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Deutschstunde

Sie hätte nicht gedacht, dass es sich so schnell herumsprechen würde. Eigentlich kümmerte es die Eltern nicht, was sie im Deutschunterricht mit den Schülern besprach. In den ersten beiden Klassen war es noch anders gewesen. Aber die Schüler wurden älter und schwieriger und die Eltern überließen die Bildung ihrer Sprösslinge dann doch lieber den Lehrern. Wozu waren die denn ausgebildet und wozu zahlte man schließlich diese enormen Schulgebühren. Allerdings – Elias Mutter war im Landeselternbeirat für die Referate Deutsch und Mathematik. Elias hatte Karin das gleich in der ersten Deutschstunde stolz verkündet. Ein unangenehmer Strebertyp. Aber sie hätte wirklich nicht gedacht, dass es sich so schnell herumsprechen würde.

Zaghaft klopfte Karin an die Tür des Direktorenzimmers. Bisher hatte sie der Direktor immer im Konferenzraum empfangen. Ihr Herz schlug bis zum Hals als seine dunkle Stimme sie zum Eintreten aufforderte. Karin öffnete die schwere Eichentür und betrat den Raum ihrer eigenen Schulzeit. Es hatte sich nichts verändert. In all den Jahren. Der riesige Schreibtisch, die hölzerne Vertäfelung an der Wand dahinter und das Porträt des Internatsgründers. Ein ernster Mann, der mit strengem Blick auf die Schüler herabblickte. Schüler, die sich ganz klein und unbedeutend fühlten, eingeschüchtert, weil sie zum Direktor zitiert wurden. Nein, es hatte sich nichts geändert. Selbst der Geruch des Bohnerwachses war gleich geblieben und erinnerte sie an das alte, beklemmende Gefühl der Angst. Das Drücken im Magen und den riesigen Kloß im Hals. Herr Direkter Münzner war aufgestanden und reichte Karin freundlich die Hand. „Bitte nehmen Sie Platz, Frau Treibel.“ Karin setzte sich auf den einfachen Holzstuhl vor dem Schreibtisch und betrachte die Vase mit frischen Blumen, die neben einem aufgeklappten Notebook stand. Sie atmete tief durch. Es hatte sich doch etwas verändert. „Sie wollten mich sprechen?“, begann sie mit fester Stimme und blickte den Direktor herausfordernd an. „Ja“, Direktor Münzner erwiderte ihren Blick. Er hatte lässig neben Karin auf der Kante des Schreibtisches Platz genommen und beugte sich zu ihr hinunter. „Sie müssen wissen, Frau Treibel, dass ich Sie als engagierte Kollegin außerordentlich schätze. Aber in Ihrer letzten Deutschstunde“, Herr Münzner räusperte sich,„also, mir ist da etwas zugetragen worden. Bestimmt ein Missverständnis, wo Sie ihren Unterricht doch immer so gewissenhaft vorbereiten. Ich habe der Mutter bereits erklärt, dass ihr Sohn da zweifelsohne etwas missverstanden hat.“ „Also doch die Frau Schönspecht“, überlegte Karin und sah den Schulleiter unverwandt an: „Ja?“  Direktor Münzner stand auf, ging zum Fenster und betrachtete die gepflegte Parkanlage. Es war ein sonniger Frühlingsmorgen. Selbst durch das geschlossene Fenster konnte Karin das Zwitschern der Vögel hören. Es übertönte sogar das tiefe Motorengeräusch des Baggers, der gerade die Baugrube für die neue Cafeteria am anderen Ende des Schulhofes aushob. Der Direktor drehte sich ihr wieder zu: „Verstehen Sie. Sie sind noch nicht lange im Schuldienst. Vielleicht ist es der ungewohnte Stress. Wir alle machen Fehler. Und die Kinder sind schwieriger geworden. So viele Verlockungen. Smartphone, Fernsehen, Internet. Aber umso wichtiger ist eine klare Führung. Diese jungen Seelen brauchen eine feste Struktur. Eindeutige moralische Grundsätze. Und wer, wenn nicht wir, ihre Lehrer, sollten ihnen diese Grundsätze vermitteln? Sie und ich“, Direktor Münzner war neben Karin getreten und hatte ihr väterlich die Hand auf die Schulter gelegt. „Sie und ich sind moralische Instanzen.“ Karin widerstand dem Impuls, die Hand des Direktors abzuschütteln. Der Direktor spürte ihren Widerstand. „Entschuldigen Sie.“ Er nahm die Hand von ihrer Schulter und ging zu seinem Schreibtischstuhl. „Wenn es um meine Schüler geht, reagiere ich immer etwas impulsiv. Was ich meine ist: Diese jungen Welpen brauchen eine klare Ansage. Eindeutige Regeln. Gut und böse. Schwarz und weiß. Sie müssen lernen, was für ihre Zukunft wichtig ist. Dass sie ihre Zeit nicht vergeuden dürfen.“ Direktor Münzner deutete auf das Buch, das vor ihm lag. „Jean de La Fontaine schenkte uns diese Fabeln. Kleine Gedichte und Geschichten voller Lebensweisheit. Tiere, die direkt zu den Seelen unserer Schüler sprechen. Die Schüler lieben diese Geschichten. Sie identifizieren sich mit den Tieren und erkennen so, welches Verhalten verwerflich und welches erstrebenswert ist. Die Grille und die Ameise.“ Direktor Münzner schlug das kleine Buch an der Stelle auf, aus der ein neongelber Klebezettel ragte, „eigentlich eine einfache didaktische Aufgabe. Die leichtsinnige Grille verbringt den Sommer mit Singen und Tanzen, anstatt Vorräte für den Winter zu sammeln, wie es die gewissenhafte, fleißige Ameise tut. Es ist nur folgerichtig, dass die Ameise der Grille ihre Hilfe verweigert, als diese im Winter hungrig an ihre Tür klopft. Ich kann wirklich nicht begreifen, was man daran missverstehen kann.“ Der Direktor schwieg, während er La Fontaines Fabel erneut las. Karin blickte sich abwartend im Büro des Schuldirektors um. „Der Direktor ist eine Ameise“, ging es ihr durch den Kopf, während sie die Diplome und Auszeichnungen betrachtete. Dann entdeckte sie den kleinen sorgfältig gerahmten Kunstdruck an der Wand neben der Tür. Chagalls Fiedler auf dem Dach. Karin stand auf und ging zu dem hohen Bücherregal auf der anderen Seite der Tür. Sie strich liebevoll über die alten Buchrücken. Goethe, Schiller, Böll, Hans Aeblis Grundlagen der Didaktik, und hielt überrascht inne: Eine  CD-Sammlung? Etwas so Persönliches hätte Karin hier nicht erwartet. Sie neigte den Kopf zu Seite um die Titel der CDs zu lesen, die sorgfältig aufgereiht neben den Buchklassikern standen. Klavierkonzerte, Mozart, Brahms. Pink Floyd?  Karin lächelte. „Naja, man kann es sich schlecht vorstellen, aber ich war auch einmal jung“, der Direktor war neben sie getreten, „und ehrlich gesagt, wenn es hier ganz besonders stressig wird, ist Pink Floyd genau das Richtige. Kennen Sie ‚Wish you were here?‘“ Karin zeigte auf die Diplome und die wissenschaftlichen Werke. „Sie sind eine Ameise.“ Empört sah Direktor Münzner sie an. „Was?“, dann zögerte er, „ach so, die Fabel. Genau“, er nickte eindringlich. „Ja, ich bin eine Ameise. Und ich kann ihn gar nicht sagen, wie mühsam das manchmal war. Aber mit Fleiß und Disziplin habe ich es bis zum Direktor dieses Internates geschafft.“ „Fleiß und Disziplin“, nickte Karin und deutete auf den Fiedler „aber sie mögen den Expressionismus und Klaviersonaten, die alten Klassiker und Pink Floyd und frische Blumen auf Ihrem Schreibtisch.“ Ehe der Direktor etwas erwidern konnte, fuhr sie fort:„Und das ist völlig in Ordnung. Wissen Sie, ich habe meinen Schülern gesagt, die Grille habe einen Fehler gemacht. Sie hat den ganzen Sommer die anderen Insekten mit ihrem Gesang unterhalten, aber sie hat sich für diese Leistung nicht bezahlen lassen. Meine Schüler haben es verstanden. Die meisten zumindest. Aber vielleicht sollte ich auch die Eltern zu einer Deutschstunde einladen. Und jetzt“, Karin blickte auf ihre Uhr, „müssen Sie mich entschuldigen, mein Unterricht fängt gleich an.“

Karin ließ einen nachdenklichen Direktor zurück, als sie die Tür leise hinter zu zog. Es hatte sich wirklich etwas verändert.