Angeln verboten
Schwimmen verboten
Weltuntergang
Morgenkaffee.
Tageszeitung.
Alles okay.
Anscheinend hat der Weltuntergang gestern nicht stattgefunden.
Oder vielleicht doch?
Vielleicht haben sie alle recht.
Die Propheten, die Mayas, Nostradamus.
Es sind schon viele Welten untergegangen.
Immer geht irgendwo
für irgendwen
die Welt
unter.
Vielleicht sind unsere Alpträume und Ängste
ein Echo dieser Weltuntergänge.
Tegel
Tegel ist laut.
Das allgegenwärtige Donnern der Düsenjets.
Ein Werktag. Geräuschvolle Alltagsbeschäftigungen. Hämmern. Sägen. Leere Glasflaschen werden umgeräumt. Telefonate geführt. „ Nein – ja – alles klar – bis dann“. Zwei Nachbarn streiten auf offener Straße. Ihr Streit hat Tradition. Da ist von gestern, vorgestern, letzter Woche die Rede.
Motorboote auf dem Tegeler See.
Tore fallen scheppernd ins Schloss. Türen werden geschlossen, Autos gestartet. Kisten polternd ausgeräumt. Das Holpern der Lastwagen auf dem Kopfsteinpflaster. Ein Auto mit leerem Bootsanhänger erinnert an ein Pferdegespann. Die Fahrräder haben es nicht leicht auf dem groben Pflaster.
Wieder ein Flugzeug. Die Hotelgäste auf dem Flur unterhalten sich. Zimmertüren fallen ins Schloss. Mein Hund knurrt leise. Er hat das Hotelpersonal gehört. Eine fremde Sprache. Routinearbeiten: Putzen, Staubsaugen, Lüften.
Wieder ein Flugzeug. Und Vogelgezwitscher. Fiepen, Schnattern, Rufen, Trällern. Der Nymphensittich auf dem Balkon nebenan fordert Gesellschaft. Der Wind in den Blättern erinnert an einsetzenden Landregen.
Wieder ein Flugzeug. Gibt es einen Unterschied zwischen startenden und landenden Maschinen?
Während ich auf die nächste warte, lullt Tegel mich ein.
Die Geräusche zerfließen, laufen ineinander. Ein Aquarell aus Klängen.
Dazwischen wie bunte Farbtupfer: die startenden und landenden Jets.
Fensterblicke
Die große Pinnwand ist mit einer Weltkarte bedruckt. Meine Kinder haben sie mir vererbt. Diese Weltkarte ist eines der Fenster in dem kleinen Schreibzimmer unter dem Dach.
Ein Blick auf die ganze Welt.
Nur drei Notizen hängen an dieser Pinnwand. Ich wollte die Weltkarte nicht mit Zetteln zuhängen.
Ein Foto zeigt die schwarze Silhouette eines fliegenden Vogels vor dem blauen, wolkenlosen Himmel. Man erkennt die Gattung nicht, aber ich weiß, es ist eine Möwe. Sie hat mir einen Vormittag lang Gesellschaft geleistet, damals in Holland. Ich habe ein Zitat von Dürrenmatt dazu geschrieben: „Die Wirklichkeit ist nur ein Teil des Möglichen.“
Dies ist mein zweites Fenster, mein zweiter, mein anderer Blick auf die Welt.
Und noch ein Foto habe ich unten in den Südpazifik gepinnt, wo es nichts verdecken kann. Schwarzweiß. Die Vergrößerung eines Bildausschnittes. Grobkörnig. Verschwommen. Ein Stilleben. Es zeigt den Teil einer Küchenkommode aus den 50ger Jahren, darauf eine Tasse, ein Glas, ein Geschirrhandtuch und eine zusammenfaltete Zeitung. Auch dieses Foto habe ich beschriftet: „Was bleibt?“
Mein drittes Fenster, mein Blick in die Vergangenheit.
Und mehr: „Was bleibt“ ist auch der Titel eines Liedes. Immer, wenn ich diese beiden Worte lese, höre ich seine Melodie, erinnere ich mich an seinen Text, öffnet sich für mich ein weiteres Fenster: Das Fenster zu den Liedern eines Liedermachers, dessen Texte mich seit mehr als 20 Jahren begleiten.
Wenn ich von der Pinnwand aufblicke, sehe ich mein liebstes Fenster. Das große Dachfenster mit dem Blick auf den niemals gleichen Himmel. Ich habe es, wie fast immer, einen Spalt geöffnet. Ich mag den geschäftigen Lärm, die Stimmen der spielenden Kinder, das Vogelgezwitscher, das leise stetige Rauschen der Autobahn bei Ostwind, das leise Dröhnen der Baumaschinen vom nahen Industriegebiet, das Brummen des Rasenmähers meines Nachbarn. Der Wind trägt den herben Duft des frischgemähten Grases zu mir nach oben. Und noch etwas liegt in der Luft: jemand kocht ein deftiges Mittagessen. Es riecht nach gebratenen Zwiebeln. Eine gute Idee! Es wird Zeit.
Bevor ich meine kleine Schreibkammer verlasse, noch ein kurzer Blick auf die dritte Notiz an der Pinnwand: ein Din A 4 Blatt: die Kopie eines illustrierten Gedichtes von Wilhelm Busch „Der fliegende Frosch.“ Eine sanfte Mahnung.
Das Opfer
„Er hat sich für uns geopfert.“
„Wir dürfen das nie vergessen.“
Es schien, als würde eine unbestimmte Brise die Blätter aller Bäume des Waldes im gleichen Rhythmus bewegen. Es schien, als ginge ein großes, einziges Zittern durch den Wald. Der Boden vibrierte, als würde sich das Echo des Aufpralls durch das gesamte Erdreich fortsetzen.
„Zwei von ihnen hat er getötet.“
„Aber das wird sie nicht aufhalten.“
„Es werden andere kommen.“
Sie hatten die Eindringlinge schon von weitem gehört. Ihren widerlichen Gestank gerochen. Die Schreie der Kleinen waren kaum zu ertragen. Kaltherzig, rücksichtslos getötet, nur weil sie im Weg waren.
„Die Taten einzelner reichen nicht aus.“
„Wir müssen handeln.“
„Gemeinsam.“
„Endgültig.“
Tödlicher Unfall bei Waldarbeiten wirft Fragen auf
Pressemitteilung vom 31.09.2013 – 13:55 Uhr
HARVESTER, Landkreis WILDACHE. Ein umstürzender Baum tötet zwei Waldarbeiter.
Die Waldarbeiter hielten sich am frühen Nachmittag in einen Waldgrundstück bei Wildache auf, als die Eiche umfiel und zwei von ihnen unter sich begrub. Der alarmierte Notarzt konnte bei Eintreffen am Unfallort nur noch den Tod der Männer feststellen.
Der Kriminaldauerdienst der Kripo Wildache hat weitere Ermittlungen aufgenommen. Bisher konnte nicht geklärt werden, warum der offensichtlich gesunde Baum ohne äußere Einflüsse den Halt verlor und auf die beiden Waldarbeiter stürzte. Die beiden Männer waren mit Baumfällarbeiten mit schwerem Gerät in der Nähe der Unglücksstelle beschäftigt gewesen und hatten gerade Pause gemacht.
Pressekommentar
Die Rache des Waldes?
Erstaunlich ist, dass die Zahl der tödlich verunglückten Waldarbeiter in den letzten Jahren trotz umfassender Arbeitsschutzmaßnahmen kontinuierlich steigt. Mittlerweile gehört der Beruf des Waldarbeiters laut Statistik zu den gefährlichsten Berufen der Welt.
Viele belächeln sogenannte Verschwörungstheorien, die behaupten, der Wald räche sich für die Abholzung und einzelne Bäume opferten sich wie Selbstmordattentäter, um die unerwünschten Eindringlinge zu vernichten.
Aber neue Forschungsergebnisse in der Neurobiologie über die Intelligenz und Sinneswahrnehmung der Pflanzen machen zumindest nachdenklich.
Dialog, Pressemitteilung und Pressekommentar entstammen der Fantasie des Autors.
Die Fantasie des Autors wurde allerdings von einem interessanten Artikel in der Zeitschrift PM angeregt. Lest ihn, ihr werdet überrascht sein!
P.M. Magazin, Welt des Wissens , Ausgabe 03/2013 „Wenn Pflanzen zurückschlagen“
Alle Jahre wieder
Alle Jahre wieder ziehen die selbsternannten Retter des wahren Schoko-Bischofs mit gespitzten Krummstäben, Mitra-behütet in einen edel-bitteren Glaubenskrieg.
Alle Jahre wieder werden Zonengebiete ausgerufen, die kompromisslos von Weihnachtsmännern frei zu halten sind.
Getreu dem Motto: „Es kann nur einen geben“, soll er, einzig aufgrund seiner Herkunft, aus den Kinderzimmern vertrieben, von den Gabentellern verbannt und am besten direkt an der Weihnachtsgrenze zur Umkehr gezwungen werden.
Alle Jahre wieder wird uns die Weihnachtsmann-Apokalypse prophezeit, wenn wir weiter unreflektiert Schoko-Nikoläuse im falschen Dress kaufen, um unseren Lieben eine Freude zu machen.
Wie kann ein Nikolausabend mit gemütlichem Beisammensein, mit Gesang und Bratäpfeln gelingen, wenn der Schoko-Nikolaus die falsche Mütze auf hat?
Wie können wir unseren Kindern glaubhaft von der Freigiebigkeit und Großzügigkeit des Hl. Nikolaus berichten, wenn unser Weihnachtsmann zwar einen Sack mit den Gaben auf dem Rücken trägt, aber keinen Bischofsstab vorweisen kann? Wie können wir am Nikolausabend die spontane Freude unserer Kinder genießen ohne sie darüber aufgeklärt zu haben, dass der Weihnachtsmann bei uns nichts verloren hat, dass man ihn ausweisen muss, weil er nach Amerika gehört, weil die ihn schließlich erfunden und auf unheimliche Weise in riesigen Trucks bei uns einschleust haben …
damit er …. was genau macht? Die Kinder beschenkt? … Freunde bei einer Feier zusammen führt? … Gedichte aufsagen lässt? … sich Lieder anhört? …. Freude bringt? … menschliche Wärme schenkt?…
Nikolaus, Bischof von Myra wird als großzügig und tolerant dargestellt. Dass die Legenden um den Hl. Nikolaus nicht allein den Bischof von Myra beschreiben, sondern auch einem Abt aus dem Kloster zu Myra zugeschrieben werden, hat die Fangemeinde bisher nie gestört.
Was würden die Beiden wohl zum Weihnachtsmann sagen?
„Kollege ?“
Canis lupus
Canis lupus:
Wolf, Raubtier, das sehr stark einem deutschen Schäferhund ähnelt, aber einen dickeren Kopf und stets aufrecht stehende Ohren besitzt. Lebt im Sommer einzeln oder höchstens zu zweit, im Herbst und Winter in Rudeln, die Wild- und Haustiere reißen.
Obwohl in zahlreichen Schauermärchen immer wieder beschrieben wird, wie Wolfsrudel grausam Menschen überfallen und töten, steht heute fest, dass Wölfe normalerweise keine Menschen angreifen. Die Seltenheit solcher Vorfälle beruht wahrscheinlich auf der Tatsache, dass Menschen nicht die Reizmuster auslösen, die einen Wolf angreifen lassen.
Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll.
Vielleicht damit, dass mir diese Geschichte ohnehin keiner glauben wird. Zumindest das, was hinter den Ereignissen steht, ist so phantastisch, dass es mir niemand glauben wird. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es mir heute selbst noch glaube.
Damals, vor fast fünf Jahren, schien mir alles wirklich, absolut glaubhaft und – grauenvoll.
Heute, so habe ich beschlossen, werde ich mich auf die Darstellung der Ereignisse beschränken. Mag jeder aus dem Beschriebenen seine eigenen Schlüsse ziehen.
I
Die Geschichte begann mit dem Cover einer Schallplatte, die mir ein Freund zum Überspielen ausgeliehen hatte. Weder an die Gruppe noch an den Titel der LP kann ich mich noch erinnern. Ich hatte mir die Platte noch nicht einmal überspielt. Ich gab sie irgendwann zurück und vergaß sie. Nur das Bild auf der Schallplatte blieb mir in Erinnerung. Eine Erinnerung, die allmählich so stark und gegenwärtig wurde, dass ich beschloss, mir das Cover noch einmal genauer anzusehen. Ich wollte heraus finden, was mich an diesem Bild so beeindruckt hatte, dass ich es, auch nach Monaten, noch ständig in Gedanken mit mir herum trug.
Wie gesagt, den Titel der LP hatte ich vergessen. Und der Freund, der mir die Platte ausgeliehen hatte, war seit Wochen in Indien unterwegs. Er hatte gerade sein Studium abgeschlossen und gönnte sich einen ganzjährigen Erholungs- und Erfahrungsurlaub.
Auch in den Schallplattenläden, die ich durchstöberte, konnte ich die Platte nicht finden. Sie war wohl schon älter und wurde nicht mehr im Programm geführt. Schließlich gab ich die Suche auf.
Aber die Erinnerung an das Bild blieb. Ich sah dieses Schallplattencover so deutlich vor mir, dass ich eines Tages beschloss, das Bild zu malen.
Eigentlich konnte ich gar nicht malen. Zumindest hatte ich es noch nie versucht. Und so war ich überrascht, als die Skizze, die ich da mit Bleistift auf ein loses Blatt Papier strichelte, dem Bild, das ich vor Augen hatte, immer ähnlicher wurde. Es war fast unheimlich, wie sehr die fertige Zeichnung dem Bild auf dem Schallplattencover glich und wie lebendig der Wolf wirkte.
Ja, es war das Bild eines Wolfes, das mich in seinen Bann gezogen hatte. Ein großer, grau-schwarzer Wolf war es. Unter einem nächtlichen, wolkenverhangenen Himmel stand der Wolf mit den Vorderbeinen reglos auf einem Felsblock. Der Wolf schien auf etwas, das unmittelbar vor ihm sein musste, zu lauern. Ich hatte das Düstere und Unheimliche dieser Szene in meiner Zeichnung so eindrucksvoll wiedergegeben, dass mich Freunde, denen ich mein Bild zeigte, erstaunt fragten, welchen finsteren Gedanken ich wohl zeitweilig nachhing, die mich zu solchen Bildern veranlassen würden.
Objektiv wusste ich, dass dieses Bild bedrohlich wirkte.
Jeder würde eine solche Szene als gespenstisch beschreiben.
Und doch – meine Empfindung dieser Zeichnung gegenüber war eine andere: Es war ein Wiederfinden, als hätte ich mit dieser Zeichnung etwas seit langer Zeit Verlorenes, aber immer noch Vertrautes, wiedergefunden.
Ich war zufrieden mit meiner Zeichnung. Und es verging wohl kein Tag, an dem ich sie nicht hervor holte und betrachtete.
Der Wolf wurde mein ständiger Begleiter, ein immer gegenwärtiger Teil meiner Gedanken.
II
Trotzdem war ich überrascht, als ich ihn eines Tages tatsächlich sah. Eigentlich war das, was ich da sah, überhaupt nicht möglich. Ein leibhaftiger Wolf, frei, in unserer Gegend ? Das konnte nicht sein. Wäre dieses Tier irgendwo ausgebrochen und liefe nun frei herum, hätte ich sicherlich davon gehört. Und doch, ich bin bis heute noch absolut sicher, dass das Tier, das ich damals auf dem Autobahndamm sah, ein Wolf war – der lebendig gewordene Wolf meiner Zeichnung.
Es dämmerte schon, als er plötzlich links von mir, weniger als hundert Meter entfernt, auf dem Damm auftauchte. Ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte, wie leicht dieses große, schwere Tier mit der Geschwindigkeit meines Wagens Schritt hielt.
Der Wolf begleitete mich fast einen Kilometer weit und verschwand dann.
Zugegeben – ich hatte mich lange und intensiv mit dem Wolf auf der Zeichnung beschäftigt. Wen würde es da wundern, wenn meine Phantasie aus einem ungewöhnlich großen, grauen Hund einen Wolf, meinen Wolf, machte. Aber ich wusste: Es war mein Wolf. Und welcher große Hund hält mühelos über eine längere Strecke mit einem schnell fahrenden PKW Schritt.
Die nächsten Tage las ich die Tageszeitung mit besonderem Interesse. Aber nirgendwo war ein Wolf entlaufen und niemand hatte einen Hund gesehen, der auffällig einem Wolf glich. Und doch war ich sicher, dass ich mir das Ganze nicht nur eingebildet hatte.
Einige Wochen vergingen.
Ich dachte noch immer an den Wolf meiner Zeichnung, als mir das Tier zum zweiten Mal begegnete.
Dieses Mal war es auf einer Landstraße. Es war spät geworden bei meiner Arbeit im Büro, und ich freute mich auf mein Bett und das lange Ausschlafen am nächsten Morgen. Dann sah ich ihn. Zuerst bemerkte ich nur die Augen. Große, starre Augen in denen das Licht meiner Autoscheinwerfer reflektierte..Es hätten ebenso gut die Augen irgendeines anderen Tieres sein können. Aber ich fühlte, dass er es war. Ich fuhr langsam auf ihn zu, bereit, anzuhalten. Es stand ganz ruhig am Straßenrand und blickte mir entgegen. Die ganze Szene erschien mir unwirklich, obwohl ich wusste, dass er da war.
Unwirklich, phantastisch – das war das Gefühl, das ich in diesem Moment empfand. Phantastisch – aber nicht unheimlich. Ich hatte überhaupt keine Angst. Ich wollte anhalten, aussteigen, den Wolf, meinen Wolf anfassen und mir so endgültig beweisen, dass es ihn gab, dass es mehr war als ein Traum, eine Phantasie. Ich wusste, der Wolf würde nicht davon laufen.
Ich hielt unmittelbar neben ihm an. Der Wolf ließ mich nicht aus den Augen. Reglos stand er da und blickte mich an. Und wieder hatte ich das Gefühl des Wiederfindens, des Vertraut seins, als würden er und ich uns schon lange Zeit kennen.
Es mussten Minuten vergangen sein, während denen ich mitten in der Nacht allein im Auto auf der Landstraße hielt. Unmittelbar neben dem Wolf. Minuten, während denen ich ihn genauso fixierte wie er mich.
Dann bemerkte ich die Scheinwerfer im Rückspiegel. Der Wolf hatte sie auch bemerkt. Er wendete den Kopf in Richtung des herankommenden Wagens, knurrte leise und verschwand lautlos.
Ich fuhr nach Hause. Dort nahm ich die Zeichnung heraus und betrachtete sie lange.
Ich wusste, es war nicht meine letzte Begegnung mit ihm gewesen.
III
Schneller als erwartet traf ich ihn ein drittes Mal.
Wieder war es spät, bereits Nacht, als ich das Büro verließ. Aber ich war nicht allein. Zusammen mit einem Kollegen hatte ich stundenlang am PC gesessen. Ich war müde, nervös und ärgerlich, dass diese Arbeit mich so lange aufgehalten hatte. Gemeinsam mit dem Kollegen ging ich zum Parkplatz, der um diese Zeit nicht mehr beleuchtet war. Ich erschrak, als ich den Wolf unmittelbar neben mir bemerkte. Bisher war er nur gekommen, wenn ich alleine war. Zugegeben, ich konnte ihn in der Dunkelheit nicht sehen, aber er war da, ganz sicher, ich spürte seine Nähe.
„Was hast du denn?“, fragte der Kollege, der mein Erschrecken bemerkt hatte.
„Ach, es war nichts“, erwiderte ich. „irgendein Vieh dort im Gebüsch. Wird wohl eine Hase oder so etwas gewesen sein.“
Ich wusste, ich konnte ihm nach mehr als 12 Stunden Arbeit am PC kaum klar machen, ich hätte einen Wolf gesehen. Eigentlich ging ihn mein Wolf auch überhaupt nichts an. Und – genau genommen – hatte ich den Wolf dieses Mal nicht gesehen – nur irgendwie geahnt.
Aber diese Ahnung war intensiver gewesen als die beiden letzten Begegnungen. Der Wolf war mir, für Sekunden nur, näher gewesen als jemals zuvor.
Zu Hause nahm ich erneut die Zeichnung hervor.
Sie war so realistisch, dass es schien, als könne der Wolf plötzlich das Bild verlassen und lebendig vor mir stehen.
Hatte ich dieses Bild wirklich gemalt?
Hatte ich es so gemalt?
Mir schien, als verändere sich das Bild. Als würde es mehr und mehr Wirklichkeit.
Jedes Mal, wenn ich es heraus nahm und betrachtete, schien es ein bisschen mehr wirklich.
Jedes Mal ein bisschen mehr.
Jedes Mal immer mehr – bis …
Ja … bis was eigentlich?
Was würde geschehen?
„Wer bist du?“ fragte ich den Wolf auf meiner Zeichnung.
„Wie soll das weiter gehen? Was willst du von mir? Was verbindet und beide? Dich und mich.“
Doch der Wolf auf meiner Zeichnung blieb stumm. Immer noch mit den Vorderbeinen auf dem Felsblock stehend, schien er auf etwas zu lauschen … und blickte mich an.
Erschrocken starrte ich in die Augen meines Wolfes. War die Zeichnung schon immer so gewesen? Hatte mich der Wolf schon immer angeblickt? Oder hatte sich die Zeichnung tatsächlich verändert?
Unmöglich!
Jetzt ging tatsächlich meine Phantasie mit mir durch!
Was sollte das Ganze eigentlich?
Eine Zeichnung, die sich veränderte. Ein Wolf mitten in einer dicht besiedelten Gegend, in der es schon seit Jahrzehnten keine Wölfe mehr gab. Ein Wolf, den zudem außer mir niemand sah.
Unsinn!
Entschlossen zog ich die Schublade auf, legte die Zeichnung unter einen Stapel Schmierpapier und schwor mir, sie nie mehr hervor zu nehmen.
Schön, das Bild des Wolfes hatte mich irgendwie fasziniert. Soweit gut. Aber ich würde ihm nicht mehr erlauben, weiter den größten Teil meiner Gedanken einzunehmen. Schluss damit !
So bemühte ich mich also, die Zeichnung und den Wolf aus meinen Gedanken zu verdrängen.
IV
Und es gelang mir ganz gut.
Nach einigen Wochen war der Wolf fast vergessen.
Ich hatte meine Stelle gekündigt und war gemeinsam mit meinem Mann in ein großes, altes Haus weit außerhalb der Stadt gezogen. Das Haus lag ziemlich einsam, und ich war oft alleine, da mein Mann erst spät abends von der Arbeit nach Hause kam.
Aber mir machte die Einsamkeit nichts aus. Ich hatte keine Angst vor dem Alleinsein und zudem sorgten das Haus, das immer noch nicht vollständig eingerichtet war, und der verwilderte Garten, den ich wieder in Ordnung bringen wollte, für genügend Zeitvertreib. Außerdem war ich nicht ganz alleine: Eine kleine, schwarz-weiße Katze, die uns wenige Tage nach dem Einzug zugelaufen war, leistete mir Gesellschaft.
Die Zeichnung mit dem Wolf hatte ich seit dem Umzug nur noch einmal in der Hand gehabt. Ich fand sie unter einem Stapel Papier als ich mein Arbeitszimmer einräumte.
Nichts hatte sich verändert. Da waren immer noch die gleiche Faszination und die gleiche Vertrautheit wie vor Wochen. Aber ich wollte das Spiel nicht wieder beginnen und legte sie deshalb gemeinsam mit dem Papier in die unterste Schublade meines Schreibtisches.
In den nächsten Tagen überlegte ich, ob wir uns nicht vielleicht einen Hund anschaffen sollten. Die Gegend war doch sehr einsam. Aber eigentlich mochte ich Katzen lieber.
Und dann geschah es.
Es war bereits Abend. Ich war alleine und ging gerade nach draußen um die Katze zu füttern, als der Mann plötzlich auftauchte.
Ich spürte sofort die Gefahr, obwohl er noch kein Wort zu mir gesagt hatte. Offensichtlich wusste er, dass außer mir niemand im Haus war, denn er bewegte sich selbstsicher und ohne jede Vorsicht auf mich zu.
‚Wahrscheinlich will er nur Geld’, ging es mir durch den Kopf, aber gleichzeitig bemerkte ich, dass er noch nicht einmal eine Maske trug.
„Wenn du dich ruhig verhältst, passiert dir nichts … fast nichts.“ Der Mann stand nun grinsend vor mir.
Mir kam das Ganze absolut unwirklich vor. Wie eine Szene aus einem zweitklassigen Kriminalfilm. Wie ein Zuschauer betrachtete ich alles. Ich wusste, dass der Mann log und erkannte die Gefahr, in der ich mich befand.
Aber diese Gefahr erschien mir so unwirklich, dass ich keine Angst hatte.
‚Das passiert gar nicht wirklich‘, ging es mir durch den Kopf. Gleichzeitig war ich fest entschlossen, den Mann, der immer noch unmittelbar vor mir stand, auf keinen Fall ins Haus zu lassen.
„Nun mach schon! Geh rein!“ schrie mich der Mann an und war im Begriff, mich grob zur Tür zu schieben.
In diesem Moment sprang ihn die kleine Katze, die zum Fressen gekommen war, mit einem wütenden Fauchen an. Fluchend packte der Mann die Katze und schleuderte sie gegen die Hauswand. Die Katze kreischte vor Schmerzen. Dieses entsetzliche Kreischen, das Kreischen der kleinen Katze, die so mutig ihr Zuhause verteidigt hatte, brachte mich in die Realität zurück.
Die Szene würde plötzlich wirklich und noch nie in meinem Leben hatte ich auf einen Menschen einen solchen Hass empfunden wie auf diesen Mann. Ich stand ihm gegenüber, bereit, ihn anzugreifen, ihn anzuspringen, genau, wie es meine Katze getan hatte. Ich wollte ihn töten und ich wusste, mein Hass würde ausreichen, ihn zu töten.
Ich spürte, wie sich meine Muskeln anspannten, wie ich Kraft sammelte, mich bereit machte … und dann … spürte ich noch etwas anderes. Er war wieder da, der Wolf. Unmittelbar neben mir, von den Sträuchern verdeckt, stand der Wolf. Ich wusste, er stand da, er lauerte, die Augen starr auf den Mann gerichtet und, genau wie ich, zum Angriff bereit. Ich konnte ihn spüren, ihn riechen und ich hörte sein leises, drohendes Knurren. Gespannt stand er da, genauso, wie ich ihn gezeichnet hatte, ich sah nicht zu ihm hin, aber ich wusste es und ich wusste auch, dass er seinen Kopf jetzt mir zu wandte, als erwarte er meinen Befehl.
In diesem Moment wich der Mann vor mir zurück. Er musste das Knurren also auch gehört haben. Sah er den Wolf? Nein, er konnte ihn gar nicht sehen, denn er starrte unentwegt nur mich an. Sein Gesicht war kreideweiß. Er stolperte rückwärts und hob abwehrend die Arme.
„Nein, das ist … das kann nicht sein .. bitte … nein …“ stammelte er. Noch nie hatte ich solches Entsetzen im Gesicht eines Menschen gesehen. Der Mann schien wahnsinnig vor Angst.
Endlich kam er zu sich und floh in panischem Schrecken.
Ich hatte ihn keinen Moment aus den Augen gelassen. Erst jetzt wandte ich mich den Sträuchern neben mir zu. Aber ich wusste es bereits, der Wolf war verschwunden.
Das Ganze hatte keine zehn Minuten gedauert und wäre nicht die Katze gewesen, die ich behutsam versorgte, ich hätte alles für einen Traum gehalten.
Jetzt stand es zweifelsfrei fest: den Wolf, meinen Wolf, gab es wirklich. Es war keineswegs ein Geschöpf meiner Phantasie. Denn warum sonst wäre der Mann so entsetzt davon gerannt?
Aber wenn es wirklich der Wolf gewesen war, der ihn so erschrocken hatte, warum hatte er dann nicht ein einziges Mal zu dem Gebüsch hinüber geblickt? Er musste doch das Knurren gehört haben. Warum starrte er die ganze Zeit nur mich in panischer Angst an? Wieso lief er vor mir davon? Wieso nicht vor dem Wolf?
Aber ich war zu müde, um weiter darüber nach zu denken. Ich vergewisserte mich noch, dass alle Türen und Fenster verschlossen waren und ging dann zu Bett.
Zwei Tage später las ich es in der Zeitung:
Spaziergänger hatten die Leiche eines unbekannten Mannes in unmittelbarer Nähe unseres Hauses gefunden. Der Mann war durch Bisse eines vermutlich sehr großen Hundes tödlich verletzt worden. Der Hund war bisher von niemandem gesehen worden. Die Polizei riet zur Vorsicht, da es sich, nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, um ein extrem bösartiges Tier handeln müsse.
Dem Bericht folgte ein Kommentar des hiesigen Tierschutzbundes, der den Hund verteidigte und erklärte, es sei immer die Schuld der Menschen, wenn ein Hund so bösartig würde und die, die Mitarbeiter des Tierschutzbundes, würden alles versuchen, das Tier vor der Polizei zu finden und einzufangen.
Nachdem ich diese Berichte gelesen hatte, ging ich in mein Arbeitszimmer, öffnete die Schublade, nahm die Zeichnung heraus und verbrannte das Bild ohne es mir noch einmal anzusehen.
Dann wusch ich mir die Hände. Irgendein roter Kuli oder rote Tinte mussten in der Schublade ausgelaufen sein.
Und ich wusste, sie würden den Wolf, meinen Wolf, niemals finden.
Dream evil
I
Ich sollte mich erst einmal richtig erholen, haben sie gesagt. Mir Zeit lassen, mich entspannen, spazieren gehen. Erst müsse ich den Schock überwinden, dann käme auch die Erinnerung wieder.
Es wäre Notwehr gewesen, ohne jeden Zweifel. Mich träfe keine Schuld. Allenfalls könne man mir Leichtsinn vorwerfen, dass ich einem Fremden die Wohnungstür geöffnet hätte. Denn ich müsste ihn hereingelassen haben. Nichts deute auf einen Einbruch hin. Eigentlich erstaunlich, meinten sei, dass ich diesen Mann überwältigen konnte. Er sei mir körperlich weit überlegen gewesen. Es sei ein Wunder, dass ich selbst fast unverletzt blieb.
Die tiefen Kratzer und die Bisse im Gesicht, an meinen Händen und Armen müssten wohl von der Katze stammen. Vermutlich hätte ich versucht, das verstörte Tier einzufangen, ehe es davon lief.
Eigenartig, überlegten sie, dass man immer noch nicht herausgefunden habe, wer der Fremde sei und weshalb er Kleidung aus dem letzten Jahrhundert getragen habe. Vielleicht sei diese Kleidung Teil eines Tricks gewesen, um in die Wohnung zu kommen.
Aber darüber sollte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Wichtig sei erst einmal, dass ich absolute Ruhe hätte.
Seit einer Woche bin ich nun hier. Seit einer Woche erzählen sie mir immer wieder das Gleiche.
Dass ich mich entspannen sollte.
Dass ich etwas Entsetzliches erlebt hätte und ich mich unbewusst weigern würde, daran zurück zu denken.
Dass mit der Zeit die Erinnerung wieder käme und sie mir dann helfen könnten das Entsetzen zu überwinden.
Dass man im Moment erst einmal abwarten müsse.
Sie werden vergebens abwarten.
Ich werde mein Gedächtnis nicht wieder finden; ich hatte es nie verloren.
Ich erinnere mich an alles.
Ich weiß, wer der Mann war.
Ich werde ihn niemals vergessen.
Die ganze Geschichte werde ich niemals vergessen können.
Aber ich kann ihnen diese Geschichte nicht erzählen.
Sie würden mir ohnehin nicht glauben.
Sie würden nur weiterhin versuchen, mir zu helfen und mich hier festhalten.
Aber sie können mir nicht helfen.
II
Es begann an einem Dienstag.
Ich hatte ein paar Tage frei und stöberte durch die Buchhandlungen.
Schließlich betrat ich einen kleinen Buchladen, der in einer Seitengasse, abseits der großen Geschäftsstraßen im Erdgeschoß eines alten Gebäudes untergebracht war.
Der Laden musste neu sein.
Ich war oft in diesem Teil der Stadt gewesen und kannte die Gassen und dieses Haus, das seit Jahren leer stand.
Der Besitzer war mir sofort sympathisch. Ich hatte Zeit, war die einzige Kundin und begann eine Unterhaltung mit dem etwa fünfzigjährigen Mann.
Warum er seinen Laden abseits des eigentlichen Geschäftsviertels eröffnet habe, wollte ich wissen. Hier käme doch kaum jemand vorbei und er könne schwerlich einen ausreichenden Umsatz machen.
Der Mann gab mir Recht. Aber dieser Laden sei nur der Anfang, meinte er. Er habe das Haus gekauft und plane, es wieder zu dem zu machen, was es ursprünglich gewesen war.
„In diesem Haus“, erklärte er, „ war einmal die größte und interessanteste Bibliothek der ganzen Stadt untergebracht. Was sie hier sehen ist nur ein kleiner Teil des gesamten Gebäudes, einer von vier Leseräumen im Erdgeschoss. Die eigentliche Bibliothek befand sich im ersten Stock: eine große, helle Halle mit hohen Regalen, die vielen hundert Büchern Platz boten.“
Und der Ladenbesitzer erzählte, er habe vor eines Tages wieder eine solche Bibliothek einzurichten.
Ich war neugierig geworden und fragte, ob ich mir diese ehemalige Bibliothek einmal ansehen dürfte.
„Warum nicht? Hier ist im Moment ohnehin nichts zu tun“, antwortete der Mann und kramte in der Schublade nach dem Schlüssel.
„Aber viel zu sehen gibt’s da nicht. Nur leere, staubige Regale, keine Bücher und überhaupt nichts Geheimnisvolles.“
Gemeinsam stiegen wir die schmale Wendeltreppe hinauf. Der Mann wollte gerade die Tür aufschließen, als ein Kunde den Laden betrat.
„Kundschaft. Ich muss nach unten. Schauen sie sich ruhig alles an. Und schließen sie nachher die Tür wieder ab.“
Mit diesen Worten drückte er mir den Schlüssel in die Hand und ging in den Laden zurück.
Gespannt öffnete ich die Tür und betrat eine große, sonnendurchflutete Halle.
Der Ladenbesitzer hatte die ehemalige Bibliothek treffend beschrieben: nichts weiter als hohe, schwere Regale aus dunklem Holz, allesamt leer und mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Ich war enttäuscht. Irgendwie hatte ich etwas Besonderes erwartet.
Aber hier gab es tatsächlich nichts Geheimnisvolles, abgesehen vielleicht von der bedrückenden Stille und fast unheimlichen Leere des Raumes. Eigenartig, dachte ich, dass nicht einmal Geräusche von der Straße zu hören waren.
Die Stille war so vollkommen und endgültig, dass ich heftig erschrak, als ein leises Miauen sie durchbrach.
Eine Katze? Hier oben? Wohl kaum.
Ein zweites Miauen folgte.
Lauter dieses Mal und eindringlicher.
Ich ging um die alten Regale herum. Das Miauen führte mich.
Dann sah ich sie:
Eine ausgewachsene, graue Katze, ganz oben auf einem hohen Wandbord.
Wie die da wohl hingekommen war, überlegte ich. Auf jeden Fall schien sie sich nicht wieder herunter zu trauen.
„Na‘ du arme Kleine, wie lange hockst du denn schon da oben? Los, trau dich!“
Mit ausgestreckten Armen lockte ich die Katze. Ich musste ihr nicht lange zureden. Sie sprang sofort, als hätte sie auf mich gewartet.
Mit der Katze im Arm verließ ich die Bibliothek. Seltsam, dachte ich beim Hinuntergehen, dass sie ausgerechnet neben dem einzigen Buch saß, das es in dieser Bibliothek noch zu geben schien.
Ich brachte dem Ladenbesitzer den Schlüssel zurück und wollte ihm auch seine Katze überreichen, doch er meinte, er habe das Tier noch nie gesehen und wisse nicht, wie sie da oben hingekommen sei.
Also nahm ich die Katze mit nach draußen, hockte sie auf den Bürgersteig und machte mich mit den Worten „Los, du Unglücksvieh, lauf nach Hause!“, selbst auf den Heimweg.
Doch die Katze dachte überhaupt nicht daran, nach Hause zu laufen. Stattdessen folgte sie mir und stand schließlich vor meiner Haustür.
Ich konnte noch nie jemandem etwas energisch genug abschlagen, und so kam es, dass die Katze bei mir einzog.
III
In der Nacht träumte ich von dem Buch, das als einziges in der Bibliothek gestanden hatte.
Ich erwachte mit der Katze im Bett und dem brennenden Wunsch, mir dieses Buch anzusehen.
Warum auch nicht? Ich hatte Urlaub und genügend Zeit. Also ging ich wieder zu dem Buchladen, erklärte dem Besitzer die Sache mit dem Buch und bat ihn, mich noch einmal in die Bibliothek zu lassen. Bereitwillig überließ er mir den Schlüssel zum zweiten Mal.
Eilig stieg ich die Wendeltreppe hinauf, schloss die Tür auf, betrat die Halle, fand das hohe Wandregal und sogar eine altmodische Trittleiter und hielt schließlich das Buch in der Hand.
Titel und Autor waren mir unbekannt, also schlug ich erwartungsvoll den alten Einband auf.
In diesem Moment wusste ich, warum man das Buch zurückgelassen hatte. Es war wertlos. Mäuse hatten den größten Teil der Seiten zerfressen. Nicht einen Satz konnte ich noch vollständig lesen. Enttäuscht brachte ich das Buch nach unten. Der Buchhändler verstand meine Enttäuschung und riet mir, das Buch mitzunehmen und in einem Antiquariat nach einem zweiten Exemplar zu fragen.
Ich ließ kein Antiquariat der Stadt aus.
Überall das Gleiche: weder Titel, noch Autor, ja nicht einmal der Verlag waren bekannt.
Eigentlich, sagte man mir, dürfte es dieses Buch gar nicht geben.
Als ich endlich müde mit dem wertlosen Buch die Wohnung betrat, wurde ich von der Katze erwartet. Schnurrend strich sie um meine Beine.
Sonderbar, überlegte ich, sie schien sich für das Buch zu interessieren. Sie konnte es doch nicht wiedererkannt haben. Ich warf das Buch auf das Sofa und ging in die Küche, um mir etwas zu Essen zu machen.
Als ich zurück kam, lag die Katze schnurrend auf dem Sofa neben dem Buch. Ihre gelben Augen blickten mir erwartungsvoll entgegen.
IV
In dieser Nacht begann der Albtraum.
Am Morgen erwachte ich zerschlagen. Neben mir lag die Katze, hellwach. Sie schien mich zu beobachten.
Wahrscheinlich hat sie darauf gewartet, dass ich aufwache, sie wird Hunger haben, überlegte ich.
Der Tag verlief ereignislos und ich vergaß den Traum.
Doch in der nächsten Nacht und in allen folgenden Nächten :
immer wieder der gleiche Traum, immer wieder dieser Mann, der mich immer wieder bat, ihm zu helfen. Er habe noch etwas zu erledigen, dazu müsse er zurück kommen, ich müsse dies für ihn vorbereiten, es wäre möglich, zurück zu kommen, ich solle doch das Buch lesen, da stände alles drin.
Nacht für Nacht dieser Traum.
Nacht für Nacht der Mann.
Nacht für Nacht sein Bitten,
das immer eindringlicher wurde.
Und Morgen für Morgen die Katze in meinem Bett, jeden Morgen hellwach und mich erwartungsvoll fixierend.
Es ist die Katze, dachte ich schließlich.
Irgendetwas verbinde ich mit diesem Tier und dieses Etwas schleicht sich dann als Albtraum in meinen Schlaf.
Am folgenden Abend ließ ich die Katze in den Keller.
Bevor ich zu Bett ging, prüfte ich sorgfältig, ob die Kellertür fest verschlossen war und versperrte sogar das Schlafzimmer.
Doch der Albtraum kam auch in dieser Nacht.
Immer fordernder und bedrohlicher wurde der Mann.
Ich solle dieses Buch lesen, ich müsse ihm helfen, er habe keine Zeit mehr, wenn ich ihm nicht freiwillig helfen würde, dann …
Mein eigenes Schreien musste mich geweckt haben.
Es war mitten in der Nacht.
Neben mir lag wieder die Katze und schaute mich mit gelben Augen an.
„Wie bist du hier herein gekommen?“ schrie ich.
„Was willst du von mir? Ich kann das Buch nicht lesen! Es gibt da nichts mehr zu lesen! Siehst du das nicht ein, du blödes Vieh! Ich kann ihm nicht helfen!“
Ich schrie, bis ich heiser war.
Die Katze lag nur bewegungslos da und starrte mich an.
Endlich ahnte ich, dass ich diese Katze und mit ihr den Mann und diesen Traum niemals loswerden würde.
Egal, wohin ich sie bringen würde, die Katze käme immer wieder zu mir zurück.
Und dieser Albtraum, dieser Mann – er würde mich höchstens noch einmal bitten und dann …
Plötzlich wusste ich, was zu tun war. Mir blieb gar keine andere Wahl.
Entschlossen packte ich die Katze. Sie ahnte, was ich vor hatte und wand sich in meinen Händen.
Sie kratzte und biss, doch ich ließ sie nicht los.
Halb wahnsinnig vor Angst, getrieben von der Drohung meines Traumes, rannte ich zur Küche.
Die sich sträubende Katze mir einer Hand fest an mich gepresst öffnete ich die Küchenschublade.
Hier irgendwo musste ein Brotmesser liegen.
Ich hatte noch nie ein Tier töten können. Noch nicht einmal eine Spinne konnte ich zertreten. Aber dieses Mal musste ich es tun.
Ich presste die Katze mit der linken Hand fest auf den Küchenboden.
Sie wand sich, fauchte, kratzte und biss.
Ich schloss die Augen und stach zu, so lange, bis sich die Katze nicht mehr rührte.
V
Meine Freundin, die einen Schlüssel zur Wohnung hatte und nur einmal vorbei schauen wollte, fand mich am Morgen am Küchentisch sitzend.
Das blutige Messer noch immer in der Hand.
Wortlos starrte sie erst mich, dann den toten Mann auf dem Küchenboden an.
Schließlich benachrichtigte sie die Polizei und brachte mich in diese Klinik.
Heute Nachmittag hat sie mich besucht.
Sie hatte mir etwas mitgebracht. Das arme Tier wäre wohl die ganze Woche in der Wohnung gewesen, meinte sie. Eigentlich seltsam, sie habe es doch an jenem Tag gesucht und nirgends gefunden. Es müsse sich aus Angst wohl irgendwo versteckt haben.
Die graue Katze hat also wieder zu mir gefunden.
Schnurrend liegt sie auf meinen Knien.
Wir beide wissen, was heute Nacht passieren wird.