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Abhauen

Widerwillig wandte sich Sarah ihrem Bruder zu:  „Was willst Du?“ Tim hatte sie eingeholt. Er versuchte im Schritttempo neben ihr herzufahren. Das Rad schlingerte und drohte umzukippen. Tim war kein guter Radfahrer. Er hielt an und stieg ab: „Jetzt warte doch!“ Aber Sarah ging mit schnellen Schritten weiter. Tim zeigte auf die große Umhängetasche: „Gehst Du weg? Ich meine echt? Für länger?“ Sarah blieb stehen und drehte sich nach ihrem kleinen Bruder um: „Nach was sieht’s denn aus? Nach Picknick?“ „Aber sie haben das bestimmt nicht so gemeint. Sie wollen nicht wirklich, dass Du weggehst.“ Ungelenk versuchte Tim einen Arm um die Schulter seiner Schwester zu legen. „Lass das!“, Sarah schüttelte Tims Arm ab. „Du hast sie doch gehört: Internat. Zu den Betschwestern wollen sie mich schicken. Ohne mich!“ Unschlüssig stand Tim vor seiner Schwester:  „Aber da sind bestimmt viele Mädchen in Deinem Alter. Dort hast Du Gesellschaft und Du wirst Abitur machen. Das ist gut für Dich, hat Mama gesagt.“ Ärgerlich äffte Sarah ihren Bruder nach: „Das ist gut für dich, hat Mama gesagt. Du hast keine Ahnung! Ich bin ihr nur im Weg. Weil ich nicht in ihre spießige Familie passe. Sie, Rüdiger und Du: Ihr seid die Familie. Du hast sie doch gehört: ich bin wie mein Vater: Asozial und egoistisch“, Sarahs Stimme bebte, „ich bin gewissermaßen der Stachel in ihrem spießigen Leben, der Fleck auf der weißen Sonntagstischdecke, wenn sie ihre Freundinnen zum Kaffeekränzchen empfängt. Die schieben mich ab, ins Internat. So ist das. Aber ich lasse mich nicht wegsperren.“ Erschrocken schaute Tim seine Schwester an: „ Du willst wirklich weglaufen? Es wird bald dunkel. Sie werden sich Sorgen machen.“ Sarah schüttelte den Kopf und zeigte die Straße hinunter: „Sie haben mitbekommen, wie ich meine Sachen gepackt habe. Sie haben mich gehen lassen. Schau: Kein Rüdiger im BMW. Keine Monika im schicken Beatle.“ Sarah fasste grob die Schultern ihres Bruders und drehte ihn zur Straße: „Schau genau, kleiner Bruder: Niemand da, um mich aufzuhalten. Passt gerade nicht in ihren Terminkalender, dass die Tochter abhaut. Denen ist das scheißegal.“ Sarah fühlte, wie ihr Bruder unter ihrem Griff zusammenzuckte. Sie gab sich Mühe nicht in sein Gesicht zu schauen. Tränen konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Sie spürte, wie verzweifelt Tim nach Argumenten suchte. „Aber Du bist erst fünfzehn und es wird bald dunkel, wo gehst Du denn hin?“ Sarah überlegte, ob sie Tim in ihre Pläne einweihen sollte. Aber sie kannte Tim. Ein vorwurfsvoller Blick ihrer Mutter und Tim würde alles verraten. Jetzt war es Sarah, die ihrem Arm um die Schultern ihres kleinen Bruders legte: „Mach Dir keine Sorgen, ich komme schon klar.“ Tim nickte und atmete tief durch, ungeschickt griff er mit der linken Hand in seine rechte Hosentasche und zog einen Geldschein heraus. „Da“, Tim hielt Sarah fünfzig Euro unter die Nase, „den habe ich von Oma zum Geburtstag bekommen. Da kannst Du Zug fahren oder Essen kaufen. Ich weiß doch, dass Mama Dein Taschengeld gestrichen hat.“ Sarah schluckte. Sie hatte sich eben noch aus dem Portemonnaie ihrer Mutter bedient. Das wusste Tim nicht. Auf diese Idee würde er nicht einmal im Traum kommen. Mit einem traurigen Lächeln griff Sarah nach dem Geld und kniff Tim liebevoll in die Wange: „Danke, kleiner Bruder! Du bist der beste Bruder der Welt. Und jetzt beeil Dich, dass Du nach Hause kommst. Babies sollten um diese Zeit nicht mehr auf der Straße sein!“ Widerwillig stieg Tim auf sein Fahrrad. „Ich bin kein Baby mehr, ich bin schon sechs Jahre alt“, rief er Sarah zu und radelte davon.

Sarah sah ihrem Bruder nach, bis er in die Sackgasse zu ihrem Haus einbog, dann drehte sie sich um, wischte sich die Tränen aus den Augen und ging weiter Richtung Tankstelle. Sie würde es so machen wie die Ausreißerinnen in den Filmen. Sie würde einen LKW Fahrer ansprechen und fragen, ob er sie mitnehmen kann. Wohin wäre egal, erst einmal raus aus Kassel. Und dann würde sie sich irgendwie nach Lauenstein durchschlagen. Sie würde einfach zum Tannenweg 13 gehen. Vielleicht. Oder sie würde anrufen. Sie hatte die Telefonnummer. Es hat alles bei Facebook gestanden. Und er hatte nett geschrieben. „Schön von dir zu hören“, hatte er geantwortet, „vielleicht können wir uns irgendwann einmal treffen.“ Das war zwar nicht direkt eine Einladung. Aber er würde sie bestimmt nicht wegschicken, wenn sie vor seiner Tür stand. Und wenn er eine Familie hatte? Sarah hatte sich nicht getraut zu fragen.

„Nö Kleine“, der LKW Fahrer schüttelte den Kopf, „geh Du mal ganz brav wieder nach Hause, ich nehme ganz bestimmt keine Minderjährigen mit.“ Enttäuscht wandte sich Sarah ab. Das war schon der dritte Versuch. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt. Vielleicht doch zum Bahnhof? Sarah wollte sich gerade auf dem Weg zum Bahnhof machen, als ein grauer PKW neben ihr anhielt. „Wo soll es denn hingehen?“, fragte der Fahrer durch das offene Seitenfenster. Sarah trat an den Wagen heran und musterte den Fahrer. Mindestens vierzig und er wirkte genau so spießig wie Rüdiger. „Weiß nicht“, antwortete Sarah, „Lauenstein vielleicht.“ Der Fahrer griff über die Beifahrerseite und öffnete die Tür. „Wenn Du willst – bis Hildesheim kann ich Dich mitnehmen.“ Sarah wusste, dass Hildesheim irgendwo in der Nähe von Lauenstein lag. Sie wusste auch, dass sie eigentlich nicht zu einem Fremden in den Wagen steigen sollte. Aber man sollte auch nicht von zu Hause weglaufen. Und wer sich für das eine entschied, musste das andere wohl in Kauf nehmen. Sarah stieg ein. „Danke!“ Sie legte den Sicherheitsgurt an, während der Fahrer den Wagen aus der Tankstelleneinfahrt lenkte. Sarah entspannte sich, als der Wagen tatsächlich den Hinweisschildern zur A7 Richtung Hildesheim folgte. „Besuchst Du Freunde in Lauenstein?“ Sarah nickte. „Und sie erwarten Dich?“ Erneut nickte Sarah. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber sie hatte auch keine Lust, sich mit dem Fremden zu unterhalten. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, steckte die Kopfhörer ein, schloss die Augen und gab vor, Musik zu hören. Der Fahrer stellte die Musik im Wagen lauter. Nach ungefähr einer halben Stunde spürte Sarah, dass der Wagen langsamer wurde und öffnete die Augen. Ausfahrt Nordheim-Nord. „Warum fahren wir ab?“ Sarah hatte sich aufgesetzt. „Ich dachte, Sie fahren nach Hildesheim.“ „Kein Grund zur Aufregung“, antwortete der Fahrer. „Du wolltest  nach Lauenstein. Hast Du mal auf die Uhr geguckt? Wenn wir in Hildesheim ankommen ist es schon nach Zehn. Dann gurkst Du um Mitternacht noch in der Gegend herum. Für mich ist Lauenstein nur ein kleiner Umweg.“ Die Stimme des Fahrers klang freundlich und was er sagte war glaubwürdig, trotzdem vertraute Sarah ihm nicht. Ihr fielen Filmszenen ein, in denen jungen Anhalterinnen genau das passierte, was jetzt mit ihr geschah. Unauffällig rückte Sarah näher zur Tür. Der Fahrer grinste. „Was ist los? Hast Du Angst, ich würde mit Dir auf einen einsamen Waldweg abbiegen?“ Mit einem Knopfdruck verriegelte er die Türen. „Nicht, dass Du panisch aus dem fahrenden Wagen springst.“ „Was haben Sie vor?“, fragte Sarah. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. „Nichts habe ich vor“, erwiderte der Fahrer. „Außer: Dir vielleicht eine kleine Lektion zu erteilen, an die Du Dich mit Sicherheit erinnern wirst, bevor Du wieder in ein fremdes Auto steigst.“ Der Fahrer schaute zu Sarah hinüber. „Was denkst Du?“, grinste er, „werden wir da vorne auf den Waldweg einbiegen oder nicht?“ In diesem Moment knallte es. Blech kreischte, der Wagen drehte sich um seine Achse und blieb entgegen der Fahrbahnrichtung stehen. Aus den Augenwinkeln konnte Sarah erkennen, wie ein anderer Wagen von der Straße abkam und am Rand der Böschung verschwand. Sarah hörte, wie Äste brachen. Dann wurde es still. „Wieso haben sich die Airbags nicht geöffnet?“, ging es Sarah durch den Kopf. Sie schaute zum Fahrer hinüber. Er saß regungslos hinter dem Steuer und atmete tief ein und aus. „Bist du okay?“ fragte er schließlich. Sarah nickte: „Ich glaube schon. Aber wir müssen nach dem anderen Wagen sehen.“ Sie deutete hinüber zum Straßenrand zu der Stelle an der der Wagen verschwunden war. „Da vorne irgendwo ist er die Böschung hinunter. Wir müssen aussteigen und…“ „Gar nichts müssen wir! Der Kerl hat mir die Vorfahrt genommen“, entgegnete der Fahrer wütend. „Aber wir müssen den Notarzt rufen, erste Hilfe leiste oder so“, Sarah zerrte an der Wagentür: „Jetzt machen Sie doch die Tür auf!“ Der Fahrer schüttelte den Kopf. „Wir werden gar nichts machen. Was soll ich der Polizei sagen, wenn sie mich fragt, warum ich hier mitten in der Nacht mit einer Minderjährigen durch die Gegend fahre?“ Sarah zerrte weiter an der Wagentür. Die Zentralverriegelung! Irgendwo musste der Knopf sein! An Rüdigers Auto gab es den doch auch! Hastig drückte Sarah alle Knöpfe, die sie am Armaturenbrett erreichen konnte. Mit einem Klicken schaltete die Zentralverriegelung auf offen. Sarah riss die Wagentür auf. „Scheiße! Bleib da! Warte doch mal!“ hörte Sarah hinter sich, als sie in die Dunkelheit lief. Sie flüchtete von der Straße in ein kleines Wäldchen. Atemlos kauerte sie sich in eine Mulde. Sie hörte das Rufen und Fluchen des Fahrers und rührte sich nicht. Schließlich gab er auf. Sarah wartete, bis sie seinen Wagen davonfahren hörte. Dann kletterte sie wieder auf die Straße. Ihre Beine zitterten und ihr war kalt. Etwas kribbelte an ihren Wangen. Sarah wollte es wegwischen und bemerkte, dass sie weinte. Zögernd ging sie zu der Stelle, an der der andere Wagen von der Straße abgekommen war. Sie schaute die Böschung hinunter. Aber da war nichts. Nur Dunkelheit und das Zirpen der Grillen. „Ob ich rufen sollte?“, überlegte sie. Schwieg aber. Sie fürchtete, eine Antwort zu erhalten. „Ich könnte so tun, als sei nichts geschehen. Eigentlich ist nichts geschehen. Alles ist so, wie es war. Sogar meine Tasche habe ich noch. Ich könnte einfach gehen, als sei nichts passiert. Sarah verstand nicht, warum sie plötzlich an Tim dachte. Der kleine Tim, der seine große, coole Schwester so vorbehaltlos bewunderte. „Man muss helfen, man darf nicht einfach weggehen.“ „Du hast recht, Tim.“ Mit bebenden Fingern wählte Sarah die Notrufnummer.

Sie solle bleiben, wo sie sei, sagten sie. Und so saß Sarah immer noch an der Böschung als die Polizei und der Notarzt eintrafen. Das flackernde Blaulicht setzte den Wald gespenstisch in Szene. Sarah hatte das Gefühl, als würde das alles nicht wirklich geschehen, als sei sie nur Zuschauer bei einem ziemlich dramatischen Theaterstück. Ihr wurde eine Decke umgelegt und man brachte sie zum Krankenwagen. Sie konnte beobachten, wie die Feuerwehr eintraf und mit Scheinwerfern die Böschung ausleuchtete. Dann schloss man die Tür des Krankenwagens und eine Ärztin fragte, was passiert sei. Sarah war mit einem Mal unendlich müde. „Ich war auf dem Weg zu meinem Vater“, antwortete sie nur, nannte der Ärztin die Adresse und Telefonnummer ihres Vaters in Lauenstein und wartete teilnahmslos, als die Ärztin ausstieg, um sich mit den Polizisten zu unterhalten. Schließlich öffnete sich die Tür des Krankenwagens und die Ärztin stieg wieder ein. „Ich habe gerade mit Deinem Vater telefoniert. Er schien erstaunt, aber er sagte, er würde sich sofort auf den Weg machen, um Dich abzuholen.“ Sarah lächelte. „Danke! Und“, sie zögerte, „könnten Sie bitte auch meine Mutter anrufen und ihr sagen, dass es mir gut geht?“