wenn …dann

Ich weiß, ich mache alles richtig. So etwas muss gewissenhaft überlegt sein. Als sie ging, bin ich aufgestanden und rief im Büro an. Ich nahm mir für den ganzen Tag frei. Mein Chef war  nicht einverstanden. Urlaub! Eine Stunde vor Arbeitsbeginn!  Ich bot ihm an, unbezahlten Urlaub zu nehmen. Und ich fügte erklärend hinzu, dass ich auf keinen Fall ins Büro kommen könne, dass ich wichtige Dinge zu entscheiden hätte und den ganzen Tag bräuchte, um darüber nachzudenken. Ich merkte, dass er mir nicht glaubte, aber es war mir egal. Sollte er mir kündigen! Ab morgen würde ich ohnehin nicht mehr zur Arbeit gehen – wenn ich heute die richtigen Entscheidungen traf. Aber dafür brauchte ich Zeit. Und eine Idee, wie ich systematisch und organisiert an die Sache herangehen konnte. Papier und Bleistift brauchte ich. Viel Papier! Und einen Radiergummi. Ich würde alles in Listen eintragen und dann meine Entscheidung treffen. Aber so einfach war das nicht mit den Listen. Der Inhalt meiner Listen sollte besser schon sortiert aufgelistet werden. Am besten wäre es, mir zuerst  Überschriften für die Listen zu überlegen. Und eine Negativliste musste ich anlegen. Darin würde alles stehen, was auf keinen Fall in den Listen auftauchen dürfte. Jeden einzelnen Punkt auf meinen Listen müsste ich, nachdem ich ihn aufgelistet hätte, genau abwägen. Ich würde alle Folgen, die kurzfristigen und die langfristigen, bedenken und dann die einzelnen Punkte gewichten. Ich beschloss, mir zunächst ein Bewertungssystem zu überlegen. Objektiv müsste es sein und weitsichtig. Auf keinen Fall dürfte ich die Auswirkungen zu kurzfristig beurteilen. Aber wie aussagekräftig wären langfristige Prognosen? Nur drei Punkte dürften auf meinen Listen nachher übrig sein. Diese drei Punkte müssten alles Positive umfassen und gleichzeitig alles Negative ausschließen. Nicht nur für mich, für alle! Mir war klar, dass die Zukunft der Menschheit,  unseres Planeten, sogar des Universums von diesen drei Punkten auf meinen Listen abhängen würde. Mächtig viel Verantwortung! Versteht ihr jetzt, warum ich an diesem Tage nicht zur Arbeit gehen konnte? Und ein falscher Satz, eine unbedachte Äußerung, und die Chance wäre vertan oder schlimmer: die Konsequenzen dieses Satzes könnten verheerend sein. Man kennt das doch, es gibt genügend Geschichten darüber. Sie sollten zur Warnung dienen. Und klar machen, dass man diese Aufgabe nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Nun, ich war schon immer ein besonders verantwortungsvoller Mensch gewesen. „Krämerseele“ hatte meine Frau mich genannt, bevor sie ging. Aber diese gewissenhafte  Krämerseele war es, die auserwählt wurde. Sie war zu mir gekommen! Ganz sicher, weil sie wusste, dass ich ihr Angebot sehr ernst nehmen und diese einmalige Chance nicht durch ein paar unbedachte Sätze versauen würde. Sie vertraute mir. Wenn nur mehr Zeit zum Überlegen wäre. Mehr Zeit zum Auflisten und Abwägen. Plötzlich wusste ich, was der erste von den drei Punkten auf meiner Liste sein musste: Mehr Zeit!  –  um die nächsten beiden Punkte mit all ihren Konsequenzen, allen Vor- und Nachteilen, auch im Hinblick auf viele Jahre im Voraus, zu formulieren, zu bedenken und schließlich zu bewerten. Mehr Zeit!  – Das war das Ergebnis eines ganzen Tages des Nachdenkens und Auflistens. Sie kam am frühen Morgen des nächsten Tages, und ich  präsentierte ihr mein Ergebnis. Kurz nachdem sie gegangen war, rief mein Chef an und meinte, weil ich gestern nicht zur Arbeit gekommen wäre, sei ein wichtiger Geschäftsabschluss danebengegangen. Er hätte sich entschieden, in Zukunft auf meine Arbeitskraft zu verzichten. Ich war erstaunt, wie schnell und mühelos sich die Dinge entwickelten. Aber eigentlich hatte ich nie daran gezweifelt. Nun hatte ich genügend Zeit, alles aufzulisten, zu bewerten und abzuwägen. Als erstes ging ich mir noch mehr Blöcke und Bleistifte und Radiergummis kaufen. Dann begann ich mit einer Liste, in die ich die Überschriften der Listen auflistete, und ich begann, ein Bewertungschema zu entwickeln. Ich kam gut voran und merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Aber ich hatte ja genug davon. Ich aß und schlief, ging kurz zum Einkaufen und arbeitete an meinen Listen. Irgendwann kamen Leute und wollten wissen, was genau ich da täte. Ich erklärte es ihnen. Sie meinten, ich müsste umziehen, weil ich die Miete schon lange nicht mehr bezahlt hätte. Ich zog um. Meine Listen durfte ich mitnehmen. Einmal ging mir das Papier aus, da habe ich meine Listen auf die Tapete geschrieben. Ich solle Bescheid sagen, wenn ich mehr Papier bräuchte, haben sie dann gemeint. Ich bekomme Papier, Bleistifte, etwas zum Essen und sie waschen meine Wäsche. Sie haben verstanden, dass ich mich vollkommen meinen Listen widmen muss. Sie wissen um die große Verantwortung, die ich auf mich genommen habe. Ich werde diese Aufgabe gewissenhaft zu Ende bringen.

Und dann wird sie wieder kommen und mich nach den beiden anderen Wünschen fragen.

Dieses Foto einer toten Fliege

Dieses Foto einer toten Fliege (von Evi Vogtel) und der Bildtitel „Pastelltot“ haben zu einer Krimi-Idee geführt, die als Roman „Kalte Rache“ zunächst bei bei Thalia in „Exklusive eBooks“ veröffentlicht wurde und jetzt bei dotbooks erschienen ist.
So viel sei verraten: In meinem Kriminalroman erscheint nicht eine einzige tote Fliege …

Kalte Rache – bei dotbooks

 

Manchmal ändern sich unsere Ansichten, wenn wir genauer hinsehen.