reiseführer. Sie waren sogar in einer Gondel gefahren. „Ja bitte?“  Karin erschrak und schaute die Kellnerin verständnislos an. „Kaffee? Tasse? Kännchen?“, fragte die Kellnerin schnippisch. Karin bestellte eine Tasse Kaffee und schaute hinunter in die Bahnhofshalle. Reisende verabschiedeten sich von ihren Freunden, Eltern, Partnern und stiegen mit großen Koffern in den Zug. Andere kamen an und blickten sich suchend um. Sie beobachtete eine junge Frau, die auf einen Mann zuging, der ihr verlegen einen Strauß Blumen überreichte. Beide lachten. Er nahm ihren Koffer, sie hakte sich bei ihm ein und gemeinsam gingen sie den Bahnsteig entlang. Die Frau redete ununterbrochen und der Mann hörte aufmerksam zu. Karins Blick fiel auf die große Bahnhofuhr. Es war zwanzig Minuten nach vier. Sie saß schon über eine Stunde hier. Sie fing den ungeduldigen Blick der Kellnerin auf und bestellte einen zweiten Kaffee. In fünf Minuten würde er nach Hause kommen. Sie war immer daheim, wenn er nach Hause kam. Karin legte ihr Handy vor sich auf den Tisch. Er würde anrufen. Sie würde nicht abheben. „Auf Gleis Sechs fährt ein der Intercity von Mailand.“ Neugierig beugte sich Karin nach vorne. Der Zug hielt mit kreischenden Bremsen. Die Automatiktüren öffneten sich und die Reisenden stiegen aus. Eine ältere Frau blieb stehen und schaute sich suchend um. Dann griff sie entschlossen nach dem Griff ihres Rollkoffers, ging zügig den Bahnsteig entlang und verschwand aus Karins Blickfeld. „Sie weiß genau wohin sie will“, dachte Karin, “wahrscheinlich wartet er draußen auf sie.“ Karin schaute auf ihr Handy. Eigentlich müsste er jetzt anrufen. Als die Bahnhofsuhr Fünf Uhr zeigte, hatte er immer noch nicht angerufen. Wieso rief er nicht an? Karin wurde nervös. Wenn er zu Hause wäre, würde er anrufen. Ganz bestimmt. Wieso war er noch nicht zu Hause? Karin blickte wieder in die Bahnhofshalle hinab. Zwei Mitarbeiter des Roten Kreuzes schoben einen Mann im Rollstuhl zum Zug. Sie hatte nicht gewusst, dass es für Rollstuhlfahrer besondere Türen am Zug gab. Sie halfen dem Mann in den Zug und die Tür schloss sich. Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, wählte Karin die Handynummer ihres Mannes. „Ebert?“, seine Stimme klang überrascht, „ich bin gerade heimgekommen. Wo bist Du?“ Karin schluckte. „Wieso bist du so spät? Ist etwas passiert?“, fragte sie. „Nein, alles in Ordnung“, antwortete er ungeduldig, „ich bin am Tierheim vorbeigefahren. Es wäre gut, wenn du da wärst, das blöde Vieh hat mir den ganzen Arm zerkratzt und sitzt jetzt fauchend unter dem Sofa. Wo bist du?“ Karins Stimme zitterte: „ Ich bin am Hauptbahnhof. Ich habe einen Koffer dabei. Ich bin gerade angekommen“, sie zögerte, „gewissermaßen“, fügte sie hinzu, „kannst du mich abholen?“ Stille. Einen langen quälenden Moment fürchtete Karin, er würde einfach auflegen. Als er wieder sprach, klang seine Stimme anders als sonst, weicher, fast so wie früher: „Ich komme. Und hör auf zu weinen, was sollen denn die Leute denken!“

Karin zahlte und fuhr mit ihrem Koffer in die Bahnhofhalle hinab. Gemeinsam mit anderen Reisenden ging sie zum Ausgang.

Sie weinte.

Leute, die ihr entgegenkamen, bemerkten es und sahen ihr Lächeln und dachten, es wären Freudentränen.

Warum Wandschränke nachts geschlossen werden

Sie hätte ihm glauben sollen. Kleine Schwestern sollten großen Brüdern immer glauben. Er hatte sie gewarnt vor dem, was aus dem Wandschrank kriechen würde. Seine Großmutter hatte ihm erklärt, warum man Wandschränke nachts immer schließen sollte. Nachts, wenn es ganz dunkel ist, kommen sie hervor. Die lichtscheuen Ungeheuer. Kriechen heraus. Ihre milchig weißen Körper hinterlassen glitzerende Schleimspuren. Manche noch im Larvenstadium, durchscheinende Maden, blind, nur ihrem Geruchsinn folgend auf der Suche nach Futter. Würmer, unersättlich in ihrer Gier nach Fleisch. Menschenfleisch. Zartem, frischem Menschenfleisch. Andere, ausgewachsen, riesig, sich windend wie Aale. Hinter der Vertäfelung des Wandschrankes: Ein  unendlich großer, schwarzer, kalter, feuchter Raum. Ein Universum voller  Hass und  geifernder  Gefräßigkeit, das diese teuflischen Ungeziefer hervorbringt. Ausspuckt. Würde er den Wandschrank nachts unverschlossen lassen, kämen sie heraus. Muränen gleich. Große Augen ohne Lider. Riesige Mäuler mit spitzen Zähnen. Wie tollwütige Ratten würden sie nach seinen Gliedern schnappen. Sie fürchten nur eines: Licht. Licht tötet sie. Sein heller Schein durchdringt  ihre lidlosen Augen und verbrennt ihre aufgedunsenen Leiber. Deshalb scheuen sie das Licht. Deshalb sieht sie niemand am Tag. Deshalb kriechen sie nicht  hervor, wenn die Zimmerlampe brennt. Deshalb sehen sie sie nicht. Deshalb glauben sie ihm nicht, wenn er von ihnen erzählt. Von den schleifenden Geräuschen ihrer Schlangenkörper in dem geschlossenen Wandschrank. Von ihrer unablässigen nächtlichen Suche nach einer Öffnung, einem Weg zu ihm, um ihren Hunger nach seinem Fleisch zu stillen und von seinem Blut zu trinken. Niemand glaubt ihm. Nur die Großmutter.  Sie hat von ihnen erzählt, damals, als er sie besuchte und sie noch in diesem Zimmer wohnte. Sie sagen, die Alte sei verrückt gewesen. Sie war krank und alt, aber nicht verrückt.  Und sie hatten vergessen den Wandschrank zu schließen. Und dann war die Großmutter tot. Er hat die Spuren  gesehen. Auf ihrem Fleisch.  Er hat es ihnen erzählt. Sie haben ihm nicht geglaubt. Auch seiner kleinen Schwester hat er es erzählt. Er hat sie gewarnt. Auch in ihrem Zimmer war ein Wandschrank. Sie hat ihn ausgelacht. Kleine Schwestern sollten große Brüder niemals auslachen. Und dann ist sie gekommen. Aus Rache. Weil er sie nicht mit ins Schwimmbad genommen hatte. Sie schlich in sein Zimmer, während er schlief. Und sie hat die Wandschranktür geöffnet und das Licht gelöscht. Als sie die Zimmertür leise hinter sich ins Schloss zog, wurde er wach. Aber da war es schon zu spät. Er konnte sie hören. Unter seinem Bett. Ein Kriechen, ein Schleifen, als würde man mit Sandpapier über den Boden reiben. Er konnte den fauligen, moosigen Geruch ihrer Leiber riechen. Licht! Licht würde helfen! Aber bis zum Wandschalter waren es drei Meter. Er müsste durch sie hindurch waten. Drei Meter. Dreihundert Meter! Sie würden an seinen Beinen hochkriechen. Ihre spitzen Zähne in sein Fleisch schlagen. Er würde es niemals bis zum Lichtschalter schaffen. Sie hatten Witterung aufgenommen. Die Maden würden nach einer Körperöffnung suchen. Ohren. Nase. Augen. Po. Er zog die Decke über sein Gesicht. Machte sich ganz klein. Zog die Beine zum Bauch. Er versuchte, die Decke ganz fest um sich geschlossen zu halten. Ein Kribbeln an seiner Stirn. Nur Angstschweiß. Es war heiß unter der Decke. Es stank. Ihre Ausdünstungen nahmen ihm den Atem. Das Schaben ihrer Leiber. Das Schmatzen, Ausdruck ihres gierigen Verlangens, wurde immer lauter. Er spürte das Kriechen, ein Tasten neben sich. Er hielt den Atem an. Lag bewegungslos. Fühlte, wie sie sich über ihn hinweg schlängelten. Wie sie um ihn herum krochen, riechend, suchend, nach einem Weg unter die Decke, zu ihm. Es gab kein Entkommen. Die Hitze war unerträglich. Er schwitzte. Schweiß durchtränkte sein Bettlaken. Nur Schweiß? Blut? Hatten sie schließlich zu ihm gefunden? Er spürte keinen Schmerz. Fühlte fast so etwas wie Erleichterung. Morgen würden sie ihn finden. Kalt. Ausgeblutet. Zerfetzt. Sie würden in leere Augenhöhlen starren und sich fragen, ob das der Junge gewesen war, dem sie nicht glauben wollten. Warum hatten sie ihm nicht geglaubt? Eine Taschenlampe hätte schon genügt, um die Monster abzuwehren.

Es war nach sieben, als er aufwachte. Er hatte überlebt. Dieses Mal. Sie schimpften ihn aus. Sie glaubten ihm nicht. Grinsend hatte seine Schwester neben ihm gestanden. Sie hatte sich über ihn lustig gemacht, als er sein Bett neu beziehen musste. Kleine Schwestern sollten große Brüder nicht auslachen. Deshalb ist er in der nächsten Nacht zu ihr gegangen. Er hat den Wandschrank geöffnet und das Licht gelöscht. Als ihre grellenden Schmerzensschreie die Eltern herbei riefen, kroch er unter seine Decke. Er wusste: Es war zu spät. Das viele Blut. Überall. Er würde sein Bett neu beziehen müssen.  Kleine Schwestern sollten große Brüder niemals auslachen.

Deutschstunde

Sie hätte nicht gedacht, dass es sich so schnell herumsprechen würde. Eigentlich kümmerte es die Eltern nicht, was sie im Deutschunterricht mit den Schülern besprach. In den ersten beiden Klassen war es noch anders gewesen. Aber die Schüler wurden älter und schwieriger und die Eltern überließen die Bildung ihrer Sprösslinge dann doch lieber den Lehrern. Wozu waren die denn ausgebildet und wozu zahlte man schließlich diese enormen Schulgebühren. Allerdings – Elias Mutter war im Landeselternbeirat für die Referate Deutsch und Mathematik. Elias hatte Karin das gleich in der ersten Deutschstunde stolz verkündet. Ein unangenehmer Strebertyp. Aber sie hätte wirklich nicht gedacht, dass es sich so schnell herumsprechen würde.

Zaghaft klopfte Karin an die Tür des Direktorenzimmers. Bisher hatte sie der Direktor immer im Konferenzraum empfangen. Ihr Herz schlug bis zum Hals als seine dunkle Stimme sie zum Eintreten aufforderte. Karin öffnete die schwere Eichentür und betrat den Raum ihrer eigenen Schulzeit. Es hatte sich nichts verändert. In all den Jahren. Der riesige Schreibtisch, die hölzerne Vertäfelung an der Wand dahinter und das Porträt des Internatsgründers. Ein ernster Mann, der mit strengem Blick auf die Schüler herabblickte. Schüler, die sich ganz klein und unbedeutend fühlten, eingeschüchtert, weil sie zum Direktor zitiert wurden. Nein, es hatte sich nichts geändert. Selbst der Geruch des Bohnerwachses war gleich geblieben und erinnerte sie an das alte, beklemmende Gefühl der Angst. Das Drücken im Magen und den riesigen Kloß im Hals. Herr Direkter Münzner war aufgestanden und reichte Karin freundlich die Hand. „Bitte nehmen Sie Platz, Frau Treibel.“ Karin setzte sich auf den einfachen Holzstuhl vor dem Schreibtisch und betrachte die Vase mit frischen Blumen, die neben einem aufgeklappten Notebook stand. Sie atmete tief durch. Es hatte sich doch etwas verändert. „Sie wollten mich sprechen?“, begann sie mit fester Stimme und blickte den Direktor herausfordernd an. „Ja“, Direktor Münzner erwiderte ihren Blick. Er hatte lässig neben Karin auf der Kante des Schreibtisches Platz genommen und beugte sich zu ihr hinunter. „Sie müssen wissen, Frau Treibel, dass ich Sie als engagierte Kollegin außerordentlich schätze. Aber in Ihrer letzten Deutschstunde“, Herr Münzner räusperte sich,„also, mir ist da etwas zugetragen worden. Bestimmt ein Missverständnis, wo Sie ihren Unterricht doch immer so gewissenhaft vorbereiten. Ich habe der Mutter bereits erklärt, dass ihr Sohn da zweifelsohne etwas missverstanden hat.“ „Also doch die Frau Schönspecht“, überlegte Karin und sah den Schulleiter unverwandt an: „Ja?“  Direktor Münzner stand auf, ging zum Fenster und betrachtete die gepflegte Parkanlage. Es war ein sonniger Frühlingsmorgen. Selbst durch das geschlossene Fenster konnte Karin das Zwitschern der Vögel hören. Es übertönte sogar das tiefe Motorengeräusch des Baggers, der gerade die Baugrube für die neue Cafeteria am anderen Ende des Schulhofes aushob. Der Direktor drehte sich ihr wieder zu: „Verstehen Sie. Sie sind noch nicht lange im Schuldienst. Vielleicht ist es der ungewohnte Stress. Wir alle machen Fehler. Und die Kinder sind schwieriger geworden. So viele Verlockungen. Smartphone, Fernsehen, Internet. Aber umso wichtiger ist eine klare Führung. Diese jungen Seelen brauchen eine feste Struktur. Eindeutige moralische Grundsätze. Und wer, wenn nicht wir, ihre Lehrer, sollten ihnen diese Grundsätze vermitteln? Sie und ich“, Direktor Münzner war neben Karin getreten und hatte ihr väterlich die Hand auf die Schulter gelegt. „Sie und ich sind moralische Instanzen.“ Karin widerstand dem Impuls, die Hand des Direktors abzuschütteln. Der Direktor spürte ihren Widerstand. „Entschuldigen Sie.“ Er nahm die Hand von ihrer Schulter und ging zu seinem Schreibtischstuhl. „Wenn es um meine Schüler geht, reagiere ich immer etwas impulsiv. Was ich meine ist: Diese jungen Welpen brauchen eine klare Ansage. Eindeutige Regeln. Gut und böse. Schwarz und weiß. Sie müssen lernen, was für ihre Zukunft wichtig ist. Dass sie ihre Zeit nicht vergeuden dürfen.“ Direktor Münzner deutete auf das Buch, das vor ihm lag. „Jean de La Fontaine schenkte uns diese Fabeln. Kleine Gedichte und Geschichten voller Lebensweisheit. Tiere, die direkt zu den Seelen unserer Schüler sprechen. Die Schüler lieben diese Geschichten. Sie identifizieren sich mit den Tieren und erkennen so, welches Verhalten verwerflich und welches erstrebenswert ist. Die Grille und die Ameise.“ Direktor Münzner schlug das kleine Buch an der Stelle auf, aus der ein neongelber Klebezettel ragte, „eigentlich eine einfache didaktische Aufgabe. Die leichtsinnige Grille verbringt den Sommer mit Singen und Tanzen, anstatt Vorräte für den Winter zu sammeln, wie es die gewissenhafte, fleißige Ameise tut. Es ist nur folgerichtig, dass die Ameise der Grille ihre Hilfe verweigert, als diese im Winter hungrig an ihre Tür klopft. Ich kann wirklich nicht begreifen, was man daran missverstehen kann.“ Der Direktor schwieg, während er La Fontaines Fabel erneut las. Karin blickte sich abwartend im Büro des Schuldirektors um. „Der Direktor ist eine Ameise“, ging es ihr durch den Kopf, während sie die Diplome und Auszeichnungen betrachtete. Dann entdeckte sie den kleinen sorgfältig gerahmten Kunstdruck an der Wand neben der Tür. Chagalls Fiedler auf dem Dach. Karin stand auf und ging zu dem hohen Bücherregal auf der anderen Seite der Tür. Sie strich liebevoll über die alten Buchrücken. Goethe, Schiller, Böll, Hans Aeblis Grundlagen der Didaktik, und hielt überrascht inne: Eine  CD-Sammlung? Etwas so Persönliches hätte Karin hier nicht erwartet. Sie neigte den Kopf zu Seite um die Titel der CDs zu lesen, die sorgfältig aufgereiht neben den Buchklassikern standen. Klavierkonzerte, Mozart, Brahms. Pink Floyd?  Karin lächelte. „Naja, man kann es sich schlecht vorstellen, aber ich war auch einmal jung“, der Direktor war neben sie getreten, „und ehrlich gesagt, wenn es hier ganz besonders stressig wird, ist Pink Floyd genau das Richtige. Kennen Sie ‚Wish you were here?‘“ Karin zeigte auf die Diplome und die wissenschaftlichen Werke. „Sie sind eine Ameise.“ Empört sah Direktor Münzner sie an. „Was?“, dann zögerte er, „ach so, die Fabel. Genau“, er nickte eindringlich. „Ja, ich bin eine Ameise. Und ich kann ihn gar nicht sagen, wie mühsam das manchmal war. Aber mit Fleiß und Disziplin habe ich es bis zum Direktor dieses Internates geschafft.“ „Fleiß und Disziplin“, nickte Karin und deutete auf den Fiedler „aber sie mögen den Expressionismus und Klaviersonaten, die alten Klassiker und Pink Floyd und frische Blumen auf Ihrem Schreibtisch.“ Ehe der Direktor etwas erwidern konnte, fuhr sie fort:„Und das ist völlig in Ordnung. Wissen Sie, ich habe meinen Schülern gesagt, die Grille habe einen Fehler gemacht. Sie hat den ganzen Sommer die anderen Insekten mit ihrem Gesang unterhalten, aber sie hat sich für diese Leistung nicht bezahlen lassen. Meine Schüler haben es verstanden. Die meisten zumindest. Aber vielleicht sollte ich auch die Eltern zu einer Deutschstunde einladen. Und jetzt“, Karin blickte auf ihre Uhr, „müssen Sie mich entschuldigen, mein Unterricht fängt gleich an.“

Karin ließ einen nachdenklichen Direktor zurück, als sie die Tür leise hinter zu zog. Es hatte sich wirklich etwas verändert.

 

 

 

 

Der Duft der Weihnacht

Karin hatte ihr ein gemütliches Plätzchen auf dem Sofa zurechtgemacht. Ben hatte eine Kiste von draußen hereingeholt, sie mit einem Kissen gepolstert und darauf bestanden, dass Regina die Beine hochlegte. Es war die gleiche Kiste, in der er die Holzscheite für den riesigen Kaminofen aufbewahrte. Sie roch herrlich nach frischem Holz. Als Karin in die Küche ging, um nach dem Braten zu sehen, sprang die kleine, schwarz-weiße Mischlingshündin Bella zu Regina auf das Sofa und rollte sich neben ihr zusammen. Regina streichelte das weiche Fell. Es war kalt und feucht. Bella war mit Ben draußen gewesen und brachte eine Brise Winter mit.
„Bella, mach mal Platz! Ich will neben der Oma aus Deutschland sitzen!“ Die vierjährige Claire stand vor dem Sofa. Mit beiden Händen hielt sie Regina eine Schale voller Weihnachtplätzchen hin.
„Kannst du sie mal halten? Mama hat mir die Plätzchen gegeben. Wir dürfen sie jetzt aufessen. Sogar vor dem Abendessen und vor der Bescherung! Riech mal! Die Zimtsterne haben ich und Mama gebacken!“ Mit leuchtenden Augen drückte Claire Regina die Schale in die Hand. Dann lief sie aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einem riesigen Bilderbuch zurück. Sie kletterte auf das Sofa und quetsche sich zwischen Regina und die Hündin.
“Rutsch doch mal, Bella! Ich zeige der Oma jetzt, wie man bei uns in Kanada Weihnachten feiert. Da schau!“ Claire zeigte auf das Bild eines kleinen Mädchens, das festlich gekleidet neben einem geschmückten Weihnachtsbaum stand.
„Das bin ich! Ich habe mich auch schön gemacht. Lisa hat mir heute Morgen die Haare gewaschen. Mit ihrem Duftshampoo!“ Claire streckte Regina den blonden Lockenkopf unter die Nase.
„Vanille! Lisa hat gesagt, das sei ein Weihnachtsduft.“
„Die Oma kriegt ja keine Luft mehr, wenn du deine Haare so fest an ihr Gesicht drückst.“ Lisa, Claires ältere Schwester, war hereingekommen. Sie legte Geschenke unter den Weihnachtsbaum, setzte sich neben Regina auf die Sofalehne und schaute in das Bilderbuch.
„Und wo bin ich?“ Gemeinsam blätterten die Geschwister in dem Buch, um ein Mädchen zu finden, das Lisa glich.
„Und? Seid ihr drei bereit zur Bescherung?“ Ben hatte sich umgezogen und den Adventskranz mit den großen, roten Kerzen aus dem Esszimmer mit ins Wohnzimmer gebracht. Claire lief zu ihm, um ihm beim Anzünden der Kerzen zu helfen. Ihr Gesicht strahlte.
„Und jetzt die Lichter am Weihnachtsbaum! Und die Musik! Einer muss die Musik anmachen! Und Mama muss kommen!“ Claire hüpfte aufgeregt durch das Wohnzimmer.
„Bin da!“ Karin hatte die Küchenschürze abgenommen. Sie ging zu Ben und legte ihm den Arm um die Hüfte.
„Schön habt ihr das gemacht!“
„Du riechst gut“, entgegnete Ben und schnupperte am Haar seiner Frau, „Herrlich! Nach Weihnachtsbraten!“
„Los jetzt!“, ungeduldig zog Claire ihren Vater von der Mutter fort, „Komm! Wir machen die Musik an! Wir machen jetzt Bescherung!“
Liebevoll betrachtete Regina das fröhliche Treiben der kleinen Familie. Und als die ersten Töne von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ erklangen, summte sie leise glücklich mit.

„Aber Frau Hansen! Sie haben ja Ihren Weihnachtstee gar nicht ausgetrunken! Jetzt ist er kalt geworden!“
Die Musik verstummte.
„Es ist so schade, dass Sie dieses Jahr nicht bei Ihrer Familie feiern können! Aber Sie wissen ja: die lange Reise! In Ihrem Alter!“
Regina lächelte.

Sie war dort gewesen. Sie hatte die lange Reise gemacht. Sie hatte mit ihrer Familie Weihnachten gefeiert.

Aber sie würde es niemandem verraten.

Es war der zweite Dezember

Teil 1

„Da. Ich hab‘ was geschrieben. Kannst du haben.“

Der Junge stand vor meinem Schreibtisch.

Er hielt mir eine abgegriffene Taschenbuchausgabe des Kleinen Prinzen vor die Nase.
Als ich nicht gleich reagierte, ließ er sie einfach auf die Computertastatur fallen.

„Soll das jetzt ein schlechter Witz sein?“

Ärgerlich legte ich das Buch beiseite. Ich hatte ihn nicht kommen hören und wollte eigentlich auch nicht gestört werden.

„Nein. Kein Witz. Du hast doch gesagt, ich soll was schreiben. Ich habe nichts Besseres gefunden zum Drauf schreiben. Da war noch Platz genug drin.“

Ich sah vom Schreibtisch auf.
Der Junge hatte sich in den Sessel am Fenster fallen lassen. Er sah mit gleichgültiger Miene hinaus.

Er kam nur selten zu uns ins Jugendzentrum. Wenn er da war, blieb er für sich, hielt sich abseits, beobachtete. An den Spielen, Streitereien und Gesprächen der Anderen beteiligte er sich nie. Bestenfalls kommentierte er ihr Treiben mit ein paar spöttischen Bemerkungen oder einem überheblichen Grinsen. Ich wusste nicht, warum er überhaupt kam. Das Benehmen und die Interessen der Jugendlichen in seinem Alter schienen ihm zu kindisch. Den Älteren wiederum ging er aus dem Weg. Er selbst war sicher nicht älter als zwölf. Keiner der Anderen schien ihn näher zu kennen.

Vor etwa drei Wochen hatte ich ein Projekt begonnen. Ich hatte den jüngeren Besuchern unseres Jugendzentrums vorgeschlagen, sich Geschichten auszudenken und aufzuschreiben. Ich wollte die Geschichten sammeln und später als Buch drucken lassen. In ein paar Wochen war Weihnachten und so hätte ich einigen auch die Suche nach einem passenden Geschenk für ihre Eltern abgenommen. Besonders die Mädchen waren sofort mit Begeisterung bei der Sache, und ich hatte schon Einiges an Weihnachtserzählungen und Pferdegeschichten gelesen und abgetippt.

Ich hatte den Jungen gefragt, ob er auch eine Geschichte zu unserem Buch beisteuern wolle. Er meinte nur, es sei eine blöde Idee, weil sich niemand für diese Geschichten interessieren würde.

Offensichtlich hatte er es sich anders überlegt.

Neugierig nahm ich das dünne Taschenbuch wieder in die Hand. Die Erzählung vom Kleinen Prinzen war immer eine meiner Lieblingsgeschichten gewesen, und ich fand es spannend, dass der Junge einfach dieses Buch benutzte, um seine eigene Geschichte aufzuschreiben.

„Musst dir eben alles zusammen suchen,“ kam die Stimme des Jungen vom Fenster her. „Aber du musst sie ja eh abschreiben für das andere Buch.“

Ich schlug das Buch auf.
Der Junge hatte gleich auf der ersten Seite begonnen. Man sah dem Text an, dass der Junge wenig Übung im Schreiben hatte. Eine grobe, fahrige Schrift, die keiner festen Richtung zu folgen schien.

„Wo steht denn der Titel deiner Geschichte?“ fragte ich .

„Die hat keinen. Musst dir eben selber einen suchen.“

Der Junge saß immer noch im Sessel und schaute zum Fenster hinaus. Ich konnte sein Verhalten nicht deuten. Ob es ihm ein bisschen peinlich war, dass er nun doch eine Geschichte geschrieben hatte?

„Na schön. Heute Abend werde ich Deine Geschichte lesen und abtippen. Ich bin gespannt, was du geschrieben hast.“

Ich legte das Buch beiseite und wandte mich wieder meiner Arbeit zu.

Der Junge blieb am Fenster sitzen.

„Willst du nicht wieder zu den andern gehen?“ schlug ich vor.

„Nein. Du musst die Geschichte jetzt lesen. Ich warte hier.“

Der Junge hatte nur kurz zu mir herüber geschaut, dann wandte er sich wieder den kahlen Bäumen vor dem Fenster zu.

Auch gut, dachte ich, vielleicht wäre dies ja eine Gelegenheit ihn näher kennen zu lernen.

Ich nahm das Buch wieder in die Hand und schlug es erneut auf. Da stand „Der Kleine Prinz“ und direkt darunter begann die Geschichte des Jungen.

„Was bedeuten denn die schmierigen braunen Flecken auf dieser Seite?“ fragte ich den Jungen. „Hattest du Nasenbluten gehabt oder dich geschnitten?“

„Vielleicht“ antwortete er anscheinend teilnahmslos ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden.

Also begann ich zu lesen:

„Ich werde heute Nacht hier bleiben.
Komisch. Sonst hat er mich immer hier eingesperrt. Und jetzt bleibe ich freiwillig hier.
Komisch. Obwohl die Tür nicht abgeschlossen ist. Ist wohl irgendwie schon Gewohnheit.

Sie wollte eine Geschichte von mir.
Also gut. Da ist die Geschichte.
Hier drin gibt es kein Papier, nur Bücher.
Ich werde die Geschichte einfach in das Buch da schreiben. Ich habe vorher reingeguckt. Auf den Seiten mit den Bildern ist noch genug Platz.
Ich könnte auch schnell in mein Zimmer laufen und Papier holen, aber ich will jetzt hier nicht rausgehen. Ich möchte nicht an der Küche vorbei gehen. Ich werde heute Nacht hier bleiben.
Obwohl er mich immer hier eingesperrt hat.

Ich war in meinem Zimmer als er nach Hause kam. Und ich habe gleich gewusst, dass es besser ist, sich ganz ruhig zu verhalten. Mit der Zeit kriegt man das raus. Echt. Ich höre schon an der Art, wie er die Haustür aufmacht, was danach abgehen wird. Deshalb wusste ich auch direkt, dass es besser ist, ihm heute Abend aus dem Weg zu gehen. Ich hab ihn dann in der Küche gehört. Er hat den Schnaps und das Bier aus dem Kühlschrank geholt. Und er hat den Küchenstuhl umgeschmissen, als er sich drauf setzen wollte. Da wusste ich: das heute würde einer von den schlimmeren Abenden werden.

Sie hat übrigens Recht gehabt. Das mit dem Schreiben ist eigentlich ganz einfach. Man muss wirklich nur in seinen Kopf gucken und da abschreiben.

Ich musste nicht in die Küche gehen. Ich wusste es auch so: jetzt sitzt er am Küchentisch, das Bier und der Schnaps stehen vor ihm und das Holzbrett mit dem Schinken und dem Küchenmesser hat er daneben gestellt. Früher war es manchmal sogar ziemlich lustig, wenn er da saß und ab und zu für sich und mich ein Stück Schinken absäbelte und von seiner Arbeit erzählte. Aber das war noch eine andere Arbeit gewesen. Und da war auch meine Mutter noch da. Die ist dann einfach weggegangen. Das mit dem einfach stimmt nicht. Keiner geht einfach so ohne einen Grund. Ich kann mir denken, warum sie gegangen ist. Aber ich weiß nicht, warum sie mich nicht gefragt hat, ob ich mit gehe. Und ich weiß nicht, warum sie sich nie bei mir gemeldet hat.

Er hatte den Fernseher angeschaltet. An der Art, wie er die Flasche auf den Tisch stellte, konnte ich hören, dass er den Schnaps direkt aus der Flasche trank. Wie gesagt, am besten würde ich mich ganz ruhig verhalten. Er würde dann vielleicht einfach vergessen, dass ich da war.

Scheiße. Ich musste pinkeln. Warum hatte ich daran nicht gedacht, bevor er kam. Auf dem Weg zum Klo würde ich an der Küche vorbei müssen. Er würde mich bestimmt bemerken. Auf gar keinen Fall würde ich jetzt riskieren auf dem Weg zum Klo von ihm bemerkt zu werden. Vielleicht hatte ich Glück. Vielleicht würde er bald ins Wohnzimmer gehen und dort weiter saufen. Dann konnte ich zum Klo.
Ich musste wirklich dringend pinkeln. Ich schaltete den Computer an, um mich abzulenken. Den Ton hatte ich ausgeschaltet.

Dann hörte ich, wie in der Küche eine Flasche auf den Boden fiel und kaputt ging. Die Scherben flogen bis in den Flur. Ich konnte das Geräusch auf den Fliesen hören.
Und dann hörte ich ihn fluchen.
„In dieser verdammten Scheißküche findet man nichts! Wo hat die Schlampe denn die Kehrbürste und die Schaufel hin geräumt! Aber wieso muss ich das denn aufputzen? Bin ich denn hier zum Putzen? Verdammt. Ich verdien doch das Geld!“

In dem Moment wusste ich: er wird mich heute Abend nicht einfach vergessen. Vielleicht sollte ich jetzt noch schnell …. Mann o Mann …. ich musste nämlich wirklich dringend pinkeln.

Aber es war zu spät. Er stand schon in meinem Zimmer.
„Wieso hast du dich klammheimlich hier verkrochen, du Ratte?“, schrie er mich an.
„Wird man hier ignoriert, wenn man nach Haus kommt? Los, beweg deinen Arsch in die Küche!“
Ich wollte mich an ihm vorbei drücken und doch noch schnell zum Klo laufen. Aber er packte mich am Arm und stieß mich in die Küche. „Hier geblieben, Freundchen! Du wirst dich nicht wieder im Klo einsperren!“
Als ob ich das noch könnte. Er hatte die Tür doch letzte Woche eingetreten.
„Du bleibst hier und machst das da sauber! Und danach unterhalten wir uns mal in aller Ruhe welche Aufgaben du hier noch übernehmen wirst, du faule Ratte.“

Da wusste ich, dass ich so schnell nicht zum Klo kommen würde. Er hatte bestimmt bemerkt, wie dringend ich pinkeln musste. Er würde mich nicht aus der Küche lassen.
Wie gesagt, das war einer von den schlimmeren Abenden.“

Es war dämmrig geworden im Zimmer.
Ich knipste die Schreibtischlampe an.

Dann las ich weiter.

Ich hatte Mühe, die ungeduldige, ungeübte Schrift des Jungen zu entziffern. Man merkte der Schrift an, wie sehr er bemüht war, für das, was geschehen war, die richtigen Worte zu finden.
Und man merkte der Schrift an, wie eilig er es hatte, das Schreiben hinter sich zu bringen.

Ich kann das Gefühl nicht beschreiben mit der ich das las, was der Junge ausgerechnet in den Kleinen Prinzen geschrieben hatte.

Schließlich war seine Geschichte zu Ende.
Ich legte das Buch zu Seite und blickte auf.

Der Junge saß noch immer am Fenster und blickte hinaus.
Draußen war es dunkel geworden.

„Du weißt, dass du nicht nach Hause gehen kannst.“

„Ich will nicht nach Hause gehen.“

Der Junge drehte sich zu mir um.

„Und du weißt auch, dass ich jetzt die Polizei und das Jugendamt anrufen muss.“

„Das wirst du wohl tun müssen.“

Das Gesicht des Jungen zeigte keinerlei Regung.

Ich wusste, ich sollte jetzt etwas sagen. Aber manches kann man einfach nicht in Worte fassen.

„Es tut mir leid, aber ich muss dir auch sagen, dass ich deine Geschichte nicht in das Buch übernehmen kann.“
Was spielte das überhaupt für eine Rolle? dachte ich im gleichen Moment.

„Wieso nicht ?“

Diesmal sah mich der Junge herausfordernd an.

„Weil es keine Geschichte ist, die Zwölfjährige lesen sollten.“

Der Junge blickte wieder aus dem Fenster.

„Aber diese Geschichte ist einem Zwölfjährigen passiert,“ sagte er leise.

Wieder wusste ich nicht, was ich darauf antworten sollte.
Ich fuhr meinen PC herunter. Ich konnte die Stille nicht ertragen.

„Was hast du eigentlich während der restlichen Nacht gemacht? Konntest du wenigstens ein bisschen schlafen?“ fragte ich den Jungen.

„Ich habe mich nicht getraut, die Augen zu zumachen. Da habe ich eben das Buch da gelesen.“ Er zeigte auf den Kleinen Prinzen.

„Willst du jetzt wissen, ob es mir gefallen hat?“

Der Junge blickte zu mir herüber. Ich konnte sein Grinsen nicht deuten.
Nachwort:

Dies ist nur eine erfundene Geschichte.

Sie werden nun fragen: Warum steht in dieser Geschichte nicht das, was eigentlich passiert ist?
Muss es das denn?
Schlagen Sie eine Zeitung auf, lesen Sie nach, schauen Sie hin, hören Sie zu: Jeder kennt diese Geschichte doch schon!

Und doch ist es nur eine erfundene Geschichte.

Sie werden nun fragen: Warum hat diese Geschichte kein richtiges Ende?
Das ist einfach: Weil solche Geschichten nie zu Ende sind.

Fragen sie die, die sie erlebt haben!

Teil 2:

Es war dunkel geworden im Zimmer.
Nur meine Schreibtischlampe brannte.
Ich stand auf und schloss die Bürotür.
Die Geräusche des Jugendzentrums, das Gejohle vom Kicker, das „Klack – Klack“ des Tischtennisspiels, das vertraute Gemisch aus Musik und Stimmen, alles klang plötzlich fremd, deplaciert in der Stille des Zimmers.

Der Junge saß noch immer als dunkler Schatten regungslos am Fenster.
Ich wäre gerne zu ihm gegangen.
Aber so viel Nähe fühlte sich falsch an, wir kannten uns ja kaum.

Draußen hatte es zu schneien begonnen.
Dicke weiße Flocken fielen am Fenster vorbei in die Dunkelheit.

„Und es war nicht mein Blut. Dieses Mal nicht.“ vertraute er den schwarzen Konturen der Bäume an.

Weihnachtsmarkt

Kalt war es. Sehr kalt. Die Kälte hatte ihn geweckt. Mühsam stand der Alte vom Boden auf, stieg unbeholfen über die fleckige Matratze und schlurfte ins Bad.
„Es wird schon wieder dunkel“, dachte er und ließ die Tür zum Flur auf. Die Glühbirne im Bad war schon lange kaputt. Aber eigentlich reichte ihm auch das wenige Licht, das vom Flur hereinfiel. „Ich bin ja keine Tussie, die stundenlang vorm Spiegel steht“, hatte er gestern in der Kneipe erklärt. Der Alte grinste bei der Erinnerung. War ein schöner Abend gewesen und lang. Eigentlich hatte er ins Aldi gewollt, noch etwas zu Essen kaufen, bevor das Geld wieder weg war. Dann hatte er spontan beschlossen, bei Anni rein zu schauen, nur auf ein Bier und ein paar Worte. ‚So was braucht der Mensch eben auch von Zeit zu Zeit‘ hatte er sich gesagt. Er hatte schon seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen. Und dann wurde es richtig gut. Er stand am Tresen und erzählte von seiner Glühbirne im Bad und wie er eine neue kaufen wollte und wie die Verkäuferin an der Kasse ihm 8 Euro fünfzig für eine einzige Birne abnehmen wollte. „Energiesparlampe – was soll ich mit so ‚nem teuren Ding?“ hatte er sie gefragt und die Verkäuferin erklärte ihm, dass solche Lampen 10 Jahre lang hielten und dann erzählte er seinen Kumpels was er der geantwortet hatte: „Was soll ich mit einer Birne, die mich am Ende noch überlebt!“ Und die Kumpels hatten gelacht und ihm auf die Schulter geklopft und ihm einen ausgegeben. War ja auch echt gut, die Antwort. Der Alte musste wieder grinsen. Richtig gut drauf gewesen war er gestern, hatte die halbe Kneipe unterhalten mit seiner Geschichte von der Glühbirne. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er sie erzählen musste. Erst als Anni meinte, es reiche nun, er solle die Gäste in Ruhe lassen, hatte er noch ein Bier und einen Kurzen bestellt und sich an den kleinen Tisch in der Ecke gehockt. Manchmal konnte Anni ganz schön zickig sein. Die Leute fanden die Geschichte doch gut. Aber er wollte es sich mit Anni nicht verderben. In der Kneipe war es warm und Anni ließ ihn in Ruhe, auch wenn er stundenlang vor einem Bier saß. Er war überzeugt, sie wusste, dass er den mitgebrachten Schnaps heimlich auf der Toilette trank. Sie war eben eine gute Seele. Sie ließ ihn da sitzen und gegen Ende des Monats stellte sie ihm manchmal ein Bier hin, das er h nicht bezahlen musste. Sie verstand ihn eben, solange er ihre Gäste in Ruhe ließ. Aber gestern war sie wirklich empfindlich gewesen. „Er solle sich mal waschen“, hatte sie noch gesagt. War wahrscheinlich der Weihnachtsstress, da wurden die Leute komisch.

Der Alte schlurfte vom Bad zurück in die Küche. Kalt war es. Er öffnete die Backofentür und drehte den Herd an. Den schäbigen Sessel rückte er ganz nah an den Backofen. Dann trank er einen Schluck aus der Flasche, die griffbereit auf dem Herd stand. „Das muss jetzt sein“, beschwichtigte er sich selbst, „ einen gegen die Kälte“ und zog seinen Mantel an. Er hatte in den Kleidern geschlafen. „Wenn’s noch kälter wird, wird’s eng. Dann schafft der Herd das nicht mehr,“ dachte der Alte. Aber die Heizung war kaputt, schon seit Monaten. Irgendetwas am Heizkörper musste es sein. Er hatte sich bei der Frau in der Wohnung nebenan erkundigt, da ging die Heizung. Er hätte dem Vermieter Bescheid sagen können, schließlich zahlt das Amt ja die Miete, da hatte er auch ein Recht auf eine funktionierende Heizung. Aber erst musste er aufräumen, bevor er einen Handwerker in die Wohnung ließ und irgendwie war er noch nicht dazu gekommen. Und jetzt war es Winter.
„Du könntest dich ruhig mal waschen“, hatte Anni gesagt.
Früher hatte er sogar manchmal gebadet und sich rasiert, aber ohne Heizung gibt es auch kein warmes Wasser und die Glühbirne im Bad war kaputt – so viel zum Rasieren. Wieder grinste der Alte vor sich hin „… und ich werde kein Geld ausgeben für eine Glühbirne, die mich überlebt.“ Der Witz war wirklich gut. Und wozu auch Baden, wenn er sowieso wieder die gleichen Kleider anzog. Selbst wenn die Waschmaschine wieder funktionieren würde, wie sollte er die Wäsche denn trocken kriegen in der kalten Wohnung?
Aber Hunger hatte er. Die eingetrockneten Suppenreste in dem Topf auf dem Herd sahen nicht besonders einladend aus. Er roch daran. „Besser nicht“, dachte er. „Als ich das das letzte Mal probiert habe, hat es mich fast zerrissen.“
Der Alte beschloss, sich erst einmal eine Zigarette zu drehen. Langsam wurde es auch etwas wärmer im Zimmer. „Scheiße“, fluchte er, als im Tabak und Papier durch die Finger rutschten. “ Ich zittere ja immer noch vor Kälte und die Finger sind auch ganz steif.“ Ein Kumpel hatte mal gesagt, das sei Gicht, das könne man an den kleinen Knötchen sehen und das käme vom Saufen. „Du musst es ja wissen“, hatte er ihm geantwortet, „das ist das Alter, sonst nix.“ Tatsächlich hatte sein Vater das auch gehabt, erinnerte er sich jetzt. Der Alte zündete sich endlich eine Zigarette an. Sein Vater konnte später gar nicht mehr drehen. Deshalb hatte er die kleine Maschine. Er erinnerte sich, wie sein Vater Samstagsnachmittags am Küchentisch saß und mit seiner Maschine Zigaretten drehte; sogar welche mit Filter. Als kleiner Junge hatte er fasziniert daneben gesessen und zugeschaut, wie schließlich ein kleiner Plastikvogel nach vorne kippte und dann mit einer Zigarette im Schnabel wieder hoch kam. Er hatte nie verstanden, wie es funktionierte, aber es hatte ihm gefallen. Vielleicht sollte er sich auch so eine Maschine besorgen. Der Vater hatte jeden Samstag seine Zigaretten für die kommende Woche gedreht. Er drehte sie und teilte sie dann in sieben Häufchen auf. Für die ganze Woche. Sieben Tage, sieben Häufchen. „Man muss lernen, sich einzuteilen“, hatte er dabei gesagt. „Recht hat er gehabt,“ dachte der Alte und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Er begann, sich eine zweite Zigarette zu drehen. „Jetzt wird mir langsam warm, er spürte es und das Zittern hörte auf. Aber er würde mir auch nicht erklären können, wie man so wenig noch einteilen soll. Wenn er am ersten sein Geld bekam, musste er erst einmal die Schulden zurück bezahlen. Nix Großes. Überall nur ein paar Euro, die er sich bei seinen Kumpels oder im Getränkemarkt geliehen hatte. Er war immer bemüht, die Schulden zurück zu zahlen, er war darauf angewiesen, dass sie ihm wieder etwas liehen, wenn es gegen Ende des Monats nicht reichte. „Der Typ im Fernsehen hat genau so geredet wie mein Vater“, überlegte er, „ nur dass mein Vater wusste wovon er redete.“ „ Und wenn die keine Bewerbung schreiben wollen, dann muss man denen eben die Leistungen kürzen“ „ Die wissen doch echt nicht, wovon sie reden,“„ grummelte der Alte vor sich hin. Er hatte die Leute auf dem Amt dann gefragt, wo er sich denn bewerben sollte. Aber das war denen egal, irgendwo eben, haben sie gesagt. Und es käme ja nur darauf an, dass ihnen Ende des Monats fünf Bewerbungen vorliegen würden. Er hatte dann noch gefragt, ob sie ihm noch eine Schreibmaschine und Papier leihen würden und dann meinten sie, er solle jetzt nicht noch frech werden. Der Alte merkte, wie alte Wut wieder in ihm hochkam. Er hatte keine Bewerbungen geschrieben. Wie denn ? Und warum auch ? Er hatte sich die 10 Euro Porto und so gespart, wäre doch sowieso rausgeschmissenes Geld gewesen. Und sie hatten ihm die Leistungen gekürzt.

Dem Alten knurrte der Magen. Er stand auf und griff nach seinem Rucksack. Es brachte nichts, über das alles nachzugrübeln. Er musste raus, heute würde er einkaufen gehen.
Auf dem Weg nach unten fiel ihm ein, dass Sonntag war. Als es vor die Tür trat, war es schon dunkel. Er hatte tatsächlich den ganzen Tag verschlafen. Er blieb stehen und hörte das Gedudel vom Weihnachtsmarkt. Ein Geruch von Glühwein, Zimt und Knoblauch wehte zu ihm herüber. „Warum nicht“, dachte er „schließlich musste er etwas essen.“
Unterwegs hielt er an einem Mülltonne an. Er hatte vor kurzem begonnen, im Vorbeigehen die Mülltonnen nach Pfandflaschen zu durchsuchen. Er nannte es „seinen Zuverdienst“ und ein oder zwei Euros kamen immer zusammen. Steuerfrei – immerhin. „Nein“, dachte er, „ heute nicht. Heute ist Sonntag und du gehst zum Weihnachtsmarkt und spendierst dir einen Glühwein und eine Wurst.“
Die Wurst war teuer, aber es gefiel ihm, sie wie alle anderen an der Bude zu essen und dabei das Treiben des Weihnachtsmarktes zu betrachten. Auf den Kauf des Glühweins verzichtete er. Der Alte hatte längst bemerkt, dass die meisten ihren Glühwein nicht ganz austranken, weil er kalt nicht mehr schmeckte. Sie stellten die Pappbecher mit den Resten auf den Stehtischen ab. Er hatte Übung. Schnell schüttete er ein paar Reste zusammen und schlenderte dann mit einem gefüllten Becher an den Buden vorbei. „Schmeckt gar nicht mal so schlecht“, dachte er, als er das Ganze wiederholte. Er kam langsam in Stimmung. „Wir Deutschen verstehen es schon, Weihnachten zu feiern“, der Alte war zufrieden und summte ein Weihnachtslied. „Mein Gott, ich werde ja richtig sentimental“.
Dann fiel ihm der Junge auf. Er stand alleine an einem der Stehtische und aß eine Wurst. „Niemand sollte heute alleine sein. Vielleicht hat er Streit mit der Freundin, “ überlegte der Alte und beschloss, sich zu ihm zu gesellen. Er würde ihn aufheitern, er würde ihm von seinen Frauengeschichten erzählen, vielleicht würde er ihm auch die Sache mit der Glühbirne erzählen und der Junge würde lachen und ihm auf die Schulter klopfen und wer weiß, vielleicht würde sie sich noch in eine Kneipe setzen und ein bisschen reden. So dachte der Alte und stellte sich zu dem Jungen. Er vergoss einen Teil seines Glühweins, als er ihn auf dem Tisch abstellte, und der Junge wich einen halben Schritt zurück als sich der Alte vertrauensvoll zu ihm hinüberbeugte. “na – hat dich deine Tussie hier stehen lassen und ist mit einem anderen abgezogen?“ Aufmunternd legte der Alte den Arm um die Schulter des Jungen. Der Junge wich noch einen Schritt zurück und schüttelte den Arm des Alten ab. „Was willst du von mir alter Mann? Hau ab! Du bist besoffen und stinkst!“ „ Wie redest du denn mit mir? Da will man mal freundlich sein und dann so was!“ Der Alte war empört und beleidigt. Er schwankte auf den Jungen zu, doch der drehte sich einfach um und ging davon. „Habt ihr das gesehen?“ rief der Alte den Umstehenden zu. „Benimmt man sich so? Geht man so mit dem Alter um? Die haben keinen Respekt mehr, die Jungen!“ Er sprach laut in die Menge, aber niemand beachtete ihn. Es schien ihm sogar, als würden sich die Leute absichtlich von ihm wegdrehen, ihn absichtlich nicht bemerken. Seine gute Stimmung war verflogen. „Dann eben nicht“, dachte er. „Alles Spießer! Kümmern sich nur um sich selbst! Was hab ich hier eigentlich verloren? Hätte ich ja auch wissen können!“ Er merkte gar nicht, dass er immer noch laut vor sich hin sprach. Und er redete sich so langsam in Wut. Aber die Leute wichen ihm aus, seine Wut fand kein Gegenüber.
Er beschloss, nach Hause zu gehen. Wenn er sich beeilte, konnte er noch an der Tankstelle vorbei gehen. Er hatte ja seinen Rucksack dabei und Geld. Genau, das würde er machen. Er würde seine Biervorräte auffüllen und sich eine gute Flasche Wodka gönnen. Es würde jetzt sogar warm sein in seinem Zimmer, er hatte ja den Backofen angelassen und dann würde er sich einen gemütlichen Fernsehabend machen und die Sache mit dem Jungen einfach vergessen. Warum sollte er sich über so einen Grünschnabel eigentlich aufregen, der wusste doch nichts vom Leben.
Aber der Alte dachte immer noch an den Jungen, als er beladen mit seinem Rucksack voller Bierflaschen und dem Wodka in der Manteltasche Richtung Wohnung torkelte. „Die sollen doch erst mal etwas leisten im Leben“ grummelte er vor sich hin.
Und dann sah er ihn, den Jungen vom Weihnachtsmarkt. Er ging nur zehn Meter vor ihm. Immer noch alleine. Und er spürte, wie die Wut wieder in ihm hoch kochte. „ Hey Junge!“ rief er, „ist deine Alte immer noch nicht zurück. Bist ja immer noch alleine unterwegs.“
Der Junge ging schneller, tat so, als hätte er nichts gehört.
„So ein arrogantes Arschloch“, dachte der Alte. Aber der würde sich schon noch umdrehen.
„Was denn ? Was rennst du denn so? Gib deiner Tussi doch Zeit, sich von ihrem Lover zu verabschieden bevor du nach Hause kommst.“ Der Junge war stehen geblieben und drehte sich zu dem Alten um. „ Halt endlich die Klappe alter Mann! Hör auf hier durch die Straße zu schreien.“
Aber der Alte dachte gar nicht daran, aufzuhören. Er hatte bemerkt, wie unangenehm die ganze Sache dem Jungen war und er fühlte sich stark und auch irgendwie im Recht. „Er hätte mich auf dem Weihnachtsmarkt nicht so stehen lassen dürfen, so geht man nicht mit Menschen um“, dachte er.
„ Ich denke gar nicht daran, aufzuhören!“ schrie er dem Jungen entgegen, als der auf ihn zu kam. „ Im Gegenteil, es können ruhig alle hören, womit deine Tussi eure Haushaltskasse aufbessert …!“
Der Alte wusste gar nicht so genau, was geschehen war, als er plötzlich am Boden lag. Leute waren dazu gekommen. Einer schlug vor, die Polizei zu rufen. Ein anderer zog den Jungen von ihm weg, ging mit ihm ein Stück die Straße entlang und achtete darauf, dass er nicht mehr umkehrte. Mühsam rappelte der Alte sich auf. Niemand half ihm. Fluchend hob er seinen Rucksack vom Pflaster und schüttelte die Glasscherben und Bierreste aus. „So weit ist es gekommen!“ schimpfte er „ da kann ein braver Bürger abends noch nicht mal mehr vor die Haustür gehen! Schaut euch die Sauerei an! Der gehört doch eingesperrt!“
„Lass gut sein, alter Mann“, sagten sie, „geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus.“

… ach ja … und der Schaum des ausgeflossenen Bieres hat im gelben Licht der Straßenbeleuchtung ein bisschen so ausgesehen wie trüber Schnee als wir darüber hinweg stiegen auf unserem Nachhauseweg vom Weihnachtsmarkt.
Ä

Dies ist keine wahre Geschichte, mit Ausnahme der letzten beiden Abschnitte. Aber es könnte so gewesen sein.

Schnee

„Mami! Mir geht es gar nicht gut. Können wir nicht doch aussteigen und Hilfe holen?“
Niemals! Niemals würden sie hier aussteigen können! Schon der Gedanke ließ sie schaudern. Sie spürte die Hitzewelle. Es begann in der Brust, erst das Herzklopfen, dann der Schweißausbruch und danach die Kälte. Schwer atmend lehnte sie sich zurück. Nein, sie würden hier niemals aussteigen können!
Warum musste Marie ausgerechnet heute Fieber bekommen? Und warum musste das verdammte Auto ausgerechnet heute stehen bleiben? Sie schaute zu Marie. Zitternd, in eine  Decke gehüllt, saß ihre  kleine Tochter  auf dem Beifahrersitz. Ihr Gesicht glühte. Marie brauchte Hilfe. Sie hatte hohes Fieber, deshalb musste sie dringend zum Arzt. Es war bitterkalt hier. Sie wusste, sie musste etwas unternehmen. Aber sie konnte hier nicht aussteigen! Niemals!
Und sie hatte ihr Handy in der Küche liegen lassen. Sie hatte versucht mit Bernhard zu telefonieren, aber nur die Mailbox erreicht. Wenigstens wusste er jetzt, dass Marie krank war. Falls er seine Mailbox abhörte. Aber eigentlich hörte er niemals seine Mailbox ab.
Sie hätte ihr Handy mitnehmen müssen. Aber als ihr klar wurde, dass sie Marie ins Krankenhaus bringen musste, dass sie aus dem Haus musste,  sie da hinaus musste, zog eine Nebelwand in ihrem Kopf auf. Ein grauer Nebel , der alles fremd wirken ließ. Ein Nebel, der ihre Gedanken in Watte packte. Roboterhaft wickelte sie Marie in eine Decke und trug sie zum Wagen. Zum Glück stand das Auto in der Garage. Zum Glück konnte sie die Garage durch den Keller erreichen. Eigentlich musste sie gar nicht ins Freie.. Sie würden in der Tiefgarage des Krankenhauses parken.

Und dann blieb dieses verdammte Auto mitten auf der Landstraße stehen.

„Mami! Bitte! Können wir nicht einfach aussteigen? Da vorne, das Haus, da brennt Licht. Das ist gar nicht weit.“
„Nein! Wir müssen hier warten bis Hilfe kommt!“
Wieso konnte Marie ihr nicht einfach glauben? Wieso vertraute sie ihr nicht, wenn sie sagte, es sei zu gefährlich auszusteigen? Sie würden es nie bis zu dem Haus schaffen. Schon der Gedanke, hier auszusteigen, nahm ihr den Atem.
Es hatte zu Schneien aufgehört. Der Schneefall war in Regen über gegangen. Aber es würde noch Stunden dauern bis der ganze Schnee getaut war. Wenn er überhaupt tauen würde. Es wurde Nacht. Und wahrscheinlich würde es auch wieder kälter werden. Nein! Sie konnten sich unmöglich selbst befreien! Sie mussten warten bis Bernhard kam. Er würde sie finden. Ihm würde eine Lösung einfallen. Er würde nach Hause kommen, sehen, dass niemand da war und dann seine Mailbox abhören.
Jetzt standen sie schon eine Stunde im tiefen Schnee auf dem Notstreifen der Landstraße. Sie mussten nur noch ein bisschen durchhalten.
„Mir ist so kalt Mami.“
„Papa wird bald kommen. Er wird uns nach Hause bringen.“
„Können wir nicht einfach ein Auto anhalten. Bitte! Mami! Ich möchte hier raus!“
„Nicht mehr lange, dann kommt Papa. Versuch zu schlafen, Marie.“
Nein, sie konnte kein Auto anhalten. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden sie zwingen, auszusteigen … und dann … Niemals!
Sie durften nicht auf sie aufmerksam werden. Deshalb hatte sie die Warnblinkanlage nicht eingeschaltet.
Wieder sah sie die Scheinwerfer eines Autos im Rückspiegel. Sie sah das Auto kommen. Sie durften sie nicht sehen. Sie drückte sich tief in den Sitz und hielt den Atem an bis der Wagen vorbei war.
„Mami, kannst du mir nicht wenigstens eine Geschichte erzählen? Eine vom Schnee oder von Weihnachten?“
Marie zitterte vor Kälte, oder war es das Fieber?
Natürlich, sie konnte ihr eine Geschichte erzählen. Vielleicht würde Marie sogar einschlafen. Sie würde Marie auf den Schoß nehmen und ihr eine Geschichte erzählen. Marie würde einschlafen und dann würde auch schon Bernhard kommen.
Wieder kam ein Wagen. Sie sah die Scheinwerfer im Rückspiegel. Marie hatte wirklich hohes Fieber. Vielleicht sollte sie doch versuchen, den Wagen anzuhalten. Aber der viele Schnee! Der Schnee würde ihr den Atem nehmen. Sie konnte hier nicht aussteigen. Niemals!
Sie war zu Marie auf den Beifahrersitz gewechselt. Die Gefahr, hier von einem vorbeifahrenden Auto bemerkt zu werden, war geringer.
Ja, sie würde Marie eine Geschichte erzählen. Die Geschichte vom Mädchen mit den Zündhölzern. Vielleicht würde Marie dann verstehen, warum sie nicht aussteigen konnten.
Und sie begann die Geschichte…

„Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit Lächeln um den Mund – tot, erfroren im Schnee am letzten Tage des alten Jahres.“

Und sie beendete die Geschichte.

Jetzt würde Marie sie verstehen. Sie schaute auf ihre Tochter. Marie war eingeschlafen. Und ihr kleiner Körper fühlte sich schon gar nicht mehr so heiß an.
Bald würde Bernhard kommen. Sie würde jetzt auch versuchen, sich zu entspannen und ein bisschen zu schlafen.

Johnny Gunfighter

Nein ! Mein Herr! Bitte! Lassen sie mich in Ruhe!“
Ein Glas fiel zu Boden und zerbrach in tausend funkelnde Scherben.
Das Geklimpere des uralten Klaviers brach ab. Die Gespräche in dem verrauchten Saloon verstummten.
„Komm, Kleine! Stell dich nicht so an!“
Das unrasierte Gesicht kam näher. Voller Ekel wandte sich Lilly ab. Der fiese Kerl trug eine Augenklappe. Die harten Bartstoppeln kratzen an Lillys Ohr.
„Du wirst doch einem heimatlosen Cowboy ein bisschen Spaß erlauben“, flüstere ihr die raue Stimme zu.
„Nur einen Kuss!“
Grobe Hände packten Lilly und zogen sie nach unten, auf den Schoß des stinkenden Cowboys. Lilly weinte.
„Lass sie in Ruhe! Du siehst doch, dass sie nicht will! Sie ist nicht so eine.“
Der Klavierspieler war aufgestanden und ging auf die beiden zu.
„Misch dich da besser nicht ein, alter Mann!“
Ein zweiter, gemeiner Cowboy verstellte ihm den Weg.
„Wenn der Boss ihr gut zuredet, wird sie schon wollen“, lachte er höhnisch.
„Lass sie! An der ist doch nix dran!“
Auffordernd streckte Molly dem Einäugigen ihren großen Busen entgegen.
„Wie wäre es mit uns zwei?“
„Verschwinde du Schlampe! Ich will mich mit der Lady da unterhalten.“
Der Einäugige stank nach Whiskey. Sein Atem traf Lilly wie ein Faustschlag.
„Nicht war, Süße. Wir beide werden jetzt richtig viel Spaß zusammen haben.“
„Nein! Bitte!“ Verzweifelt versuchte Lilly dem Bösewicht zu entkommen. Aber der Kerl ließ sie nicht los. Lilly schluchzte verzweifelt.

John stellte sein Bierglas auf die Theke und drehte sich langsam um.
„Du nimmst jetzt sofort deine dreckigen Pfoten von der Lady!“
„Wer sagt das denn?“ Missmutig wandte sich der Einäugige um.
„Ich sage das. Und wenn du in 5 Minuten nicht gemeinsam mit deinem Kumpanen die Stadt verlassen hast, könnt ihr die Nacht in einer Gefängniszelle verbringen. Hier ist kein Platz für Leute wie euch!“
Lässig stand John da. Aber seine Gelassenheit war nur scheinbar. Beide Hände hatte er griffbereit über seinen Revolvern, die er geladen in seinem Gürtelholster trug. Seine braune Lederweste hatte John nach hinten geschlagen, so dass der Sheriffstern im matten Licht der Saloonlampen leuchtete.
„Da schau an. Die Augen des Gesetzes sind überall,“ grinste der Cowboy höhnisch. „ Weißt du überhaupt, mit wem du dich da einlässt?“ Das Auge des Einäugigen funkelte drohend.
„Mit einem Schurken, der seine Finger nicht von einer anständigen Dame lassen kann.“
John erwiderte den Blick des Schurken ohne Angst.
„Pass auf, was du sagst. Sheriff. Sonst kann sich die Stadt noch heute nach einem neuen Gesetzeshüter umsehen.“
Der Einäugige schob Lily unsanft von seinem Schoß und stand langsam auf.
Molly führte die zitternde Lilly in eine Ecke des Saloons und redete beruhigend auf sie ein.
Breitbeinig baute sich der Einäugige vor John auf. John war der Blick, den er mit seinem Kumpanen gewechselt hatte, nicht entgangen. Er wusste, er hatte nur zwei Schuss. Ein Leben, auch das Leben eines Sheriffs, war hier draußen im Wilden Westen nicht viel wert. John nahm die Bewegung aus den Augenwinkeln war. Er zog, zielte blitzschnell und schoss zweimal. Der fiese Komplize war sofort tot.
„Wer verdammt ….,“ erstaunt schaute der Einäugige auf sein blutdurchdrängtes Hemd. Dann fiel auch er tot, mit dem Gesicht nach unten auf den schmutzigen Boden des Saloons.
John ging auf ihn zu und stieß ihn mit der Stiefelspitze an.
„John. John ist mein Name. Man nennt mich John Gunfighter, Sheriff von Dodge City. Sag das den anderen Schurken, wenn du in der Hölle ankommst.“
Er wandte sich zwei Farmern zu, die still die Schießerei beobachtet hatten:
„Bringt sie raus. Sagt dem Schreiner, er soll zwei einfache Kisten zusammennageln. Beerdigung auf Staatskosten.“

„Alles in Ordnung?“ Behutsam setzte sich John zu Lilly und legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Ja. Vielen Dank!“ Lilly schluchzte immer noch. „Wie gut, dass sie da waren.“
„Ich bin immer da, wenn ich gebraucht werde. Immer dienstags, wenn die Postkutsche hier Station macht. Sie ahnen gar nicht, wie viel Gesindel dann in unsere Stadt gespült wird. Natürlich bringt die Postkutsche nicht nur Gesindel.“
John lächelte Lilly freundlich zu. Zaghaft erwiderte Lilly das Lächeln.
„Sie fragen sich bestimmt, was eine junge, wehrlose Frau ganz allein im Wilden Westen macht. Nicht wahr?“
„Das habe ich mich in der Tat gefragt. Auf jeden Fall sollte eine Frau hier niemals alleine reisen.“
„Wenn die Reise unbedingt notwendig ist, und man keinen hat, der einen begleitet, dann muss man das Wagnis wohl auf sich nehmen.“ Lilly seufzte. „Aber das ist eine lange, traurige Geschichte.“
„Nun, heute gibt es für mich hier nichts mehr zu tun.“ John stand auf. „Wenn sie wollen, begleiten sie mich doch nach Hause. Meine alte Mutter freut sich immer, wenn wir Gäste haben. Sie können mir ihre Geschichte erzählen und in unserem Gästezimmer übernachten. Natürlich nur, wenn sie möchten.“
„Das ist ein wunderbarer Vorschlag. Aber nur, wenn ich ihrer Mutter nicht zu viele Umstände mache.“
Gerne nahm Lilly Johns Angebot an.
Johns Mutter kochte den beiden eine nahrhafte Suppe. Das machte sie immer, wenn John unangekündigte Gäste mit nach Hause brachte. John und Lilly redeten fast die ganze Nacht und tranken Wein.
„Oh John. Ich bin so froh, dass du mir helfen willst. Es ist so gut, dass ich nicht mehr allein bin.“ Lilly war müde aber unendlich erleichtert als sie sich gegen Morgen im Gästezimmer schlafen legte.
„Wir werden deinen Bruder bestimmt finden und zu deiner kranken Mutter bringen. Ich kenne mich hier aus. Ich weiß, wen ich fragen muss. Vertrau mir.“
Leise schloss John die Tür zum Gästezimmer. Draußen zwitscherten bereits die ersten Vögel. John beschloss, aufzubleiben. Er würde sich waschen und rasieren. Dann würde er sein Pferd satteln und dem Sonnenaufgang entgegen reiten, um ganz bestimmten Leuten einige Fragen zu stellen.

„Eine schöne Frau“, ging es John durch den Kopf, als er in den Spiegel schaute und den Rasierschaum auf den Bartstoppeln verteilte.
„Ihr seid ein schönes Paar“, hatte seine Mutter ihm zugeflüstert.

John lächelt.

Dann klopft es an die Badezimmertür.
„Hey Johnny! Mach endlich auf! Du sollst doch nicht abschließen!“
Widerwillig schließt John die Badezimmertür auf.
„Hey! Wie siehst du denn aus?“ Johns jüngere Schwester steht von der Tür.
„Mami! Johnny hat Papas Rasierschaum genommen und sich das ganze Gesicht damit eingeschmiert!“, schreit Lisa nach unten, „und abgespült hat er auch wieder nicht.“
„Petze!“ Hastig wischt Johnny den Rasierschaum aus seinem Gesicht.
„Was machst du denn, Johnny. Du solltest doch nur zur Toilette gehen.“ Johnnys Mutter ist ins Bad gekommen und wischt ihm bestimmt, aber liebevoll das Gesicht sauber.
„Du möchtest doch nicht, dass alle auf dich warten müssen! Jetzt aber los!“
Hastig holpert Johnny die Treppe hinunter.
„Dein Frühstück! Vergiss dein Frühstück nicht!“
Johnny hält seiner Mutter Omas alte, braune Ledertasche hin.
„Bist du ganz sicher, dass du die Tasche heute mitnehmen willst? Nicht deinen Schulrucksack?“ Zweifelnd schaut die Mutter auf die abgegriffene Tasche.
„Das ist meine Satteltasche“, ungeduldig hält Johnny die Tasche auf. „Mach schnell! Die hupen gleich!“
Tatsächlich. In diesem Moment ertönt die Hupe des kleinen Schulbusses, der Johnny jeden Morgen von zu Hause abholt und am späten Nachmittag wieder zurück bringt. Hektik. Der Revolvergürtel mit den beiden Revolvern muss noch umgebunden werden. Keine Munition hat der Lehrer in Johnnys Mitteilungsheft geschrieben. Schnell.
Dann ein Moment der Ruhe. Liebevoll umarmt Johnny seine Mutter. „Tschüss“. Dieser Moment der Ruhe ist wichtig für Johnny. Dann gibt er seiner Schwester einen liebevollen Rippenpuffer und streicht ihr über die Haare. „Tschüss Lissie. Bis heute Abend!“
„Tschüss, Downie“, erwidert Lisa gutgelaunt.
„Du sollst deinen Bruder nicht Downie nennen!“
„Nicht schlimm. Lieb gesagt ist das kein böses Wort, “ verteidigt Johnny seine Schwester.
Dann fällt die Tür ins Schloss und Johnny rennt mit seiner Satteltasche zum Schulbus.
Es ist kalt. Aber er hat seine Mutter überredet heute ohne Jacke gehen zu dürfen. Stolz schaut Johnny auf den Sheriffstern, der in der Morgensonne blinkt.
„Ruhe! Leute! Die strenge Hand des Gesetzes steigt gerade ein.“ Gut gelaunt zwinkert der Busfahrer Johnny zu. „Na, meinst du, du könntest dich hinten zu den Indianern setzen ohne dass es gleich eine Schießerei gibt?“
Johnny grinst den Busfahrer vergnügt an. „Klar!“
Er hat Lilly hinten im Bus erspäht. Lilly , eine wunderschöne Indianerin mit langen schwarzen, geflochtenen Zöpfen mit bunten Federn. Und der Platz neben Lilly ist noch frei.
Johnny wird sich neben Lilly setzten. Und mit ihr reden, während sie zur Schule fahren. Dann werden sie aussteigen und Lukas wird sie schon erwarten. Er würde als Pirat kommen, das hatte er gestern erzählt, mit einer echten Augenklappe. Eigentlich hat Johnny ein bisschen Angst vor Lukas.
Aber wenn Lukas heute in der Schule Lilly wieder ärgert, dann wird Johnny zu ihm gehen und ihm sagen, dass er damit aufhören soll. Und dann wird Johnny Lilly fragen, ob sie seine Freundin sein will. Und sie würden miteinander tanzen und reden und ganz viel lachen.