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Die Wirklichkeit ist nur ein Teil des Möglichen. Dürrenmatt

Weihnachtsmarkt

Kalt war es. Sehr kalt. Die Kälte hatte ihn geweckt. Mühsam stand der Alte vom Boden auf, stieg unbeholfen über die fleckige Matratze und schlurfte ins Bad.
„Es wird schon wieder dunkel“, dachte er und ließ die Tür zum Flur auf. Die Glühbirne im Bad war schon lange kaputt. Aber eigentlich reichte ihm auch das wenige Licht, das vom Flur hereinfiel. „Ich bin ja keine Tussie, die stundenlang vorm Spiegel steht“, hatte er gestern in der Kneipe erklärt. Der Alte grinste bei der Erinnerung. War ein schöner Abend gewesen und lang. Eigentlich hatte er ins Aldi gewollt, noch etwas zu Essen kaufen, bevor das Geld wieder weg war. Dann hatte er spontan beschlossen, bei Anni rein zu schauen, nur auf ein Bier und ein paar Worte. ‚So was braucht der Mensch eben auch von Zeit zu Zeit‘ hatte er sich gesagt. Er hatte schon seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen. Und dann wurde es richtig gut. Er stand am Tresen und erzählte von seiner Glühbirne im Bad und wie er eine neue kaufen wollte und wie die Verkäuferin an der Kasse ihm 8 Euro fünfzig für eine einzige Birne abnehmen wollte. „Energiesparlampe – was soll ich mit so ‚nem teuren Ding?“ hatte er sie gefragt und die Verkäuferin erklärte ihm, dass solche Lampen 10 Jahre lang hielten und dann erzählte er seinen Kumpels was er der geantwortet hatte: „Was soll ich mit einer Birne, die mich am Ende noch überlebt!“ Und die Kumpels hatten gelacht und ihm auf die Schulter geklopft und ihm einen ausgegeben. War ja auch echt gut, die Antwort. Der Alte musste wieder grinsen. Richtig gut drauf gewesen war er gestern, hatte die halbe Kneipe unterhalten mit seiner Geschichte von der Glühbirne. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er sie erzählen musste. Erst als Anni meinte, es reiche nun, er solle die Gäste in Ruhe lassen, hatte er noch ein Bier und einen Kurzen bestellt und sich an den kleinen Tisch in der Ecke gehockt. Manchmal konnte Anni ganz schön zickig sein. Die Leute fanden die Geschichte doch gut. Aber er wollte es sich mit Anni nicht verderben. In der Kneipe war es warm und Anni ließ ihn in Ruhe, auch wenn er stundenlang vor einem Bier saß. Er war überzeugt, sie wusste, dass er den mitgebrachten Schnaps heimlich auf der Toilette trank. Sie war eben eine gute Seele. Sie ließ ihn da sitzen und gegen Ende des Monats stellte sie ihm manchmal ein Bier hin, das er h nicht bezahlen musste. Sie verstand ihn eben, solange er ihre Gäste in Ruhe ließ. Aber gestern war sie wirklich empfindlich gewesen. „Er solle sich mal waschen“, hatte sie noch gesagt. War wahrscheinlich der Weihnachtsstress, da wurden die Leute komisch.

Der Alte schlurfte vom Bad zurück in die Küche. Kalt war es. Er öffnete die Backofentür und drehte den Herd an. Den schäbigen Sessel rückte er ganz nah an den Backofen. Dann trank er einen Schluck aus der Flasche, die griffbereit auf dem Herd stand. „Das muss jetzt sein“, beschwichtigte er sich selbst, „ einen gegen die Kälte“ und zog seinen Mantel an. Er hatte in den Kleidern geschlafen. „Wenn’s noch kälter wird, wird’s eng. Dann schafft der Herd das nicht mehr,“ dachte der Alte. Aber die Heizung war kaputt, schon seit Monaten. Irgendetwas am Heizkörper musste es sein. Er hatte sich bei der Frau in der Wohnung nebenan erkundigt, da ging die Heizung. Er hätte dem Vermieter Bescheid sagen können, schließlich zahlt das Amt ja die Miete, da hatte er auch ein Recht auf eine funktionierende Heizung. Aber erst musste er aufräumen, bevor er einen Handwerker in die Wohnung ließ und irgendwie war er noch nicht dazu gekommen. Und jetzt war es Winter.
„Du könntest dich ruhig mal waschen“, hatte Anni gesagt.
Früher hatte er sogar manchmal gebadet und sich rasiert, aber ohne Heizung gibt es auch kein warmes Wasser und die Glühbirne im Bad war kaputt – so viel zum Rasieren. Wieder grinste der Alte vor sich hin „… und ich werde kein Geld ausgeben für eine Glühbirne, die mich überlebt.“ Der Witz war wirklich gut. Und wozu auch Baden, wenn er sowieso wieder die gleichen Kleider anzog. Selbst wenn die Waschmaschine wieder funktionieren würde, wie sollte er die Wäsche denn trocken kriegen in der kalten Wohnung?
Aber Hunger hatte er. Die eingetrockneten Suppenreste in dem Topf auf dem Herd sahen nicht besonders einladend aus. Er roch daran. „Besser nicht“, dachte er. „Als ich das das letzte Mal probiert habe, hat es mich fast zerrissen.“
Der Alte beschloss, sich erst einmal eine Zigarette zu drehen. Langsam wurde es auch etwas wärmer im Zimmer. „Scheiße“, fluchte er, als im Tabak und Papier durch die Finger rutschten. “ Ich zittere ja immer noch vor Kälte und die Finger sind auch ganz steif.“ Ein Kumpel hatte mal gesagt, das sei Gicht, das könne man an den kleinen Knötchen sehen und das käme vom Saufen. „Du musst es ja wissen“, hatte er ihm geantwortet, „das ist das Alter, sonst nix.“ Tatsächlich hatte sein Vater das auch gehabt, erinnerte er sich jetzt. Der Alte zündete sich endlich eine Zigarette an. Sein Vater konnte später gar nicht mehr drehen. Deshalb hatte er die kleine Maschine. Er erinnerte sich, wie sein Vater Samstagsnachmittags am Küchentisch saß und mit seiner Maschine Zigaretten drehte; sogar welche mit Filter. Als kleiner Junge hatte er fasziniert daneben gesessen und zugeschaut, wie schließlich ein kleiner Plastikvogel nach vorne kippte und dann mit einer Zigarette im Schnabel wieder hoch kam. Er hatte nie verstanden, wie es funktionierte, aber es hatte ihm gefallen. Vielleicht sollte er sich auch so eine Maschine besorgen. Der Vater hatte jeden Samstag seine Zigaretten für die kommende Woche gedreht. Er drehte sie und teilte sie dann in sieben Häufchen auf. Für die ganze Woche. Sieben Tage, sieben Häufchen. „Man muss lernen, sich einzuteilen“, hatte er dabei gesagt. „Recht hat er gehabt,“ dachte der Alte und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Er begann, sich eine zweite Zigarette zu drehen. „Jetzt wird mir langsam warm, er spürte es und das Zittern hörte auf. Aber er würde mir auch nicht erklären können, wie man so wenig noch einteilen soll. Wenn er am ersten sein Geld bekam, musste er erst einmal die Schulden zurück bezahlen. Nix Großes. Überall nur ein paar Euro, die er sich bei seinen Kumpels oder im Getränkemarkt geliehen hatte. Er war immer bemüht, die Schulden zurück zu zahlen, er war darauf angewiesen, dass sie ihm wieder etwas liehen, wenn es gegen Ende des Monats nicht reichte. „Der Typ im Fernsehen hat genau so geredet wie mein Vater“, überlegte er, „ nur dass mein Vater wusste wovon er redete.“ „ Und wenn die keine Bewerbung schreiben wollen, dann muss man denen eben die Leistungen kürzen“ „ Die wissen doch echt nicht, wovon sie reden,“„ grummelte der Alte vor sich hin. Er hatte die Leute auf dem Amt dann gefragt, wo er sich denn bewerben sollte. Aber das war denen egal, irgendwo eben, haben sie gesagt. Und es käme ja nur darauf an, dass ihnen Ende des Monats fünf Bewerbungen vorliegen würden. Er hatte dann noch gefragt, ob sie ihm noch eine Schreibmaschine und Papier leihen würden und dann meinten sie, er solle jetzt nicht noch frech werden. Der Alte merkte, wie alte Wut wieder in ihm hochkam. Er hatte keine Bewerbungen geschrieben. Wie denn ? Und warum auch ? Er hatte sich die 10 Euro Porto und so gespart, wäre doch sowieso rausgeschmissenes Geld gewesen. Und sie hatten ihm die Leistungen gekürzt.

Dem Alten knurrte der Magen. Er stand auf und griff nach seinem Rucksack. Es brachte nichts, über das alles nachzugrübeln. Er musste raus, heute würde er einkaufen gehen.
Auf dem Weg nach unten fiel ihm ein, dass Sonntag war. Als es vor die Tür trat, war es schon dunkel. Er hatte tatsächlich den ganzen Tag verschlafen. Er blieb stehen und hörte das Gedudel vom Weihnachtsmarkt. Ein Geruch von Glühwein, Zimt und Knoblauch wehte zu ihm herüber. „Warum nicht“, dachte er „schließlich musste er etwas essen.“
Unterwegs hielt er an einem Mülltonne an. Er hatte vor kurzem begonnen, im Vorbeigehen die Mülltonnen nach Pfandflaschen zu durchsuchen. Er nannte es „seinen Zuverdienst“ und ein oder zwei Euros kamen immer zusammen. Steuerfrei – immerhin. „Nein“, dachte er, „ heute nicht. Heute ist Sonntag und du gehst zum Weihnachtsmarkt und spendierst dir einen Glühwein und eine Wurst.“
Die Wurst war teuer, aber es gefiel ihm, sie wie alle anderen an der Bude zu essen und dabei das Treiben des Weihnachtsmarktes zu betrachten. Auf den Kauf des Glühweins verzichtete er. Der Alte hatte längst bemerkt, dass die meisten ihren Glühwein nicht ganz austranken, weil er kalt nicht mehr schmeckte. Sie stellten die Pappbecher mit den Resten auf den Stehtischen ab. Er hatte Übung. Schnell schüttete er ein paar Reste zusammen und schlenderte dann mit einem gefüllten Becher an den Buden vorbei. „Schmeckt gar nicht mal so schlecht“, dachte er, als er das Ganze wiederholte. Er kam langsam in Stimmung. „Wir Deutschen verstehen es schon, Weihnachten zu feiern“, der Alte war zufrieden und summte ein Weihnachtslied. „Mein Gott, ich werde ja richtig sentimental“.
Dann fiel ihm der Junge auf. Er stand alleine an einem der Stehtische und aß eine Wurst. „Niemand sollte heute alleine sein. Vielleicht hat er Streit mit der Freundin, “ überlegte der Alte und beschloss, sich zu ihm zu gesellen. Er würde ihn aufheitern, er würde ihm von seinen Frauengeschichten erzählen, vielleicht würde er ihm auch die Sache mit der Glühbirne erzählen und der Junge würde lachen und ihm auf die Schulter klopfen und wer weiß, vielleicht würde sie sich noch in eine Kneipe setzen und ein bisschen reden. So dachte der Alte und stellte sich zu dem Jungen. Er vergoss einen Teil seines Glühweins, als er ihn auf dem Tisch abstellte, und der Junge wich einen halben Schritt zurück als sich der Alte vertrauensvoll zu ihm hinüberbeugte. “na – hat dich deine Tussie hier stehen lassen und ist mit einem anderen abgezogen?“ Aufmunternd legte der Alte den Arm um die Schulter des Jungen. Der Junge wich noch einen Schritt zurück und schüttelte den Arm des Alten ab. „Was willst du von mir alter Mann? Hau ab! Du bist besoffen und stinkst!“ „ Wie redest du denn mit mir? Da will man mal freundlich sein und dann so was!“ Der Alte war empört und beleidigt. Er schwankte auf den Jungen zu, doch der drehte sich einfach um und ging davon. „Habt ihr das gesehen?“ rief der Alte den Umstehenden zu. „Benimmt man sich so? Geht man so mit dem Alter um? Die haben keinen Respekt mehr, die Jungen!“ Er sprach laut in die Menge, aber niemand beachtete ihn. Es schien ihm sogar, als würden sich die Leute absichtlich von ihm wegdrehen, ihn absichtlich nicht bemerken. Seine gute Stimmung war verflogen. „Dann eben nicht“, dachte er. „Alles Spießer! Kümmern sich nur um sich selbst! Was hab ich hier eigentlich verloren? Hätte ich ja auch wissen können!“ Er merkte gar nicht, dass er immer noch laut vor sich hin sprach. Und er redete sich so langsam in Wut. Aber die Leute wichen ihm aus, seine Wut fand kein Gegenüber.
Er beschloss, nach Hause zu gehen. Wenn er sich beeilte, konnte er noch an der Tankstelle vorbei gehen. Er hatte ja seinen Rucksack dabei und Geld. Genau, das würde er machen. Er würde seine Biervorräte auffüllen und sich eine gute Flasche Wodka gönnen. Es würde jetzt sogar warm sein in seinem Zimmer, er hatte ja den Backofen angelassen und dann würde er sich einen gemütlichen Fernsehabend machen und die Sache mit dem Jungen einfach vergessen. Warum sollte er sich über so einen Grünschnabel eigentlich aufregen, der wusste doch nichts vom Leben.
Aber der Alte dachte immer noch an den Jungen, als er beladen mit seinem Rucksack voller Bierflaschen und dem Wodka in der Manteltasche Richtung Wohnung torkelte. „Die sollen doch erst mal etwas leisten im Leben“ grummelte er vor sich hin.
Und dann sah er ihn, den Jungen vom Weihnachtsmarkt. Er ging nur zehn Meter vor ihm. Immer noch alleine. Und er spürte, wie die Wut wieder in ihm hoch kochte. „ Hey Junge!“ rief er, „ist deine Alte immer noch nicht zurück. Bist ja immer noch alleine unterwegs.“
Der Junge ging schneller, tat so, als hätte er nichts gehört.
„So ein arrogantes Arschloch“, dachte der Alte. Aber der würde sich schon noch umdrehen.
„Was denn ? Was rennst du denn so? Gib deiner Tussi doch Zeit, sich von ihrem Lover zu verabschieden bevor du nach Hause kommst.“ Der Junge war stehen geblieben und drehte sich zu dem Alten um. „ Halt endlich die Klappe alter Mann! Hör auf hier durch die Straße zu schreien.“
Aber der Alte dachte gar nicht daran, aufzuhören. Er hatte bemerkt, wie unangenehm die ganze Sache dem Jungen war und er fühlte sich stark und auch irgendwie im Recht. „Er hätte mich auf dem Weihnachtsmarkt nicht so stehen lassen dürfen, so geht man nicht mit Menschen um“, dachte er.
„ Ich denke gar nicht daran, aufzuhören!“ schrie er dem Jungen entgegen, als der auf ihn zu kam. „ Im Gegenteil, es können ruhig alle hören, womit deine Tussi eure Haushaltskasse aufbessert …!“
Der Alte wusste gar nicht so genau, was geschehen war, als er plötzlich am Boden lag. Leute waren dazu gekommen. Einer schlug vor, die Polizei zu rufen. Ein anderer zog den Jungen von ihm weg, ging mit ihm ein Stück die Straße entlang und achtete darauf, dass er nicht mehr umkehrte. Mühsam rappelte der Alte sich auf. Niemand half ihm. Fluchend hob er seinen Rucksack vom Pflaster und schüttelte die Glasscherben und Bierreste aus. „So weit ist es gekommen!“ schimpfte er „ da kann ein braver Bürger abends noch nicht mal mehr vor die Haustür gehen! Schaut euch die Sauerei an! Der gehört doch eingesperrt!“
„Lass gut sein, alter Mann“, sagten sie, „geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus.“

… ach ja … und der Schaum des ausgeflossenen Bieres hat im gelben Licht der Straßenbeleuchtung ein bisschen so ausgesehen wie trüber Schnee als wir darüber hinweg stiegen auf unserem Nachhauseweg vom Weihnachtsmarkt.
Ä

Dies ist keine wahre Geschichte, mit Ausnahme der letzten beiden Abschnitte. Aber es könnte so gewesen sein.

Schnee

„Mami! Mir geht es gar nicht gut. Können wir nicht doch aussteigen und Hilfe holen?“
Niemals! Niemals würden sie hier aussteigen können! Schon der Gedanke ließ sie schaudern. Sie spürte die Hitzewelle. Es begann in der Brust, erst das Herzklopfen, dann der Schweißausbruch und danach die Kälte. Schwer atmend lehnte sie sich zurück. Nein, sie würden hier niemals aussteigen können!
Warum musste Marie ausgerechnet heute Fieber bekommen? Und warum musste das verdammte Auto ausgerechnet heute stehen bleiben? Sie schaute zu Marie. Zitternd, in eine  Decke gehüllt, saß ihre  kleine Tochter  auf dem Beifahrersitz. Ihr Gesicht glühte. Marie brauchte Hilfe. Sie hatte hohes Fieber, deshalb musste sie dringend zum Arzt. Es war bitterkalt hier. Sie wusste, sie musste etwas unternehmen. Aber sie konnte hier nicht aussteigen! Niemals!
Und sie hatte ihr Handy in der Küche liegen lassen. Sie hatte versucht mit Bernhard zu telefonieren, aber nur die Mailbox erreicht. Wenigstens wusste er jetzt, dass Marie krank war. Falls er seine Mailbox abhörte. Aber eigentlich hörte er niemals seine Mailbox ab.
Sie hätte ihr Handy mitnehmen müssen. Aber als ihr klar wurde, dass sie Marie ins Krankenhaus bringen musste, dass sie aus dem Haus musste,  sie da hinaus musste, zog eine Nebelwand in ihrem Kopf auf. Ein grauer Nebel , der alles fremd wirken ließ. Ein Nebel, der ihre Gedanken in Watte packte. Roboterhaft wickelte sie Marie in eine Decke und trug sie zum Wagen. Zum Glück stand das Auto in der Garage. Zum Glück konnte sie die Garage durch den Keller erreichen. Eigentlich musste sie gar nicht ins Freie.. Sie würden in der Tiefgarage des Krankenhauses parken.

Und dann blieb dieses verdammte Auto mitten auf der Landstraße stehen.

„Mami! Bitte! Können wir nicht einfach aussteigen? Da vorne, das Haus, da brennt Licht. Das ist gar nicht weit.“
„Nein! Wir müssen hier warten bis Hilfe kommt!“
Wieso konnte Marie ihr nicht einfach glauben? Wieso vertraute sie ihr nicht, wenn sie sagte, es sei zu gefährlich auszusteigen? Sie würden es nie bis zu dem Haus schaffen. Schon der Gedanke, hier auszusteigen, nahm ihr den Atem.
Es hatte zu Schneien aufgehört. Der Schneefall war in Regen über gegangen. Aber es würde noch Stunden dauern bis der ganze Schnee getaut war. Wenn er überhaupt tauen würde. Es wurde Nacht. Und wahrscheinlich würde es auch wieder kälter werden. Nein! Sie konnten sich unmöglich selbst befreien! Sie mussten warten bis Bernhard kam. Er würde sie finden. Ihm würde eine Lösung einfallen. Er würde nach Hause kommen, sehen, dass niemand da war und dann seine Mailbox abhören.
Jetzt standen sie schon eine Stunde im tiefen Schnee auf dem Notstreifen der Landstraße. Sie mussten nur noch ein bisschen durchhalten.
„Mir ist so kalt Mami.“
„Papa wird bald kommen. Er wird uns nach Hause bringen.“
„Können wir nicht einfach ein Auto anhalten. Bitte! Mami! Ich möchte hier raus!“
„Nicht mehr lange, dann kommt Papa. Versuch zu schlafen, Marie.“
Nein, sie konnte kein Auto anhalten. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden sie zwingen, auszusteigen … und dann … Niemals!
Sie durften nicht auf sie aufmerksam werden. Deshalb hatte sie die Warnblinkanlage nicht eingeschaltet.
Wieder sah sie die Scheinwerfer eines Autos im Rückspiegel. Sie sah das Auto kommen. Sie durften sie nicht sehen. Sie drückte sich tief in den Sitz und hielt den Atem an bis der Wagen vorbei war.
„Mami, kannst du mir nicht wenigstens eine Geschichte erzählen? Eine vom Schnee oder von Weihnachten?“
Marie zitterte vor Kälte, oder war es das Fieber?
Natürlich, sie konnte ihr eine Geschichte erzählen. Vielleicht würde Marie sogar einschlafen. Sie würde Marie auf den Schoß nehmen und ihr eine Geschichte erzählen. Marie würde einschlafen und dann würde auch schon Bernhard kommen.
Wieder kam ein Wagen. Sie sah die Scheinwerfer im Rückspiegel. Marie hatte wirklich hohes Fieber. Vielleicht sollte sie doch versuchen, den Wagen anzuhalten. Aber der viele Schnee! Der Schnee würde ihr den Atem nehmen. Sie konnte hier nicht aussteigen. Niemals!
Sie war zu Marie auf den Beifahrersitz gewechselt. Die Gefahr, hier von einem vorbeifahrenden Auto bemerkt zu werden, war geringer.
Ja, sie würde Marie eine Geschichte erzählen. Die Geschichte vom Mädchen mit den Zündhölzern. Vielleicht würde Marie dann verstehen, warum sie nicht aussteigen konnten.
Und sie begann die Geschichte…

„Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit Lächeln um den Mund – tot, erfroren im Schnee am letzten Tage des alten Jahres.“

Und sie beendete die Geschichte.

Jetzt würde Marie sie verstehen. Sie schaute auf ihre Tochter. Marie war eingeschlafen. Und ihr kleiner Körper fühlte sich schon gar nicht mehr so heiß an.
Bald würde Bernhard kommen. Sie würde jetzt auch versuchen, sich zu entspannen und ein bisschen zu schlafen.

Johnny Gunfighter

Nein ! Mein Herr! Bitte! Lassen sie mich in Ruhe!“
Ein Glas fiel zu Boden und zerbrach in tausend funkelnde Scherben.
Das Geklimpere des uralten Klaviers brach ab. Die Gespräche in dem verrauchten Saloon verstummten.
„Komm, Kleine! Stell dich nicht so an!“
Das unrasierte Gesicht kam näher. Voller Ekel wandte sich Lilly ab. Der fiese Kerl trug eine Augenklappe. Die harten Bartstoppeln kratzen an Lillys Ohr.
„Du wirst doch einem heimatlosen Cowboy ein bisschen Spaß erlauben“, flüstere ihr die raue Stimme zu.
„Nur einen Kuss!“
Grobe Hände packten Lilly und zogen sie nach unten, auf den Schoß des stinkenden Cowboys. Lilly weinte.
„Lass sie in Ruhe! Du siehst doch, dass sie nicht will! Sie ist nicht so eine.“
Der Klavierspieler war aufgestanden und ging auf die beiden zu.
„Misch dich da besser nicht ein, alter Mann!“
Ein zweiter, gemeiner Cowboy verstellte ihm den Weg.
„Wenn der Boss ihr gut zuredet, wird sie schon wollen“, lachte er höhnisch.
„Lass sie! An der ist doch nix dran!“
Auffordernd streckte Molly dem Einäugigen ihren großen Busen entgegen.
„Wie wäre es mit uns zwei?“
„Verschwinde du Schlampe! Ich will mich mit der Lady da unterhalten.“
Der Einäugige stank nach Whiskey. Sein Atem traf Lilly wie ein Faustschlag.
„Nicht war, Süße. Wir beide werden jetzt richtig viel Spaß zusammen haben.“
„Nein! Bitte!“ Verzweifelt versuchte Lilly dem Bösewicht zu entkommen. Aber der Kerl ließ sie nicht los. Lilly schluchzte verzweifelt.

John stellte sein Bierglas auf die Theke und drehte sich langsam um.
„Du nimmst jetzt sofort deine dreckigen Pfoten von der Lady!“
„Wer sagt das denn?“ Missmutig wandte sich der Einäugige um.
„Ich sage das. Und wenn du in 5 Minuten nicht gemeinsam mit deinem Kumpanen die Stadt verlassen hast, könnt ihr die Nacht in einer Gefängniszelle verbringen. Hier ist kein Platz für Leute wie euch!“
Lässig stand John da. Aber seine Gelassenheit war nur scheinbar. Beide Hände hatte er griffbereit über seinen Revolvern, die er geladen in seinem Gürtelholster trug. Seine braune Lederweste hatte John nach hinten geschlagen, so dass der Sheriffstern im matten Licht der Saloonlampen leuchtete.
„Da schau an. Die Augen des Gesetzes sind überall,“ grinste der Cowboy höhnisch. „ Weißt du überhaupt, mit wem du dich da einlässt?“ Das Auge des Einäugigen funkelte drohend.
„Mit einem Schurken, der seine Finger nicht von einer anständigen Dame lassen kann.“
John erwiderte den Blick des Schurken ohne Angst.
„Pass auf, was du sagst. Sheriff. Sonst kann sich die Stadt noch heute nach einem neuen Gesetzeshüter umsehen.“
Der Einäugige schob Lily unsanft von seinem Schoß und stand langsam auf.
Molly führte die zitternde Lilly in eine Ecke des Saloons und redete beruhigend auf sie ein.
Breitbeinig baute sich der Einäugige vor John auf. John war der Blick, den er mit seinem Kumpanen gewechselt hatte, nicht entgangen. Er wusste, er hatte nur zwei Schuss. Ein Leben, auch das Leben eines Sheriffs, war hier draußen im Wilden Westen nicht viel wert. John nahm die Bewegung aus den Augenwinkeln war. Er zog, zielte blitzschnell und schoss zweimal. Der fiese Komplize war sofort tot.
„Wer verdammt ….,“ erstaunt schaute der Einäugige auf sein blutdurchdrängtes Hemd. Dann fiel auch er tot, mit dem Gesicht nach unten auf den schmutzigen Boden des Saloons.
John ging auf ihn zu und stieß ihn mit der Stiefelspitze an.
„John. John ist mein Name. Man nennt mich John Gunfighter, Sheriff von Dodge City. Sag das den anderen Schurken, wenn du in der Hölle ankommst.“
Er wandte sich zwei Farmern zu, die still die Schießerei beobachtet hatten:
„Bringt sie raus. Sagt dem Schreiner, er soll zwei einfache Kisten zusammennageln. Beerdigung auf Staatskosten.“

„Alles in Ordnung?“ Behutsam setzte sich John zu Lilly und legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Ja. Vielen Dank!“ Lilly schluchzte immer noch. „Wie gut, dass sie da waren.“
„Ich bin immer da, wenn ich gebraucht werde. Immer dienstags, wenn die Postkutsche hier Station macht. Sie ahnen gar nicht, wie viel Gesindel dann in unsere Stadt gespült wird. Natürlich bringt die Postkutsche nicht nur Gesindel.“
John lächelte Lilly freundlich zu. Zaghaft erwiderte Lilly das Lächeln.
„Sie fragen sich bestimmt, was eine junge, wehrlose Frau ganz allein im Wilden Westen macht. Nicht wahr?“
„Das habe ich mich in der Tat gefragt. Auf jeden Fall sollte eine Frau hier niemals alleine reisen.“
„Wenn die Reise unbedingt notwendig ist, und man keinen hat, der einen begleitet, dann muss man das Wagnis wohl auf sich nehmen.“ Lilly seufzte. „Aber das ist eine lange, traurige Geschichte.“
„Nun, heute gibt es für mich hier nichts mehr zu tun.“ John stand auf. „Wenn sie wollen, begleiten sie mich doch nach Hause. Meine alte Mutter freut sich immer, wenn wir Gäste haben. Sie können mir ihre Geschichte erzählen und in unserem Gästezimmer übernachten. Natürlich nur, wenn sie möchten.“
„Das ist ein wunderbarer Vorschlag. Aber nur, wenn ich ihrer Mutter nicht zu viele Umstände mache.“
Gerne nahm Lilly Johns Angebot an.
Johns Mutter kochte den beiden eine nahrhafte Suppe. Das machte sie immer, wenn John unangekündigte Gäste mit nach Hause brachte. John und Lilly redeten fast die ganze Nacht und tranken Wein.
„Oh John. Ich bin so froh, dass du mir helfen willst. Es ist so gut, dass ich nicht mehr allein bin.“ Lilly war müde aber unendlich erleichtert als sie sich gegen Morgen im Gästezimmer schlafen legte.
„Wir werden deinen Bruder bestimmt finden und zu deiner kranken Mutter bringen. Ich kenne mich hier aus. Ich weiß, wen ich fragen muss. Vertrau mir.“
Leise schloss John die Tür zum Gästezimmer. Draußen zwitscherten bereits die ersten Vögel. John beschloss, aufzubleiben. Er würde sich waschen und rasieren. Dann würde er sein Pferd satteln und dem Sonnenaufgang entgegen reiten, um ganz bestimmten Leuten einige Fragen zu stellen.

„Eine schöne Frau“, ging es John durch den Kopf, als er in den Spiegel schaute und den Rasierschaum auf den Bartstoppeln verteilte.
„Ihr seid ein schönes Paar“, hatte seine Mutter ihm zugeflüstert.

John lächelt.

Dann klopft es an die Badezimmertür.
„Hey Johnny! Mach endlich auf! Du sollst doch nicht abschließen!“
Widerwillig schließt John die Badezimmertür auf.
„Hey! Wie siehst du denn aus?“ Johns jüngere Schwester steht von der Tür.
„Mami! Johnny hat Papas Rasierschaum genommen und sich das ganze Gesicht damit eingeschmiert!“, schreit Lisa nach unten, „und abgespült hat er auch wieder nicht.“
„Petze!“ Hastig wischt Johnny den Rasierschaum aus seinem Gesicht.
„Was machst du denn, Johnny. Du solltest doch nur zur Toilette gehen.“ Johnnys Mutter ist ins Bad gekommen und wischt ihm bestimmt, aber liebevoll das Gesicht sauber.
„Du möchtest doch nicht, dass alle auf dich warten müssen! Jetzt aber los!“
Hastig holpert Johnny die Treppe hinunter.
„Dein Frühstück! Vergiss dein Frühstück nicht!“
Johnny hält seiner Mutter Omas alte, braune Ledertasche hin.
„Bist du ganz sicher, dass du die Tasche heute mitnehmen willst? Nicht deinen Schulrucksack?“ Zweifelnd schaut die Mutter auf die abgegriffene Tasche.
„Das ist meine Satteltasche“, ungeduldig hält Johnny die Tasche auf. „Mach schnell! Die hupen gleich!“
Tatsächlich. In diesem Moment ertönt die Hupe des kleinen Schulbusses, der Johnny jeden Morgen von zu Hause abholt und am späten Nachmittag wieder zurück bringt. Hektik. Der Revolvergürtel mit den beiden Revolvern muss noch umgebunden werden. Keine Munition hat der Lehrer in Johnnys Mitteilungsheft geschrieben. Schnell.
Dann ein Moment der Ruhe. Liebevoll umarmt Johnny seine Mutter. „Tschüss“. Dieser Moment der Ruhe ist wichtig für Johnny. Dann gibt er seiner Schwester einen liebevollen Rippenpuffer und streicht ihr über die Haare. „Tschüss Lissie. Bis heute Abend!“
„Tschüss, Downie“, erwidert Lisa gutgelaunt.
„Du sollst deinen Bruder nicht Downie nennen!“
„Nicht schlimm. Lieb gesagt ist das kein böses Wort, “ verteidigt Johnny seine Schwester.
Dann fällt die Tür ins Schloss und Johnny rennt mit seiner Satteltasche zum Schulbus.
Es ist kalt. Aber er hat seine Mutter überredet heute ohne Jacke gehen zu dürfen. Stolz schaut Johnny auf den Sheriffstern, der in der Morgensonne blinkt.
„Ruhe! Leute! Die strenge Hand des Gesetzes steigt gerade ein.“ Gut gelaunt zwinkert der Busfahrer Johnny zu. „Na, meinst du, du könntest dich hinten zu den Indianern setzen ohne dass es gleich eine Schießerei gibt?“
Johnny grinst den Busfahrer vergnügt an. „Klar!“
Er hat Lilly hinten im Bus erspäht. Lilly , eine wunderschöne Indianerin mit langen schwarzen, geflochtenen Zöpfen mit bunten Federn. Und der Platz neben Lilly ist noch frei.
Johnny wird sich neben Lilly setzten. Und mit ihr reden, während sie zur Schule fahren. Dann werden sie aussteigen und Lukas wird sie schon erwarten. Er würde als Pirat kommen, das hatte er gestern erzählt, mit einer echten Augenklappe. Eigentlich hat Johnny ein bisschen Angst vor Lukas.
Aber wenn Lukas heute in der Schule Lilly wieder ärgert, dann wird Johnny zu ihm gehen und ihm sagen, dass er damit aufhören soll. Und dann wird Johnny Lilly fragen, ob sie seine Freundin sein will. Und sie würden miteinander tanzen und reden und ganz viel lachen.

Einsamkeit

Einsamkeit

Ich habe die Batterien aus der alten Küchenuhr genommen. Ich konnte ihr lautes Ticken nicht mehr ertragen. Eigentlich müsste ich aufräumen und endlich einmal Geschirr spülen. Aber wozu? Aber es ist niemand da, den die Unordnung stört. Und wenn doch jemand käme – aber es kommt bestimmt keiner – könnte ich die Küchentür und die anderen Türen schließen und ihn auffordern im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Ich müsste vorher die Fensterläden hochziehen. Irgendwann habe ich sie einfach unten gelassen. Wozu die Anstrengung jeden Morgen und jeden Abend? Ich gehe sowieso nie ins Wohnzimmer. Den Fernseher habe ich in die Küche gestellt. Die Küche reicht mir. Eigentlich ist die Wohnung  zu groß. Ich habe die Suppe von gestern warm gemacht. Gestern hatte ich auch die Suppe von gestern warm gemacht. Eigentlich ist es egal, was ich esse. In der Nachbarwohnung streiten sie. Sie streiten immer. Wahrscheinlich hat sie wieder die Kartoffeln anbrennen lassen.  Bis in meine Küche kann ich den Geruch nach Verbranntem riechen. Schade, dass ich bei denen nicht einfach die Batterien herausnehmen kann. Ich löffele meine Suppe direkt aus dem Topf  – sieht ja keiner – und schalte den Fernseher ein. Ich drehe ihn laut. So hole ich die ganze Welt in meine Küche und übertöne den Streit meiner Nachbarn.

Geht mich ohnehin nichts an.