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Für Anna
Für Anna
Sie schreibt Geschichten, kleine, harmlose Horrorgeschichten – bis sich eines Tages herausstellt, dass das, was sie schreibt, doch nicht so harmlos ist … aber niemand glaubt ihr.
2. Auflage
Ritual
Um es gleich voraus zu schicken: Ich mag keine Hühner. Noch nicht einmal als Hühnersuppe.
Trotzdem führt mein Weg jeden Morgen als Erstes, noch vor dem Frühstückskaffee, zu einem Hühnerhof. Raus aus dem Haus, 50 Meter die Straße hoch, 100 Meter den schmalen Fußpfad entlang.
Und dann stehe ich 5 Minuten da und betrachte die Hühner. Manchmal bin ich zu früh, dann betrachte ich nur den Hühnerhof ohne Hühner. Manchmal, meistens wenn die Hühner noch nicht da sind, spiele ich ein Spiel: ‚Was ist anders? ‘
Der Hühnerhof muss einem Menschen mit viel Zeit und einer großen Zuneigung für Hühner gehören. Jeden Morgen ist etwas anders, besser. Da ein Unterstand. Dort eine Leiter, eine Hühnerleiter. Drüben ein rotweißes Flatterband gegen den Habicht. Veränderbare Zäune, die die Hühner auf verschiedene Teile der Wiese leiten. Habe ich erwähnt, dass die Hühner in einem alten Bauwagen wohnen?
Jeden Morgen besuche ich also die Hühner.
Der Grund: Mein Hund mag Hühner.
Und wir haben eine Abmachung: morgens darf er die Route bestimmen und dafür bringt er die Sache mit dem Gassi gehen relativ zügig hinter sich. Jeden Morgen steht mein Hund am Zaun zum Hühnerhof. 5 Minuten. Regungslos. Auf drei Beinen. Die Sache ist so spannend, dass er unmöglich auch die vierte Pfote aufsetzen kann. Wenn die Hühner da sind, kommuniziert er mit ihnen. Lautlos. Durch Blickkontakt. Mit jedem einzelnen Huhn. Auch die Hühner, vom Blick meines Hundes eingefroren, setzen ein Bein nicht auf. Ich hätte nie gedacht, dass Hühner so lange auf einem Bein stehen können.
Wenn keine Hühner da sind, steht mein Hund auch 5 Minuten am Zaun. Dreibeinig.
Ob er das Spiel spielt?
Jeden Morgen beginne ich den Tag mit einem Besuch beim Hühnerhof. Obwohl ich keine Hühner mag.
Eigenartig, wie es uns in Rituale einbindet, das Leben.
Solitär
Er war schon lange nicht mehr in seiner Stammkneipe gewesen.
„Seltsam, wie schnell die Zeit verging“, dachte er.
Kurt ging zur Theke, setze sich und bestellte ein Bier.
„Na, du anonymer Held! Bist ja richtig berühmt geworden!“
Karl, der Wirt, schob ihm das Bier hin.
„Von was redete der eigentlich?“
Dann brachte Karl sein Notebook, tippte eine Zeit lang auf der Tastatur herum und drehte es schließlich so, dass Kurt den Desktop sehen konnte.
„Da! Guck! Facebook! Eine eigene „Der-Mann-im-Wald“-Fanseite! Ich war ja lange nicht mehr draußen, aber das ist doch deine Hütte!“
„Scheiße!“ Kurt starrte auf den Bildschirm. „Ja, das war seine Hütte.“
Jemand hatte ein Foto davon in Facebook gestellt. Und darunter stand: „Wer mag das sein, der dieses abgeschiedene Leben im Wald gewählt hat? Was hat ihn wohl bewogen, der Welt den Rücken zu kehren?“
„Da! Da musst du lesen!“, der Wirt deutete auf den linken Rand des Bildschirms:
„3467 gefällt das, 756 waren hier, 234 sprechen darüber! Im ganzen Dorf bist du Gesprächsthema Nr. 1. Dabei kennen dich doch alle! Zumindest die Älteren. „Unbekannter Mann im Wald!“ So ein Quatsch!“
Kurt starrte immer noch wortlos auf den Bildschirm. Jetzt wurde ihm Einiges klar. Er hatte sich schon gewundert, warum sich letztes Wochenende so viele Spaziergänger in seinen Wald verlaufen hatten.
„Werden welche von der Volkswanderung sein, die falsch abgebogen sind“, hatte er gedacht.
Neugierig hatten sie durch das kleine Gittertor zu seiner Hütte herüber geschaut. Er war neugierige Blicke gewöhnt. Niemand rechnet damit, dass hier am Grund des Tales mitten im Wald eine Hütte steht. Eigentlich ein idealer Ort, um allein zu sein. Der schmale Fußweg führt nirgendwo hin, außer zu seiner Hütte. Und die Hütte liegt so versteckt, dass man sie erst bemerkt, wenn man schon fast davor steht. Es kam immer mal wieder vor, dass sich Wanderer hierher verliefen. Sie blieben neugierig eine Weile stehen, drehten dann um und kamen nie wieder. Warum auch, wie gesagt, der Fußweg führte nirgendwo hin.
Aber die Leute am letzten Wochenende waren anders. Sie blieben länger stehen, deuteten auf seine Hütte und unterhielten sich. Als sie weg waren, war er rausgegangen und hatte nachgeschaut, ob etwas anders war als sonst mit seiner Hütte. Aber er hatte nichts gefunden. Er konnte sich das seltsame Verhalten der Leute nicht erklären. Jetzt wusste er den Grund.
„Schieb mal das Bild weiter runter.“
Er wollte die Kommentare auf der Seite lesen. Nach zwei Minuten hatte er genug. „Spinnen die denn alle? Wie kommen die dazu, sich irgendwelche blödsinnigen Geschichten über ihn auszudenken? Am Leben gescheitert! Dem Konsumterror abgeschworen! Eine alternative Lebensweise suchend! Krank! Arm! Verbittert! Eigenbrötler! Sogar ein Kommentar zu Hartz IV Empfängern! Hatten die nichts anderes zu tun, als so einen Schwachsinn öffentlich von sich zu geben? Eine Anmerkung mit der Überschrift: „Meine persönliche Begegnung mit dem Heiler,“ machte ihn besonders wütend. Er konnte sich an den Vorfall erinnern.
Es war im Frühjahr gewesen, am 1. Mai. Ein kleines Kind schrie erbärmlich. Er wollte gerade nachschauen, was da los war, als es an seiner Tür klopfte. Eine Gruppe aufgeregter Wanderer stand vor ihm. Maiwanderung! Ihrer Fahne nach zu urteilen waren sie schon eine Weile unterwegs.
Ob er Eis habe, wollten sie wissen. Zum Kühlen. Der kleine Junge sei von einer Wespe gestochen worden. Eine Frau hielt ihm das schreiende Kind entgegen. Er hatte sich im letzten Herbst einen kleinen Kräutergarten angelegt. Er nahm ein paar Stiele Petersilie und verrieb sie auf dem Insektenstich.
„Petersilie hat eine antiseptische Wirkung“, erklärte er der Frau.
In der Hütte hatte er noch buntes Kinderpflaster gefunden. Das hatte er einmal in der Apotheke bekommen, als Probepäckchen. Er klebe das Pflaster über den Wespenstich. Wünschte allen einen schönen Tag und schloss die Tür.
Und jetzt schrieb diese Frau über ihre Begegnung mit dem Heiler.
„Sogar die Presse war schon da. Wollte mich über deine Geschichte ausfragen.“
Karl unterbrach seine Gedanken.
„Da müssen sie Kurt schon selber fragen“,habe ich der Frau Journalistin geantwortet. Würde mich nicht wundern, wenn die demnächst bei dir da draußen auftaucht.“
Noch war es früh und Kurt der einzige Gast in der Kneipe.
Er schob dem Wirt vier Euro hin.
„Stimmt so. Ich geh jetzt. Ich muss das Ganze erst einmal verdauen.“
„Kann ich verstehen. Lass dich mal wieder blicken. Und sei vorsichtig! Du hast die Kommentare gelesen. Unterschätz die Leute nicht. Die machen dich zum Helden oder, wenn du nicht so bist, wie sie dich wollen, zum Verbrecher.“
Kurt hatte die Kneipe verlassen. Es hatte zu schneien begonnen. Eigentlich wollte er noch Vorräte einkaufen. Er hatte den Rucksack dabei. Aber ihm war die Lust vergangen.
„Ob diese Journalistin wirklich kommen wird, um ihn zu interviewen, “ überlegte er, während er durch den Schnee marschierte.
„Was sollte er ihr denn erzählen?“
Eigentlich wusste er selbst nicht so richtig, wie das kam, dass er jetzt in einer Hütte im Wald wohnte. Sie hatten ein Haus im Dorf bewohnt, er und seine Frau. Diese kleine Hütte im Wald hatten sie von der Oma der Frau geerbt. Irgendwann begann er, die Hütte wohnlich herzurichten. Wenn seine Frau sonntags nachmittags ihre Freundinnen zum Kaffee einlud, ging er zur Hütte. Andere hatten eine Werkstatt im Keller. Er hatte keinen Platz für eine Werkstatt im Keller; sie hatten noch nicht einmal eine Garage. Also ging er zur Hütte. Dann wurde er pensioniert. Mit 45! Viel zu früh! Aber die Grube brauchte keine Bergleute mehr. Zu Hause stellte er fest, dass seine Frau auch wochentags Freundinnen zum Kaffee einlud. Deshalb ging er auch wochentags zur Hütte. Er staute den kleinen Bach und setzte Fische ein. Jetzt konnte er an seiner Hütte sogar angeln. Frisches Quellwasser hatte er auch. Als ihn ein Kumpel fragte, ob er keine Verwendung für einen alten Kohleofen hätte, vergrößerte er die Hütte. Nun war es sogar im Winter gemütlich warm dort. Irgendwann probierte er aus, ob er im Tal mit einer SAT-Schüssel Fernsehempfang haben würde. Dazu brauchte er Strom. Er baute einen kleinen Holzturm und darauf ein paar Solarzellen. Der Strom reichte gerade für den Kühlschrank, die Glühbirne und an sonnigen Tagen für den Fernseher. Er war gerne an der Hütte. Man sollte ihn nicht falsch verstehen. Er hatte keinen Streit mit seiner Frau. Er ging jeden Abend nach Hause zu ihr. Aber irgendwie zog er die Gesellschaft des Waldes doch der seiner Frau vor. Und ihr ging es wohl ähnlich. Sie war auch zufrieden, so wie es war. Sie hatte ihre Vereine und ihre Freundinnen. Aber dann wurde sie krank. Er konnte nur noch selten zur Hütte gehen. Bald darauf starb sie. Bei manchen Krankheiten geht das ganz schnell. Nach der Beerdigung wollte er allein sein und ging zur Hütte. Von diesem Tag an war er jeden Tag da. Er stellte sich ein Bett in die Hütte, weil er nicht wusste, warum er abends ins Dorf zurückkehren sollte. Den Kohleofen hatte er gegen einen Kohleherd getauscht. Letztes Jahr im Herbst fiel ihm auf, dass er schon seit vier Wochen nicht mehr im Dorf war. Er hatte es überhaupt nicht vermisst. Als er das nächste Mal zur Post ging, um sein Postfach zu leeren, ging er zur Bank. Wenig später hatte die Bank das Haus verkauft. Die Möbel hatte er mit verkauft. Das Wenige, das er behalten wollte, lagerte er in einer gemieteten Garage ein. Das Geld ließ er einfach auf der Bank.
Kurt war an der Hütte angekommen. Das war also seine Geschichte. Was sollte daran besonders sein. Aber mehr könnte er der Journalistin nicht erzählen. Er bekam eine Rente, zahlte Steuern und GEZ, hatte ein Postfach im Dorf und brachte seine Kleider in die Reinigung. Im Herbst hatte er sich gegen Grippe impfen lassen. Er wurde ja schließlich nicht jünger.
Und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Geschichte irgendjemanden interessierte.
Die Journalistin kam nicht. Nicht am nächsten Tag und auch nicht in der Woche danach. Zum Glück!
Vielleicht hatten sie ihn ja wieder vergessen. Vielleicht jagten sie schon einem neuen Geheimnis hinterher. Vielleicht war aber auch das Wetter schuld. Es hatte in der letzten Woche geschneit. Der Weg zu seiner Hütte bedeutete jetzt einen halbstündigen Marsch durch tiefen Schnee. Vielleicht kam die Journalistin deshalb nicht.
Dafür kamen andere.
Es war der 11. November. Seit er von seiner Facebook-Berühmtheit erfahren hatte, war er nicht mehr im Dorf gewesen. Das war jetzt vierzehn Tage her. Seine Vorräte wurden langsam knapp. Er hatte sich gerade eine Dosensuppe warm gemacht, als er sie draußen singen hörte. Kinderstimmen.
„Ach hilf mir doch in meiner Not, sonst wird der bittre Frost mein Tod.“
Er schaute durch das kleine Fenster der Hütte. Sah die Kinder mit ihren Laternen.
„Ach du Scheiße!“, dachte er.
„Haben sie den Martinszug umgeleitet?“
Er öffnete die Tür. Tatsächlich! Da standen Kinder mit Martinslaternen vor ihm. Eine ältere Frau trat auf ihn zu. Kompromisslose Hilfsbereitschaft brannte in ihren Augen. Sie sei die Lehrerin der Klasse 1b. Sie hätten von seinem Schicksal erfahren, und die Kinder hätten spontan beschlossen, ihm zu helfen.
Sie hätten Kleider und warme Decken für ihn gesammelt. Jetzt wo der Winter käme, könne er diese Geschenke sicherlich gut gebrauchen. Kurt hätte die Tür am liebsten sofort wieder geschlossen. Aber die Warnung seines Freundes fiel ihm ein. Karl kannte die Menschen, er hatte sicherlich recht. Außerdem wollte er die Kinder nicht enttäuschen. Sie hatten es ja gut gemeint. Also bat er die ganze Schulklasse herein, bevor sie ihm den Garten noch mehr zertrampeln würden. Er bedankte sich für die Geschenke, besonders für den kleinen Weihnachtsbären, der ihm an langen Winterabenden Gesellschaft leisten sollte. Er bot den Kindern Tee und seine letzten Äpfel an. Sie griffen herzhaft zu. Vertilgten seinen gesamten Vorrat an Trockenpflaumen und machten sich schließlich gestärkt an Leib und Seele singend und Laterne schwenkend auf den Heimweg:
Er blieb zurück und betrachtete mit einem mulmigen Gefühl die Schneepfützen auf dem Boden.
„Was, wenn das erst der Anfang war?“
Und es war erst der Anfang.
Die Menschen hatten ihn zum Mittelpunkt ihrer vorweihnachtlichen Wohltätigkeit auserwählt. Jeder Verein im Ort fand einen Grund, ihn in seine weihnachtlichen Aktivitäten einzuschließen. Am 1. Advent veranstaltete der Gesangsverein ein Adventsingen mit Glühwein und Plätzchen vor seiner Hütte. Am schlimmsten war der 2. Advent, als ihn morgens ein festliches Trompetensolo aus dem Schlaf riss und er lange warten musste, bis seine Wohltäter wieder abgezogen waren. Was hätten sie gesagt, wenn er einfach so, vor ihren Augen im Wald verschwunden wäre. Er hatte nie in Erwägung gezogen, seine Hütte mit einer Toilette auszustatten. Im Wald war schließlich Platz genug. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendeiner vor seiner Hütte stand. Die Menschen wollten ihm zeigen, dass sie gerade Weihnachten auch ihn in ihre Gemeinschaft einbezogen. Die Messdiener schickten eine Delegation. Sie hatten Plätzchen nach der Messe angeboten und ihm von den Spenden eine elektrische Heizdecke gekauft, die sie ihm feierlich überreichten. Er fragte sie nicht, woher er den zusätzlichen Strom für die Decke nehmen sollte. Er erinnerte sich an die Warnung des Wirtes. Tatsächlich machte ihm die Wohltätigkeit der Menschen Angst. Was versprachen sie sich davon? Und was würde passieren, wenn sie das Erhoffte nicht bekämen?
Er war noch einmal in seiner Stammkneipe gewesen. Das Postamt hatte ihn angerufen und ihn gebeten, seine „Fanpost“ abzuholen.
Danach war er auf ein Bier in seine Kneipe gegangen. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen; und er war ziemlich frustriert. Deshalb bleib es nicht bei einem Bier. Er konnte die eisigen Blicke der Menschen in seinem Rücken spüren. Sie flüsterten über ihn. Laut genug, dass er jedes Wort verstehen konnte.
„Wie kommt der dazu, das wenige Geld, zu versaufen.“ „Undankbar!“ „Penner!“ „Schmarotzer!“
„Tut mir wirklich leid für Dich“, flüsterte Karl ihm zu.
„Aber du solltest besser gehen.“
Da bezahlte er und ging.
Drei Tage später stand die Frau vom Gesundheitsamt vor seiner Hütte. Sie hätte da so Einiges gehört. Er solle sie jetzt nicht falsch verstehen, aber sie sei von Amts wegen verpflichtet, den Dingen nachzugehen. Es sei ja schon seltsam, dass er da so alleine wohne. Und eigentlich sei eine Hütte im Wald ja nicht zum Wohnen gedacht. Besonders im Winter. Und die Leute meinten, er würde sich irgendwie merkwürdig benehmen. Auch das Grab seiner Frau sei so ungepflegt. Ob sie einmal hereinkommen dürfte.
„Nein!“, sagte Kurt und schlug der Frau die Tür vor der Nase zu.
Er wartete, bis sie weg war. Dann zog er seine Stiefel an und ging zur Bank.
Nur eine Woche später war er wieder in der Kneipe.
„Ich wollte noch ein letztes Bier mit dir trinken“, sagte er zu Karl.
„Ab morgen ist die Hütte leer. Ich ziehe aus. Ich habe eine Eigentumswohnung in der Stadt gekauft. Möbliert. Weißt du, letzte Woche haben sie im Fernsehen gemeldet, dass ein Mann in seiner Wohnung in der Stadt gestorben ist. Kein Mensch hat das bemerkt. Erst als der Gestank aus der Wohnung nicht mehr zu ertragen war, haben sie ihn gefunden. Hat mir irgendwie gefallen.“
Kurt bezahlte sein Bier, trank aus und ging ein letztes Mal durch den winterlichen Wald zu seiner Hütte.