Der Weiher am Landheim

Man hat das Tor geschlossen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Schade. Eigentlich lief ich gerne durch den verwilderten Park. Es war schön, dem Pfad der Rehe bis zum Wasser zu folgen. Ich saß auf der alten Holzbank in der Sonne und blickte hinüber zu den Trauerweiden, die sich tief über das schwarze Wasser beugten. Ich konnte mir die Kinder vorstellen, die dort unter den Weiden im dunklen Schatten Verstecken spielten. Wie sie durch das Gras zum bunten Spielhaus liefen oder sich am Fuße der Rutsche stritten, wer die Leiter als erstes hinaufklettern durfte. Und ich stellte mir ihre Mütter vor, die die Kinder auf dem kleinen Karussell antrieben. Die Schaukeln hatte man abgehängt, und die Spielgeräte waren von Brombeerhecken überwuchert. Aber das große Entenhaus auf der Insel in der Mitte des Weihers wurde immer noch von Enten bewohnt. Ein alter, verwitterter Holzzaun umschloss den Weiher. Die kleine Pforte war geschlossen. Hier hatten die Kinder gestanden, mit ihrem Brot in den Händen, ungeduldig auf die Mütter wartend, die noch bei einer letzten Tasse Kaffee beim Frühstück hockten. Jedes Kind füttert gerne Enten. Ich hatte mir vorgenommen, beim nächsten Spaziergang auch Brot für die Enten mitzunehmen. Aber der Weg durch den Park zum Weiher ist jetzt versperrt. Vielleicht ist es besser so.
Der Park und der Weiher gehörten zu einem Müttergenesungsheim, das vor langer Zeit geschlossen wurde. Hierher kamen Mütter mit Kindern, die an schweren, chronischen Erkrankungen litten. Man wollte beiden, den Müttern und den Kindern einen Erholungsaufenthalt außerhalb der Stadt ermöglichen. Beide hatten diesen Aufenthalt dringend nötig. Ganz besonders aber die Mütter, die von der täglichen Sorge um ihre kranken Kinder körperlich und seelisch ausgebrannt waren.
Es begann kurz nach der feierlichen Eröffnung des Erholungsheimes.
Ein tragischer Unfall. Die kleine Lisa, fünf Jahre alt und von den zerstörerischen Nebenwirkungen einer Chemotherapie gezeichnet, war am späten Abend in den Weiher gefallen und ertrunken. Ein Unfalltod. Jedoch meinte man danach, man hätte den Weiher besser sichern müssen. Schließlich könnten die Mütter ihre Kinder nicht rund um die Uhr beaufsichtigen. So baute man den hölzernen Zaun um den Weiher. Der Zaun fügte sich harmonisch in das Gesamtbild des Parks ein. Nur noch eine kleine Pforte ermöglichte den Zutritt zum Weiher. Jemand hatte sie versehentlich aufgelassen, ein paar Wochen später, als der kleine Timmy nachts ertrank. Danach wurde die Tür so konstruiert, dass sie von selbst ins Schloss fiel und für kleine Kinderhände nicht mehr zu öffnen war. Aber Mariechen musste es eines späten Abends doch geschafft haben. Man fand sie am nächsten Morgen tot im Weiher. Drei unglückliche Todesfälle, allesamt Kinder, waren nicht die beste Werbung, die sich die Heimleitung für das Müttergenesungsheim wünschte. Und die Unfallserie sollte nicht abreißen. Nachdem vier weitere Kinder auf ähnliche, unerklärliche Weise nachts im dunklen Wasser ertrunken waren, erwog man, den unglückseligen Weiher zuzuschütten. Aber er war dann doch zu schön gelegen. Die alten Trauerweiden, deren Äste bis ins Wasser reichten, die kleine Insel in der Mitte, die gemütlichen Holzbänke, die wahlweise in der Sonne oder im Schatten der Weiden standen. Die Mütter liebten es, dort zu sitzen, Handarbeit zu machen und sich zu unterhalten, während die Kinder auf den Spielgeräten neben dem Weiher herumtollten. Eine wirkliche Postkartenidylle, die tatsächlich auf Postkarten gedruckt von den Müttern gerne nach Hause gesandt wurde. Nein, der Weiher konnte nicht zugeschüttet werden. Er war das Erkennungszeichen des Genesungsheimes. Die Leitung entschied sich nun doch dazu, von den Müttern eine sorgfältigere Aufsicht ihrer Kinder einzufordern. Wozu waren sie denn Mütter. Überhaupt – es war schon auffällig, mit welcher Gelassenheit, ja heiterer Ruhe die betroffenen Mütter den Tod ihrer Kinder hinnahmen. Hatte man die gelassene Haltung der ersten Mutter noch als mögliche posttraumatische Stressreaktion gedeutet, so verwunderte es den Psychologen mit der Zeit schon, dass alle Mütter ähnlich gelassen auf den Ertrinkungstod ihrer Kinder reagierten.
Die Heimleitung erwog gerade, die Türen des Heimes nach Eintritt der Dunkelheit grundsätzlich abzuschließen und ein allgemeines, nächtliches Ausgangsverbot auszusprechen, als wieder ein Kind den Tod fand. Wieder in der Nacht und wieder durch Ertrinken im Weiher. Und auch dieser Tod wäre als tragischer Unfalltod unaufgeklärt geblieben, wenn die kleine Sophie nicht einen älteren Bruder gehabt hätte, der seine Mutter und das Schwesterchen zur Kur begleiten durfte. Dieser Bruder erzählte am nächsten Morgen einer Erzieherin, es sei Sophie ganz recht geschehen. Schließlich sei es ungerecht gewesen, dass die Mutter nur Sophie in der Nacht zu einer Mondwanderung mitgenommen habe, während er alleine im Zimmer zurückbleiben musste. Die Geschichte des Jungen verwunderte die Erzieherin. Sie erzählte dem Psychologen davon, der wiederum die Mutter befragte. Das Ergebnis dieser Befragung sorgte für helle Aufregung. Die Mutter gab offen zu, dass sie die kranke Sophie in der letzten Vollmondnacht zum Weiher geführt habe. Bei Vollmond wäre die wunderschöne Stadt auf dem Grund des Weihers besonders gut zu sehen. Viele Kinder wären dort. Sie lebten glücklich und ohne Schmerzen. Die Kinder wären zum Ufer gekommen, hätten Sophie bei den Händen gefasst und mitgenommen in die Stadt. Ihre kleine Sophie wäre fröhlich mit den Kindern mitgegangen. Eine Untersuchung ergab, dass sämtliche Unfälle in
Vollmondnächten geschehen waren und dass alle Mütter die gleiche Geschichte erzählten. Sie hatten ihre kranken Kinder zu dem Weiher geführt und sie dort den Kindern aus der hellen Stadt in der Tiefe des Weihers übergeben. Die Mütter waren überzeugt, das Beste für ihre Kindern getan zu haben. Der Psychologe erklärte, das dunkle Wasser und der Vollmond müsste einen eigenartigen Einfluss auf die ohnehin psychisch labilen Mütter gehabt haben. Vielleicht habe sich das Licht des Heimes im Wasser gespiegelt und den Müttern eine versunkene Stadt vorgegaukelt. Natürlich wurde das Genesungsheim unverzüglich geschlossen. Und eigentlich wäre diese tragische Geschichte hier zu Ende.
Wenn ich nicht dort gewesen wäre.
Wie gesagt, ich bin gerne durch den verwilderten Park zum Weiher gelaufen. Eines Abends habe ich lange dort gesessen und das Aufgehen des Mondes betrachtet. Da konnte ich sie fühlen, diese seltsame Anziehungskraft des tiefschwarzen Wassers. Da war etwas. Mein Hund spürte es auch. Er knurrte und sein Nackenfell sträubte sich. Regungslos stand er da und starrte auf das Wasser. Er sah es. Und ich sah es auch. Ich sah, wie sich der Vollmond in dem dunklen Wasser spiegelte, und ich sah das Spiegelbild der hell erleuchteten Fenster des Erholungsheims im Wasser des Weihers. Doch das Heim war geschlossen und alle Fenster waren dunkel. Und ich ahnte die Kinder, ich hörte sie: ihr fröhliches Lachen beim Spielen in den Tiefen des Wassers. Ich hätte ihnen alles gegeben. Dann schob sich eine Wolke vor den Mond und der Zauber verflog. Mein Hund zerrte an der Leine, weg vom Weiher. Dieses Erlebnis hat mich nicht mehr losgelassen. Ich begann in alten Chroniken zu forschen und schließlich habe ich sie gefunden: Die wahre Geschichte.
Die Geschichte des Müttergenesungsheimes reicht viel weiter in die Vergangenheit als ich ursprünglich angenommen hatte. Tatsächlich
ist das Heim auf den Grundmauern eines Waisenhauses erbaut, das vor mehr als hundert Jahren abgerissen wurde. Schon damals gab es den Weiher mit der kleinen Insel in der Mitte. Es gibt keine verlässlichen Informationen, warum das Waisenhaus abgerissen wurde. Die Chroniken halten sich seltsam bedeckt. So als hätten die Geschichtsschreiber Angst, dieses Haus näher zu beschreiben. Erst in einer alten Kirchenchronik wurde ich fündig. Da stand in einer Randnotiz, dass man siebzig todkranke Kinder dem Wasser übergeben habe. Das Waisenhaus sah keine Möglichkeit, diese Kinder, die niemandem nützlich waren und nichts zu ihrem Lebensunterhalt beitragen konnten, zu pflegen und zu ernähren. Im ersten Frühjahrsvollmond fuhren Nonnen in Holzbooten mit den kranken Kindern auf den Weiher. Die Boote waren mit bunten Lampions geschmückt. Es gab eine Abschiedsfeier für die Kinder. Zum ersten Mal in ihrem Leben durften sie so viel süßen Kuchen essen, bis sie satt waren. Danach gaben die Nonnen ihnen einen Schlaftrunk. Sobald die Kinder schläfrig wurden und sich in den Booten hinlegten, hackten die Nonnen die Böden der Boote auf. Sie fuhren in einem anderen Boot zurück zum Ufer. Die schlafenden Kinder überließen sie dem Wasser. Die todkranken Kinder ertranken oder erfroren in der kalten Winternacht. Die Nonnen waren überzeugt, dass es eine Tat der Barmherzigkeit gewesen sei. Dass die Kinder in einer anderen Welt ein glücklicheres Leben finden würden. Bald darauf ereigneten sich die ersten seltsamen Todesfälle im Weiher. Die Legende erzählte, die toten Waisenkinder würden eine wunderbare Stadt am Grunde des Weihers bewohnen. Nur in Vollmondnächten erinnerten sich die Kinder an ihr Leben in dem Waisenhaus, dann kämen sie an die Oberfläche, um ihre kranken Leidensgefährten mitzunehmen in ein besseres Leben. Mütter, die mit ihren kranken Kindern auf eine besonders innige Weise verbunden waren, spürten die Macht der Geistkinder und übergaben ihnen voller Vertrauen ihre kranken Kinder.

Diese Geschichte habe ich herausgefunden.
Wie gesagt. Gestern hat man das Tor geschlossen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Letzte Woche ertrank wieder ein Kind im Weiher. Niemand konnte sich erklären, wie es mit seinem Rollstuhl zum Wasser gekommen war. Ich habe die Mutter nicht verraten.

Cato – Besser geht’s nicht

„Ich liebe dich! Und ich werde dich nie mehr verlassen.“ Eves dunkelbraunes, langes Haar, das sie mit einem leuchtend gelben Band zurückgebunden hatte, flatterte im Fahrtwind. Der rote Ferrari fuhr in zügigem Tempo die schmale Küstenstraße hinunter. Ein tiefblaues Meer, glitzernd in der Nachmittags¬sonne, säumte die steil abfallenden Felsen. „Ich weiß“, lächelte er Eve zu. Ein perfekter Tag. Er trat das Gaspedal durch. 460 PS. In 3,8 Sekunden von Null auf Hundert. Die Straße machte eine scharfe Linkskurve. Der Ferrari durchbrach die Leitplanke. Eve schrie. Ihre roten Fingernägel krallten sich in seinen Unterarm. Er genoss das unbeschreibliche Gefühl der grenzenlosen Freiheit, als der Wagen über die weißen Klippen raste dem endlosen, blauen Meer entgegen.

„Was stehst du da und glotzt? Nimm deine dreckigen Finger von meinem Wagen und mach, dass du weiter kommst!“
Der Alte wird grob zur Seite gestoßen.
„Reg dich ab, junger Scheißer“, murmelt er. Vor ein paar Jahren hätte sich das keiner getraut. Sie kannten ihn und hatten Respekt. Dann kam der Tag, an dem er einen Kampf auf der Straße verlor. Krankenhaus, Rippen¬brüche, Gehirnerschütterung. Er hätte drauf gehen können. Er überlebte. Leider. Er verlor den Kampf und ihren Respekt. Wenn du einen Kampf verloren hast, lässt du dich besser auf keinen mehr ein. So wurde er zum alten Mann. Über Nacht. Weg von dem Kerl, den sie respektierten, hin zu den Pennern auf den Bänken am Getränkemarkt. So schnell ging das.
Langsam geht der Alte weiter.
Im Vorbeigehen fischt er eine Dose aus dem Mülleimer. Konsumgesellschaft. Überfluss. Sie haben es nicht nötig. Zehn Dosen. Das ergibt eine Flasche Wein vom Getränke¬markt. Der billige. Aber Wein ist Wein. Ein Päckchen Tabak. Eine Flasche Korn. Dafür reicht sein Geld gerade noch. Vielleicht Wein, wenn er genügend Pfand sammelt.
Eve. In einem roten Flitzer ist sie davon gefahren. Ist zu dem Kerl ins Auto gestiegen. Weg war sie. Sie nutzte ihn nur aus. Wie alle. Er traf sie in der Kneipe. Ihr Freund hatte sie vor die Tür gesetzt. Sie zog bei ihm ein. Sie schlief in seinem Bett. Sie rauchte seinen Tabak und leerte seinen Kühl¬schrank. Sie redeten. Aber sie ließ ihn nie ran. Eve nutzte ihn auch nur aus. Dann war sie weg. Danach ging er nicht mehr zum Arbeitsamt. Sie kürzten die Leistung. Er beschloss, für die Bruchbude keine Miete mehr zu zahlen. Er würde sich nicht mehr ausnutzen lassen. Sie schickten die Kündigung und setzten ihn auf die Straße. Pfänden konnten sie nichts. Er hatte alles zu Geld gemacht. Das Amt wies ihm ein Zimmer zu. Stuhl, Tisch, Schrank, Bett, Waschbecken, Kochplatte, Kühlschrank. Scheißhaus auf der Etage. Sie sagten, er verweigere die Arbeitsaufnahme. Das stimmte nicht. Er war bereit, gute Arbeit zu leisten. Für gutes Geld. Aber so etwas gab es nicht mehr. Zeitarbeiter im Schichtdienst. Ewig mit dem Bus unterwegs. Für ein paar Euros. Es hätte zum Leben sowieso nicht gereicht. Dann doch lieber Hartz IV. Das war einfacher. Eine Woche wohnte er in dem Zimmer. Danach wusste er: Er war endgültig auf der Seite der Verlierer angekommen. Er besorgte sich Tabletten und eine Flasche Korn. Er wollte einen Abschiedsbrief schreiben. Freiheit. Selbstbestimmtes Leben. Er fand noch nicht einmal ein ordentliches Stück Papier. Und an wen hätte er schreiben sollen? Dann halt ohne. Er machte die Flasche auf, um sich Mut anzutrinken.

Der Gestank weckte ihn. Dafür schämt er sich bis heute. Das Laken schmiss er weg. Das nächste Geld vom Amt investierte er in einen Fernseher. FünfzigZoll. HD. Er aß einen Monat lang Kartoffeln, trank bei den andern mit, rauchte was er am Boden aufsammelte. Jetzt teilt er sein Geld besser ein. Meistens reicht es für mehr als den halben Monat. Noch zehn Tage. Er wird zum Pfand¬sammeln in den Stadtpark gehen. Morgen. Vielleicht. Jetzt zum Getränkemarkt. Er braucht Tabak.
Der Alte biegt auf die Brücke ein.
Hier begann es. Besser: Hier sollte es enden. Sie hatten ihn nur ausgenutzt. Er hatte gute Arbeit geleistet. Aber er hatte das Maul zu weit aufgerissen. Sie haben ihn rausgeschmissen. Dann stand er dort: Auf der anderen Seite des Geländers. Sein Sprung in die Freiheit. Damals hatte er sein ganzes beschissenes Leben noch vor sich. Damals hätte er es zu Ende bringen sollen. Aber er bringt nie etwas zu Ende. Sein Leben ist falsch. Zur falschen Zeit geboren. Ehrlichkeit, Mut, Selbstbestimmung, Rechtschaffenheit. Das zählt nicht mehr. Cato brachte sich um, weil er lieber sterben wollte, als seine Freiheit zu opfern. Cato ging stolz und selbstbestimmt in den Tod. Cato konnte sein Leben einsetzen, um sich Ruhm und Anerkennung zu kaufen. Cato, ein Selbstmörder und trotzdem ein Held. Mit dem Aufsatz beeindruckte er sogar seinen Deutschlehrer.
Quatsch! Belüg dich nicht selbst, alter Mann! Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Aufsatz geschrieben! Du hast noch nie ein Gymnasium betreten. Du hättest es tun können, wenn sie dich gelassen hätten. Bestimmt! Fünfzig Zoll. HD. Der Bericht über Cato. Da wusste er: Er war zur falschen Zeit geboren. Cato, das war einer, der dachte wie er. Cato hatte Stolz und Ehre und starb lieber, als seine Freiheit aufzugeben. Aber er war nicht Cato. Er spürte den Sog der vorbeifahrenden LKWs. Die Brücke vibrierte unter seinen Füßen. Er klammerte sich am Brückengeländer fest. Zitternd kroch er auf die feige Seite des Geländers zurück, wischte sich Rotz und Tränen aus dem Gesicht und ging heim. „Dein Alter wird dich schon nicht totschlagen“, meinte sein Kumpel. Nein, den Gefallen tat sein Alter ihm nicht. Aber er selbst hätte es tun sollen, damals. Damals auf der Brücke hätte er es zu Ende bringen sollen. Voller Stolz aus eigener Entscheidung wie Cato.

Der Alte hat genügend Pfand gesammelt für eine Flasche Wein. Gemeinsam mit dem Tabak und dem Korn verstaut er den Wein in der mitgebrachten Plastiktüte. Er zahlt. Die Kassiererin lächelt ihm zu. Sie kennen sich. Sie arbeitet schon ewig hier. Wahrscheinlich ist sie verheiratet. „Du solltest es lassen. Den Schnaps, mein ich“, flüstert sie. „Das Zeug wird dich umbringen. Langsam, aber sicher.“
Der Alte beeilt sich nach draußen zu kommen. Hundert Meter. Ein kleiner dreckiger Park. Morgens ist er hier alleine. Die anderen würden nachmittags kommen, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen hatten und Nachschub brauchten. Dann würde er gehen. Meistens mag er ihre Gesellschaft nicht. Er ist nicht wie sie. Aber jetzt gönnt er sich eine Pause in der blassen Frühlingssonne. Eine Selbstgedrehte und ein paar Schlucke Wein. Ein bisschen selbstbestimmte Freiheit auf der Parkbank. Danach wird er nach Hause gehen. Den Fernseher einschalten. Fünfzig Zoll. HD. Den Korn trinken. Und die Zeit wird vergehen. Er ist nicht wie sie. Er trinkt den Schnaps nie in der Öffentlichkeit. Er hat ihnen von Cato erzählt. Der stolze Cato. Einer, der einfach ging, als sich das Leben um ihn herum veränderte. Der Schluss machte, als das Leben nicht mehr zu ihm passte. Cato, der sich weigerte, sich anzupassen und die Freiheit wählte. Seitdem nennen sie ihn Cato. Sie haben nichts verstanden.

„Das Zeug bringt dich noch um. Langsam, aber sicher“, hat sie gesagt. Fast hätte er geantwortet. „Ich weiß“, hätte er geantwortet.“ Es wird mich umbringen. Langsam. Unendlich langsam. Aber besser geht’s nicht.“ Fast hätte er so geantwortet.
Der Alte lehnt sich zurück. Nimmt einen Schluck Wein und spürt die Sonne auf den geschlossenen Augen.

„Ich liebe dich! Und ich werde dich nie mehr verlassen.“ Eves dunkelbraunes, langes Haar, das sie mit einem leuchtend gelben Band zurückgebunden hatte, flatterte im Fahrtwind. Der rote Ferrari fuhr in zügigem Tempo die schmale Küstenstraße hinunter. Ein tiefblaues Meer, glitzernd in der Nachmittags¬sonne, säumte die steil abfallenden Felsen. „Ich weiß“, lächelte er Eve zu. Ein perfekter Tag. Er trat das Gaspedal durch. 460 PS. In 3,8 Sekunden von Null auf Hundert. Die Straße machte eine scharfe Linkskurve. Der Ferrari durchbrach die Leitplanke. Eve schrie. Ihre roten Fingernägel krallten sich in seinen Unterarm. Er genoss das unbeschreibliche Gefühl der grenzenlosen Freiheit, als der Wagen über die weißen Klippen raste dem endlosen, blauen Meer entgegen.

Das Dinner

„… Liebling, sagte ich dann zu ihm, warum trägst du nicht das schicke Armani-Sakko zum Dinner? Aber nein, es musste wieder die abgetragene Peter Hahn Jacke sein. So sind sie unsere Männer, die Herren Professoren, immer ein bisschen altmodisch, immer ein bisschen verschroben. Und ohne uns wären sie verloren in der bösen Alltagswelt.“ Mit ihren hageren Fingern tätschelte Mathilde kurz die Glatze ihres Mannes und wandte sich dann ihrer Tischnachbarin zu. Sie behandelt mich wie einen Schoßhund, dachte Klaus. Was hatte ihn nur bewogen, diese entsetzliche Frau vor mehr als 30 Jahren zu heiraten? Er war kein Professor, er hatte studiert, aber nie promoviert. Doch seine Frau zog es vor, Tatsachen einfach zu ignorieren und sich mit „Frau Professor“ anreden zu lassen. Mathilde hatte ihnen diese Einladung zum Dinner mit gewohnter Hartnäckigkeit verschafft. Wer war die Gastgeberin noch einmal? Irgendwann zwischen den endlosen Tratschgeschichten und Nörgeleien war ihr Name bestimmt gefallen. Aber Klaus hatte nicht zugehört. Das Alkaloid des Schierlings verursacht Sprachlähmungen, ging es Klaus durch den Kopf, aber leider ist das Gift sehr leicht nachweisbar.
„Und stellen sie sich vor, die Medikamente, die mein schlauer Professor erfindet, retten eines Tages Millionen von Menschen das Leben. Sicher hat ihr Mann schon davon gehört. Unter Insidern spricht sich so etwas rasend schnell herum. Ihr Mann verkehrt zweifelsohne in diesen Kreisen…“ ununterbrochen redete Mathilde auf ihre Tischnachbarin ein. Klaus hatte das Ehepaar Meyer schon ein paar Mal bei ähnlichen Anlässen getroffen. Der Mann tat ihm leid. Ein stiller, freundlicher Mensch, leitender Arzt im Stadtkrankenhaus. Klaus empfand eine Art Seelenverwandtschaft. Waren sie doch beide mit dem gleichen Typ Frau gestraft. Er musterte die Frau des Professors eingehender. Sie hatte sich seit ihrem letzten Treffen verändert. Ihr Gesicht zeigte deutliche Wassereinlagerungen, die Haut der Oberarme wies kleine Einblutungen und blaue Flecke auf. Anzeichen einer Überdosis Cortison. Aber ihr Mann war Arzt, er musste es auch bemerken und er musste wissen, dass es schonendere Mittel gab. Er sollte seiner Frau besser ein Glucocorticoid verschreiben. Er möchte doch bestimmt nicht die lebensbedrohenden Nebenwirkungen des Cortisons riskieren. Es sei denn … Klaus betrachtete seinen stillen Gegenüber mit neuem Interesse. Professor Meyer erwiderte den Blick und nickte ihm freundlich zu. ‚Der Professor weiß, dass ich es weiß, ‘ durchfuhr es Klaus.
Die Gastgeberin reichte die Aperitifs. Eine blondierte Enddreißigerin mit Grünstich im Haar. Ihr Frisör hätte sie darauf aufmerksam machen sollen, dass sich frisch blondiertes Haar im Chlorwasser grün färbt. Klaus kam einfach nicht auf ihren Namen. Sie waren schriftlich zu dem Dinner eingeladen worden. Sogar die Menuekarte war beigelegt. Die Gastgeberin hatte angekündigt, dass sie das Essen höchstpersönlich zubereiten würde. Die Mithilfe der Gäste in der Küche sei ausdrücklich erwünscht. Wieder so ein neumodischer Unsinn. Erlebnisgastronomie. Als Vorspeise sollte es Sushi geben.
Mathilde wunderte sich vermutlich sehr, als er der Gastgeberin anbot, ihr beim Anrichten und Auftragen der Vorspeise zu helfen.
Mathilde hasste rohen Fisch. Aber er gehörte zur feinen Gesellschaft dazu und deshalb würde sie ihn hastig herunterwürgen ohne auf den strengen Geschmack zu achten. Alle würden heute Abend mit den Symptomen einer Fischvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Alle würden das Krankenhaus nach einer zugegeben recht unangenehmen Nacht wieder verlassen. Alle, bis auf Mathilde, bei der die Vergiftung einen zwar seltenen aber biochemisch nicht weiter auffälligen Verlauf nehmen würde.
Und Klaus würde angemessen um seine Gattin trauern und dann in einen langen, ruhigen Urlaub aufbrechen.

Der Todesfall in der Rue Dauphin – Eine Hommage an Edgar Allan Poe

Ein geheimer Auftrag führte mich wieder einmal nach Paris, und natürlich wollte ich es mir nicht nehmen lassen, während meines Aufenthaltes meinem geschätzten Freunde Charles Dupin einen Besuch abzustatten. Das alte Anwesen in Faubourg St. Germain hatte nichts von seiner bizarren Düsterkeit verloren. Die schweren Fensterläden waren bereits geschlossen, als ich am späten Nachmittag an die imposante Pforte der Villa klopfte. Ich hatte meinen Besuch telegrafisch angekündigt, und mein Freund selbst öffnete mir die Tür und begrüßte mich auf das Herzlichste. Nach einem einfachen Mahl, währenddessen der eine dem anderen die neuesten Begebenheiten der vergangenen Wochen und Monate, die seit unserer letzten Zusammenkunft verstrichen waren, mitteilte, zogen wir uns in das kleine Studierzimmer meines Freundes zurück. Ich genoss den starken Kaffee zu der erlesenen Zigarre, welche mir Dupin großzügig angeboten hatte. Nach der lebhaften Plauderei beim Abendmahl war nun jeder in ein schweigendes entspanntes Nachsinnen versunken. Mein Blick ruhte lange Zeit auf dem eindrucksvollen Porträt des M. Auguste Dupin, dem Bildnis des ehrenwerten Vaters meines lieben Freundes, das, solange ich zurückdenken konnte, den Ehrenplatz über dem Kamin schmückte. Unsere Väter hatte vor langer Zeit eine tiefe, besondere Freundschaft verbunden. Sie bewohnten dieses düstere Haus gemeinsam und lebten in diesen Räumen ihre Sonderbarkeiten und seltsamen Extravaganzen aus. C. Auguste Dupin war ein Mann von ganz außergewöhnlicher geistiger Brillanz gewesen, der seine besonderen Fähigkeiten von Zeit zu Zeit in den Dienst der Pariser Polizei stellte. Und mein Vater, ein treuer Gefährte und zuverlässiger Chronist der Ereignisse, war zugegen, wenn er einige der verworrensten Kriminalfälle der Stadt einzig durch die Gabe seines analytischen Verstandes löste. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, und so wuchs ich mit den spannendsten Erzählungen über den berühmten Detektiv Auguste Dupin auf. Ich bewunderte diesen bemerkenswerten Detektiv, ohne ihm jemals von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden zu haben. Irgendwann erwähnte mein Vater, dass auch sein Freund Dupin Vater eines Knaben geworden sei, wohl in etwa zu der Zeit, als auch ich das Licht der Welt erblickte. Man kann sich meine fieberhafte Erregung vorstellen: ein Knabe in meinem Alter, der Sohn jenes berühmten Auguste Dupin! Sobald mir mein Vater die Erlaubnis und die nötige finanzielle Unterstützung gab, reiste ich nach Paris, um den Sohn dieses besonderen Freundes meines Vaters kennenzulernen.
Charles Dupin empfing mich damals, genauso wie danach an allen Tagen unserer nunmehr fast zwanzigjährigen Freundschaft, persönlich und auf das Warmherzigste. Es schien, als hätten zwei Seelen, die in einer anderen jenseitigen Welt schon längst verbunden waren, nun endlich auch in dieser Gegenwart zueinandergefunden. Da war eine natürliche Vertrautheit und eine Selbstverständlichkeit im gegenseitigen Umgang, die den mühsamen Prozess des vorsichtigen Kennenlernens überflüssig machte. Das unauflösbare Band der Freundschaft hatte uns umschlungen, noch bevor das Abendmahl beendet war. Und seit jener ersten erfreulichen Stunde bin ich immer wieder mit Entzücken in das Haus meines Freundes zurückgekehrt.
Charles Dupin hatte die hervorragenden analytischen Fähigkeiten seines Vaters geerbt, und auch er stellte sich mit dieser außergewöhnlichen Gabe immer dann in den unentgeltlichen Dienst der Pariser Polizeipräfektur, wenn ein besonders verworrener Kriminalfall sein Interesse erregte. Jedes Mal, wenn ich meinen Freund in Paris besuchte, hegte ich den geheimen Wunsch, endlich einmal Augenzeuge seiner brillanten Detektivarbeit zu werden. „Na, mein lieber, treuer Freund, hofft Ihr wieder einmal, dass gerade in diesem Augenblicke der Herr Polizeipräfekt vorsprechen möge mit der dringenden Bitte, ihm bei der Lösung eines ganz eigenartigen Kriminalfalles zu helfen?“, unterbrach Dupin mein schweigsames Sinnen. „Nun, lieber Freund,“ entgegnete ich schmunzelnd, „ist er denn so vermessen, dieser Wunsch, nur ein einziges Male als Chronist der brillanten Arbeitsweise eines außergewöhnlichen Detektivs zu agieren, ähnlich wie vor langer Zeit mein Vater bei Eurem Vater? Voller Stolz würde ich meinem Sohne in künftiger Zeit darüber berichten!“ Als hätte ein wohlwollendes Schicksal meinen Herzenswunsch erhört, klopfte es in diesem Augenblick an der Eingangspforte. Charles Dupin ging hinaus, um dem späten Besucher zu öffnen und kam wenig später mit dem Kutscher des Polizeipräfekten zurück in das Studierzimmer. Mein Freund wäre kein aufmerksamer Gastgeber, wenn er ihm nicht sogleich einen bequemen Sessel und eine Tasse Kaffee angeboten hätte, doch der Mann lehnte beides mit offensichtlichem Bedauern ab. „Der Herr Polizeipräfekt trug mir auf, M. Dupin zu bitten, sich mit mir unverzüglich in die Rue du Dauphin zu begeben. Es habe sich dort nämlich ein Todesfall ereignet, der für M. Dupin von ganz besonderem Interesse sei.“ Angenehm erregt erhob ich mich aus meinem Sessel. „Ein Mord! Und ich werde Euch bei Eurer wunderbaren Arbeit erleben! Wenn das kein glücklicher Zufall ist!“ Zu spät wurde mir bewusst, wie schändlich und pietätlos diese unbeherrschte Äußerung in den Ohren des Überbringers dieser Nachricht klingen musste. Beschämt wandte ich mich ab. „Nur langsam, mein ungestümer Freund. Solch zügelloses Streben ist der Aufklärung eines Mordfalles nie zuträglich“, wies mich auch sogleich mein Freund zurecht. „Allerdings, und es tut mir leid, auf diese Weise Euren Eifer zu dämpfen, dürfte in diesem besonderen Falle auch kein Mord aufzuklären sein. Der Herr Polizeipräfekt ist sicherlich kein Mann von herausragenden geistigen Fähigkeiten, auch war es noch nie die Gabe zu außergewöhnlicher Fantasie, die seine Arbeit auszeichnete, aber eines muss ich ihm zugutehalten: Er pflegt sich sehr präzise auszudrücken. Und wenn er von einem Todesfalle spricht, so meint er zweifelsohne auch einen Todesfall. Hätte sich hingegen ein Mord ereignet, so hätte er dieses Ereignis ohne Zweifel auch als Mord bezeichnet. Aber wie dem auch sein, da der Herr Polizeipräfekt der Überzeugung ist, dass dieser Todesfall von besonderem Interesse für mich wäre, hat er zumindest meine Neugierde geweckt. Wenn ich außerdem noch den Umstand bedenke, dass er zu dieser späten Stunde einen Boten schickt, um mich zu einem Todesfall zu bitten, meine ich, dass wir dieser Aufforderung zweifelsohne eiligst nachkommen sollten. Zumal die Kutsche des Präfekten von meinem Hause wartet, um uns, wie ich annehme, unverzüglich in die Rue du Dauphin zu befördern.“ So kam es also, dass ich zum ersten Male die glückliche Gelegenheit hatte, meinen Freund zu einem Kriminalfall zu begleiten. Dass es sich um einen solchen handeln musste, davon war ich immer noch überzeugt. Weshalb sonst sollte der Pariser Polizeipräfekt nach Mitternacht ein Gespann schicken, um Dupin zum Schauplatz eines Todesfalles zu bringen?
In der Rue de Dauphin hielt der Wagen vor einem imposanten Gebäude. Der Name einer bedeutenden französischen Tageszeitung, der in prunkvollen Lettern die Eingangspforte schmückte, ließ mich vermuten, dass es sich dabei um das Verlagsgebäude eben dieser Gazette handeln müsse. Ein Gendarm geleitete uns unverzüglich in ein stilvoll eingerichtetes Arbeitszimmer. Ohne Zweifel war dies das Arbeits- und Empfangszimmer des Herausgebers dieser bedeutenden Tageszeitung. Da ich mir einige Kenntnisse über den Handel mit Antiquitäten erworben hatte, erkannte ich, dass allein der Wert des barocken Schreibtisches den Wert des gesamten Mobiliars im Hause meines Freundes um ein Vielfaches überstieg. Wer immer hier wohnte und arbeitete, schien über ein stattliches Vermögen zu verfügen. Der Pariser Polizeipräfekt erwartete uns bereits und begrüßte meinen Freund mit überraschender Herzlichkeit. Dieser stellte mich als einen alten Vertrauten vor, der zufällig in seinem Hause zugegen war, als ihn, Dupin, die dringende Botschaft des Präfekten erreichte. „Nun, mein lieber Herr Präfekt“, fuhr Dupin dann fort, „erlaubt mir die ungeduldige Frage, welche Sonderbarkeit des vorliegenden Falles Euch veranlasst hat, zu so ungewöhnlicher Stunde nach mir zu schicken.“
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle vermerken, dass die beiden in ihrer Vorgehensweise ausgesprochen unterschiedlichen Detektive in einer etwas eigentümlichen Beziehung zueinanderstanden. Dupin bezeichnete das Denken des Polizeipräfekten in meiner Gegenwart des Öfteren als ausgesprochen fantasielos. Ihm fehle der nötige Scharfsinn, um verworrene Kriminalfälle aufzuklären. Allerdings sei er ein Mann von beeindruckender Tüchtigkeit, weshalb er trotz seiner durchschnittlichen Begabung die gewöhnlichen Kriminalfälle zuverlässig löse und daher das Amt des Polizeipräfekten völlig zu Recht innehabe. Der Polizeipräfekt hingegen betrachtete die Lebensweise und das kriminalistische Vorgehen meines Freundes als höchst ungewöhnlich und exzentrisch. Tatsächlich sah er ihn ihm keinen gleichwertigen Kriminalisten, sondern einen sonderbaren Kauz, der seine Mußestunden vorzugsweise mit dem Lösen kriminalistischer Rätsel zubrachte. Aber der Präfekt schätzte Dupins Mithilfe bei der Aufklärung der eher ungewöhnlichen Fälle, und er schätze darüber hinaus Dupins vorzüglichen Portwein und die erstklassigen Zigarren, weshalb er die schon fast süchtige Begierde meines Freundes nach bizarren Kriminalfällen gerne bediente. So zogen demnach beide einen befriedigenden Nutzen aus dieser Bekanntschaft.
„Mein geschätzter M. Dupin“, begann der Polizeipräfekt, „zunächst muss ich vorausschicken, dass sich in diesem Hause kein Mord ereignet hat, den es durch Euren bizarren Scharfsinn aufzuklären gilt. Das bedauernswerte Opfer, bei dem es sich übrigens um den Besitzer und Herausgeber der Gazette Parisienne handelt, hat sich zweifelsohne von eigener Hand aus dem Leben zum Tode befördert. Die Umstände der Tat waren so eindeutig, dass ich den Leichnam bereits vom Leichenbeschauer abholen ließ. Auch fanden wir ein Glas mit einer noch näher zu bestimmenden Flüssigkeit auf dem Schreibtisch des Verstorbenen. Der Umstand, dass das Zimmer von innen verschlossen war, ein ausgesprochen ungewöhnlicher Umstand, wie mir die Gattin des Verstorbenen bei einer ersten Befragung glaubhaft versicherte, deutet auf einen Freitod hin. Dies unterstreicht auch die Tatsache, dass der Tote den Eintritt des Todes anscheinend sitzend an seinem Schreibtisch erwartete und keinerlei Bemühungen unternommen hatte, Hilfe herbeizurufen, was unzweifelhaft der Fall gewesen wäre, wenn eine fremde Hand ihm das Gift verabreicht hätte. Und ein Beweisstück, das ohne jeden Zweifel auf eine Selbsttötung hinweist, ist dieser Brief, der in der Hand des Toten gefunden wurde.“ Mit diesen Worten überreichte der Polizeipräfekt Dupin einen versiegelten Briefumschlag, der den Namen meines Freundes als Adressant trug. „Die Witwe des Verstorbenen versicherte mir, dass dieser Brief eindeutig die Handschrift ihres Gatten trägt. Nun, mein lieber M. Dupin, es scheint, als könntet Ihr ein weiteres Mal das Rätsel um einen sonderbaren Todesfall lösen. Gewiss handelt es sich bei diesem Schreiben um den Abschiedsbrief des Verstorbenen. Ich erhoffe mir, dass die Lektüre dieser letzten Worte uns Aufschlüsse darüber geben möge, warum dieser angesehe Geschäftsmann, dem das Schicksal während der letzten Jahre in allen Bereichen seines Lebens ausgesprochen wohl gesonnen war, und den weder körperliche Gebrechen plagten, noch düstere Gedanken das Gemüt zu belasten schienen, aus sprichwörtlich heiterem Himmel beschlossen hat, aus seinem sorgenfreien Leben zu scheiden.“ Dieser Abschiedsbrief, den Dupin nun in Händen hielt, war also der Grund, weshalb der Polizeipräfekt meinen Freund zu diesem Todesfalle hatte rufen lassen. Nun kannte ich meinen Freund schon viele Jahre und daher war mir die fieberhafte Erregung, die Dupin bereits beim Betreten des Verlagsgebäudes ergriffen hatte, nicht entgangen. Zweifelsohne kannte er den Geschäftsmann, und die Art und Weise, wie Dupin sich im Foyer des Hauses bewegte und zielstrebig das Arbeitszimmer des Verstorbenen betrat, bedeutete mir, dass er auch mit den Räumlichkeiten bestens vertraut war. Jedoch hatte er mir gegenüber den Herausgeber der Gazette Parisienne nie erwähnt und so war mir fremd, welcher Art die Verbindung meines Freundes mit diesem Herrn war. Die stets äußerst diskrete Arbeitsweise Dupins und die Tatsache, dass er bisher alle rätselhaften Begebenheiten, die im zugetragen wurden, auf das Vortrefflichste gelöst hatte, öffneten ihm die Türen zu tatsächlich allen Kreisen der Pariser Gesellschaft, sodass mich Dupins Bekanntschaft mit diesem offensichtlich angesehenen und vermögenden Herren in keinerlei Weise in Staunen versetzte. Allerdings befremdete mich die unbesonnene, fast wütende Manier, mit der mein Freund den Brief entgegennahm und das Siegel erbrach. Ungeduldig trat er in das Licht der kostbaren Petroleumlampe, die den Schreibtisch schmückte. Und ich musste mit ansehen, wie mein sonst so ruhiger, besonnener Freund bereits nach der Lektüre der ersten Zeilen um Beherrschung rang. Dupin atmete schwer, mehrere Male schüttelte er fast widerstrebend sein Haupt, es schien, als weigere er sich, das Gelesene als Gewissheit anzunehmen. Als Dupin endlich die ihm ganz offensichtlich zutiefst widerwärtige Lektüre beendet hatte, ging er zum Kamin und ließ sich erschöpft in einen der Biedermeier Sessel sinken. Den schockierenden Brief hielt er immer noch in Händen, während sein Blick ausdruckslos auf dem kleinen Häufchen Asche in der Feuerstelle des Kamins ruhte. „Nun, mein lieber Dupin“, unterbrach der Präfekt das lastende Schweigen. “Ob Ihr wohl die Güte hättet, mir mitzuteilen, mit welcher Angelegenheit sich dieser Brief befasst? Die Lektüre scheint Euch ausgesprochen mitgenommen zu haben.“ Ich war unterdessen an den Sessel, in dem Dupin saß, herangetreten, um meinem Freunde in seiner offensichtlichen Erschöpfung beizustehen. Dupin schien sich langsam von seiner Bestürzung zu erholen. „Auch wenn es mir fast unerträglich ist, mir die Widerwärtigkeiten, die dieses Schriftstück schildert, ein zweites Mal vor Augen zu führen, möchte ich Euch als meinen lieben Freund bitten, dem Herrn Präfekten den Inhalt dieses Briefes vorzutragen.“ Mit diesen Worten übergab mir Dupin das Schreiben. Ich nahm es fast furchtvoll entgegen und trat nun meinerseits in das Licht der Schreibtischlampe und begann laut zu lesen:
„Diese Zeilen schreibe ich, Jean Batiste G … , eine Stunde vor meine Tode, den ich durch die Einnahme eines langsam wirkenden Giftes, das mich wenige Minuten nach Mitternacht in einen sanften, schmerzlosen Todesschlaf versetzen wird, von eigener Hand herbei geführt habe. Diese Zeilen richte ich an meinen geschätzten Freund Charles Dupin. Lieber Dupin, ich darf Euch sicherlich einen Freund nennen, da uns doch das lebhafteste Interesse an den Phänomen des Bösen, an dem Sündhaften und Schändlichen der menschlichen Seele seit vielen Jahren verbindet. Ihr, M. Dupin, wisst, dass es mir ein Leichtes wäre, mich als ehrbarer, tugendhafter Bürger aus dieser Welt zu verabschieden. Meine Hinterlassenschaft, dieses imposante Zeitungsimperium, das ich erschaffen und zur Blüte gebracht habe, wäre mir ein Denkmal, das noch lange im Erbe meiner Nachfahren meinen Namen tragen würde. Auch wäre es mir möglich, einen Teil meines beachtlichen Vermögens in eine wohltätige Stiftung zu überführen, um so über die Grenzen der Stadt Paris hinaus eine ruhmvolle Unsterblichkeit zu erlangen. Aber Ihr, mein lieber Dupin, wisst, dass dies alles meinen unersättlichen Hunger nach Ruhm und Anerkennung nicht stillen kann. Ihr habt es immer vermutet, dass mein wahrer Ruhm und meine wahre Könnerschaft ursächlich auf das meisterlich Böse zurückzuführen sind, das meinem Wesen zugrunde liegt. Oder sollte ich treffender sagen: Dass Ihr es immer wusstet, ohne es jedoch beweisen zu können und ohne jemals eine Möglichkeit zu finden, mich deshalb einer öffentlichen Anklage zuzuführen. Ihr wisst, dass die Abwesenheit jeglicher christlicher Moral und das absolute Fehlen jeglichen ethischen Verantwortungsgefühles die eigentlichen Grundpfeiler meines Erfolges sind. Ja, mein lieber Freund, hier, in diesem Schreiben, gestehe ich es zum ersten und letzten Male: Ihr hattet mit der Einschätzung meines schändlichen, verwerflichen Charakters absolut recht, auch wenn Ihr mir niemals auch nur das geringste Vergehen nachweisen konntet. Grämt Euch nicht, mein lieber Dupin, dieses Versagen ist Euch nicht anzulasten. Selbst Euer exzellenter, analytischer Verstand kann sich nur der Tatsachen und Umstände bedienen, die ihm bekannt sind. Und ein ganz besonderer Umstand, der zur Aufklärung des Rätsels um meine Person zweifelsohne augenblicklich geführt hätte, habe ich vor Euch und der übrigen Gesellschaft bis heute geheim gehalten. Aber heute, an dem Tage, an dem widrige Gegebenheiten mich dazu bewogen haben, meinem Leben selbst ein Ende zu setzen, habe ich beschlossen, das Geheimnis zu lüften. Nicht, wie vielleicht einige Kleingeister vermuten könnten, um mein Gewissen zu erleichtern, sondern, wie vermutlich nur Ihr dies richtig werten und verstehen könnt, um meiner Person ein wirklich angemessenes Denkmal zu setzen. Denn, was die Menschheit tatsächlich zu allerhöchsten Leistungen antreibt, ist das Böse. Und darin habe ich es wahrlich zu meisterlichen Ehren gebracht. Und ich weiß, dass Ihr, Dupin, diese Meisterlichkeit zu erkennen imstande seid und mir deshalb Wertschätzung erweisen werdet. Ich weiß, Ihr werdet mein Andenken bewahren und von mir in äußerster Bewunderung reden. Ihr werdet mich den großartigen Jean Batiste G. … nennen, den Einzigen, dessen Rätsel der große Dupin nicht lösen konnte.
Aber die Zeit drängt. Wenige Minuten nach Mitternacht werde ich nicht mehr auf dieser Erde wandeln; lasst mich deshalb unverzüglich mit meiner Geschichte beginnen:
Es war vor fast zehn Jahren. Ich war damals der Herausgeber einer kleinen unbedeutenden Pariser Tageszeitung, als ein junger Bursche bei mir vorsprach. Er machte auf mich sogleich den Eindruck eines unbedeutenden Halunken, der mit Diebstählen und harmlosen Betrügereien seinen bescheidenen Lebensunterhalt bestritt. Und so war ich nicht verwundert, als er vorgab, einen Hinweis auf einen zukünftigen Wohnungsbrand in der Rue Volta zu haben, und als er anbot, mir den genauen Ort und Zeitpunkt des Brandes gegen ein bescheidenes Entgelt zu nennen. Ich riet ihm, sich für seine lausigen, kleinen Betrügereien jemand anderen zu suchen und drohte ihm mit dem Gendarmen, wenn er nicht unverzüglich mein Haus verlassen würde. Doch der Bursche wollte nicht gehen. Er hätte genaueste Angaben über den Brand, nicht nur Zeit und Ort des Brandes könne er benennen, er wisse darüber hinaus, dass eine junge Frau, um den Flammen zu entkommen, aus dem Fenster des 3. Stockwerkes in den Tod springen werde. Ich könne einen Fotografen frühzeitig zu dem betreffenden Ort schicken. Die Fotografie dieser bedauernswerten Frau auf der Titelseite meines Blattes müsse mir doch einige Francs wert sein. Natürlich schenkte ich den Einlassungen dieses Tagediebes immer noch keinen Glauben und warf ihn unverzüglich hinaus. Ihr könnt Euch meine Verwunderung sicherlich vorstellen, als meine Berichterstatter mir zwei Tage später von einem Wohnungsbrand erzählten, der sich in der Rue Volta ereignet hatte. Eine junge Frau sei zu Tode gekommen, als sie der Feuersbrunst mit einem Sprung aus dem Fenster des 3. Stockwerkes zu entkommen versuchte. Lieber Dupin, Ihr könnt Euch meinen Ärger bestimmt nachempfinden darüber, dass ich den Aussagen dieses Burschen keinen Glauben geschenkte und die paar Francs nicht in den Kauf dieser Information investierte. Ich nahm damals an, dass dieser Kerl den Mord an der jungen Frau geplant hatte, dass er sie aus dem Fenster stieß und das Feuer legte, um seine Tat zu verbergen. Das Schicksal der toten Frau kümmerte mich nicht, was mich hingegen verwunderte, war der Umstand, dass dieser Bursche für ein paar Francs das Risiko einging, mich zum Mitwisser seines schändlichen Plans zu machen. Noch überraschter war ich, als der Bursche am nächsten Tag ein zweites Mal bei mir vorsprach. „Na, glaubt der feine Herr mir jetzt?“, fragte er frech. „Und bereut er es nun, dass er nicht die paar Francs für eine einmalige Fotografie ausgegeben hat?“ Der Schurke wagte es tatsächlich, unaufgefordert in meinem Arbeitszimmer Platz zu nehmen. „Was fällt dir ein!“, herrschte ich ihn an. „Vielleicht sollte ich den Polizeipräfekten informieren und dieser könnte dich fragen, woher du von dem Brand und dem Tod der Frau so frühzeitig wissen konntest, wenn du beides nicht mit eigener Hand herbeigeführt hast.“ Die Androhung versetzte den kleinen Gauner in eine gewisse Unruhe. Es war offensichtlich, dass es mit dieser Entwicklung der Umstände nicht gerechnet hatte. „Ich hatte damit nichts zu schaffen“, beeilte er sich, mir zu versichern. Jetzt hatte ich ihn da, wo ich in haben wollte. „Nun, was denkst du, wessen Wort beim Präfekten mehr Gewicht haben wird? Die Aussage eines angesehenen Geschäftsmannes, der darüber hinaus noch einige Zeugen benennen kann oder das Gestammel eines kleinen Straßendiebes? Das Zuchthaus wird dir als künftige Wohnstätte gewiss sein.“ Ich verstellte dem kleinen Ganoven die Tür, als er sich zur Flucht wandte. „Nur langsam! Setz dich wieder hin! Wir beide sind von selber Manier. Ich werde dich nicht verraten und darüber hinaus noch großzügig entlohnen, wenn du mir eine weitere interessante Nachricht arrangierst. Ein hinterhältiger, brutaler Raub, bei dem das Opfer den Tod findet, würde als Abbildung auf der Titelseite die Auflage meines Blattes in die Höhe treiben und mich dazu veranlassen, über die näheren Umstände des Wohnungsbrandes auch weiterhin Stillschweigen zu bewahren.“ Diese Aussage hatte den naiven Tagedieb auf das Heftigste getroffen. Voller Angst berichtete er mir, wie er es mühelos mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, die Ungerechtigkeit des Schicksals bezüglich der Verteilung der materiellen Güter durch eigenes Zutun zu seinen Gunsten auszugleichen, dass er es aber niemals mit seinem Gewissen vereinbaren könne, jemandes Leben durch eigene Hand oder durch Intrigen zu beenden. Dies müsse ich ihm glauben, und er schwöre es bei dem Grab seiner Mutter, die ihn stets in Übereinstimmung mit dem fünften christlichen Gebot erzogen habe. Und in seiner Frucht vor dem Zuchthaus berichtete er mir nun von der seltsamen Zeitung, die ein gütiges Schicksal ihm eines Tages bei einem seiner Beutezüge zugespielt hatte. Vor einigen Wochen war er auf der Suche nach altem Lumpen, die er auf dem Marché aux puces verkaufen wollte, in den Keller jenes alten verfallenen Hauses hinabgestiegen, das vor vielen Jahren dem bekannten Verleger Henri H … gehört hatte. Sicherlich wäre mir dieser Mann bekannt, meinte der Bursche, da wir uns ja in demselben Gewerke bewegen würden. Tatsächlich kannte ich den Herrn. Sein Verlagshaus brannte damals bis auf die Grundmauern ab, während er selbst sich mit seiner Gattin auf einer Vergnügungsreise durch Italien befand. Im Keller jenes Hauses nun fand der kleine Dieb, wie er behauptete, ein reich mit Intarsien verzierte hölzerne Kästchen, das den Brand anscheinend fast unbeschadet überstanden hatte. In der Hoffnung, darin ein wertvolles Kleinod zu finden, dessen Verkauf ihm einige Francs einbringen würde, nahm er das Kästchen mit nach Hause und erbrach dort den eisernen Beschlag. Der Bursche beschrieb mir mit lebhaftesten Worten seine tiefe Enttäuschung, als ihm gewahr wurde, dass dieses verheißungsvolle Kassette lediglich eine alte Zeitung enthielt. Achtlos lies er die Zeitung auf dem Küchentische seiner schäbigen Behausung liegen und zog erst einmal los, um wenigstens die hölzerne Schatulle zu Geld zu machen. Den umständlichen und qualvoll langweiligen Einlassungen meines unstandesgemäßen Gastes immer ungeduldiger folgend, erfuhr ich schließlich das ausgesprochen interessante Ende dieser sonderbaren Geschichte.
Aber mir verbleiben nur noch wenige Minuten und daher erlaubt mir, hochgeschätzter M. Dupin, hier meine Erzählung ein wenig zu kürzen. Es wird Ihnen durch diesen Bericht nicht entgangen sein, dass die geistigen Fähigkeiten meines betrügerischen Gastes nicht eben von herausragender Qualität waren und so verwunderte es nicht, dass es eine geraume Zeit und vieler Irrungen bedurfte, bis dieser Bursche endlich die besondere Eigenschaft dieser Zeitung, die er zunächst so achtlos beiseite geworfen hatte, herausfand. Ihnen, Dupin, wird es indes zur endgültigen Aufklärung vieler Rätsel meine Person betreffend dienlich sein, wenn ich Ihnen nun mitteile, was diese besondere Zeitung so einzigartig machte. Wie der naive Strauchdieb mir am Ende seiner Ausführungen glaubhaft versicherte, könne tatsächlich jeder in dieser Zeitung die Tagesereignisse des übernächsten Tages nachlesen. Mit dem zwölften Glockenschlag um Mitternacht verändere sich das Erscheinungsbild der Zeitung und berichte exakt, was sich am übernächsten Tage in Paris zutragen würde. Natürlich gab ich vor, den Ausführungen des Ganoven keinerlei Glauben zu schenken, bevor er mir nicht zum Beweis diese sonderbare Zeitung vorlegen würde. Die geringen geistigen Fähigkeiten, mit denen dieser Kerl gesegnet war, wurden indes nur noch von einer fast unglaublichen Naivität übertroffen. Und so verabredeten wir eine erneute Zusammenkunft um mitternächtlicher Stunde. Und tatsächlich erschien der einfältige Tor kurz nach Mitternacht erneut an der Eingangspforte meines Hauses mit jener wundersamen Zeitung im Handgepäck. Ihr, lieber Dupin, kennt mich wie kein anderer und könnt Euch vorstellen, dass ich bereits besondere Vorkehrungen getroffen hatte. So war ich allein mit dem Burschen, als ich ihm eröffnete, dass er dieses Arbeitszimmer nicht lebend verlassen würde. Ja, dass er bereits in wenigen Minuten eines qualvollen Vergiftungstodes sterben würde, da er den präparierten Portwein, mit dem wir auf seinen wunderbaren Besitz angestoßen hatten, bereits ausgetrunken habe. Dieser dumme Tölpel lachte mich doch in der Tat aus! Ich könne mir meine leeren Drohungen ersparen, meinte er, schließlich habe er seine Zeitung kurz nach Mitternacht zurate gezogen, was übrigens der Grund seiner Verspätung gewesen sei, und in der Zeitung sei kein Hinweis auf einen Mord zu finden gewesen. Ihr seht, Dupin, es wäre ein Verbrechen gegen das Schicksal gewesen, wenn ich die wertvolle Zeitung noch länger im Besitze dieses dummen Menschen gelassen hätte. „Nun,“ entgegnete ich dem Toren, „auch die beste Zeitung kann nur von jenen Morden berichten, von denen die Welt Kenntnis erhält. Der Mord an dir indes wird ewig unberichtet bleiben, weil niemand deinen Leichnam finden wird.“ Wie gesagt, ich hatte bereits Vorkehrungen getroffen, und als die Morgendämmerung den Himmel über Paris rötlich färbte, war die Leiche eines unbekannten Tagediebes sorgfältig und unauffindbar beseitigt. Erspart mir an dieser Stelle die Einzelheiten einer Tat, die sich Ihr analytischer Verstand sicherlich ohne Mühe zusammenreimen kann, denn Ihr wisst, in welche Gewerbe ich vor langer Zeit tätig war und welche Chemikalien mir bei der Fotografie zur Verfügung standen. Ich war nun also im Besitz jener fantastischen Zeitung, und in den nächsten Jahren ist es mir auf das Hervorragendste gelungen, Kapital aus dem Vorsprung an Wissen, den mir diese Zeitung verschaffte, zu schlagen. Wie Ihr selbst, mein lieber Dupin, nur zu gut wisst, waren meine Fotografen und Berichterstatter immer dort als Erste, wo sich die sensationellsten und zudem oft grausamsten Schicksale ereigneten. Ihr habt mich oft genug verdächtigt, der Urheber der Gräuel zu sein, über die meine Zeitung stets als Erste berichtete. Jedoch konntet Ihr mir weder ein hinreichendes Motiv noch die Gelegenheit zur Tat nachweisen. Auch stand ich nie in irgendeinem Zusammenhang zu den Tätern, wenn sie im Anschluss ihrer Taten tatsächlich einmal überführt wurden. Darüber hinaus waren manche Ereignisse so schicksalshaft und von Menschenhand unmöglich herbeizuführen, dass unter keinen Umständen eine Beziehung zwischen mir und dem Ereignis hergestellt werden konnte. Es sei den, Ihr, M. Dupin, wollt behaupten, ich hätte das Schicksal selbst bestochen, um voyeuristisches Kapital daraus zu schlagen. Nun, glaubt mir, wenn mir etwas Derartiges möglich gewesen wäre, hätte ich es zweifelsohne getan. Aber auch so gelang es mir, meine außergewöhnlichen Augenzeugenberichte und meine unglaublichen Fotografien besonders tragischer Begebenheiten zu wahrhaft horrenden Preisen zu verkaufen. Meine finanzielle Lage verbesserte sich von Tag zu Tag, meine Zeitung war binnen weniger Wochen zu dem auflagenstärksten Blatt aufgestiegen, das jemals in Paris angeboten wurde. Da Ihr, Dupin, selber mein erfolgreiches Tun während der letzten Jahre mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt habt, was mir, wie ich heute zugeben möchte, immer ausgesprochen schmeichelte, wisst Ihr am besten, dass ich der Erste war, der eine Vermittlungsstelle für Nachrichten gründete, die exzellente Augenzeugenberichte und Fotografien an andere Zeitungen verkaufte.
Jede Nacht zur zwölften Stunde saß ich hier in diesem Arbeitszimmer und fieberte der Neuerscheinung meiner wunderbaren Tageszeitung entgegen. Katastrophen, die menschliche Schicksale betrafen, erfreuten mich am meisten. Ohne Zweifel erinnert Ihr Euch noch des Einsturzes des Waisenhauses in der Nähe des Hospital des Invalides. Mein Fotograf konnte ein paar ganz vortreffliche Fotografien der vor Schmerzen kreischenden Kinder anfertigen noch bevor irgendwelche Helfer vor Ort waren. Oder darf ich Eure Erinnerung zu dem Personenzug lenken, der auf der Strecke von Versailles nach Paris entgleiste. Die hölzernen Wagen des Zuges fuhren auf die Lokomotive auf und wurden von den glühenden Kohlen aus der Feuerbüchse in Brand gesetzt. Mehr als fünfzig Menschen verbrannten eingeklemmt in den Waggons. Damals war ich persönlich zugegen, um die Vorbereitungen und die Arbeit meiner Fotografen zu überwachen. Wir konnten ein paar ganz vorzügliche Fotografien herstellen, die sich auf das Hervorragendste verkauften. Ihr müsst es mir nachsehen, lieber Dupin, wenn ich ein wenig in Schwärmerei gerate, angesichts der zahlreichen wunderbaren, fesselnden und herzerweichenden Berichte, welche ich in den letzten Jahren als Augenzeuge dieser tragischen Ereignisse verfassen durfte. Tatsächlich ließ ich mir, wann immer es mir möglich war, die persönliche Anwesenheit bei allen diesen großen und kleinen Katastrophen nicht nehmen. Ja, ich muss sogar gestehen, dass mich mit den Jahren die persönlichen, sozusagen privaten Schicksalsschläge weitaus mehr zu fesseln vermochten als die großen anonymen Katastrophen. Ein kleines, süßes, unschuldiges Mädchen, das vor der Linse meines Fotografen von einem tollwütigen Hunde zu Tode gebissen wurde, hat mich weitaus mehr erregt als die große Flut der Seine, bei der lediglich die Leichen ein paar mitteloser Vagabunden angeschwemmt wurden. Wie Ihr seht, verehrter Dupin, habe ich das Böse meines Charakters auf das Vortrefflichste kultiviert. Wie ein Gourmet suchte ich mir schließlich die besonderen Häppchen aus dem entsetzlichen Elend, das sich unweigerlich an jedem neuen Tage in Paris ereignete, heraus. Und ich gestehe ohne Reue, dass ich, bis zu jener Stunde, als mir die mitternächtliche Lektüre mein eigenes Schicksal offenbarte, jedes abscheuliche Häppchen auf das Köstlichste genossen habe. Ich hatte immer eine ganz besondere Vorliebe für Feuerkatastrophen jeglicher Art. Die angstvollen, schmerzerfüllten Schreie der brennenden Leiber erregten mich auf ganz besondere Weise. Ich scheue mich nicht, zuzugeben, dass diese langsame, schmerzhafte Todesart immer eine ganz eigenartige, unbeschreibliche Faszination auf mich ausübte. Welche Ironie meines Schicksals, als ich nun las, dass mich selbst ein ebensolcher qualvoller Tod ereilen würde. Größter Zeitungsverleger von Paris ist das prominenteste Opfer bei dem verheerenden Brand in den Halles Centrales! stand in fetten Lettern auf der Titelseite meiner prophetischen Zeitung. Offenbar sei ich mit einer persönlichen Recherche befasst gewesen, als in den Markthallen das Feuer ausbrach. Ich erlag noch am Abend unter qualvollen Schmerzen meinen Verbrennungen, konnte ich der Meldung entnehmen. Ihr könnt euch mein Entsetzen sicherlich vorstellen, als ich den Bericht meines eigenen Todes las. Zu jener Zeit hatte ich noch keinerlei Veranlassung, mich am Morgen des übernächsten Tages zu den Halles Centrales zu begeben, aber ich zweifelte keinen Augenblick an der Richtigkeit des Berichtes. Und so, wie ich es bisher noch nie für notwendig gehalten hatte, mein Wissen über zukünftige schreckliche Ereignisse zu nutzen, um diese Ereignisse anzuwenden, um damit zahlreichen Menschen entsetzliches Leiden und Elend zu ersparen, kam mir auch jetzt nicht der Gedanke, einen Versuch zu unternehmen, meinen eigenen Tod zu verhindern. Ich wusste mit Gewissheit, dass ich meinem Tod nicht entfliehen konnte. Mein Tod war der gerechte Preis, den ich für meine Mitleidlosigkeit und Skrupellosigkeit zu zahlen hatte. Das Schicksal hatte mir vor langer Zeit diesen Handel angeboten, und ich hatte mich darauf eingelassen. Das Geschäft schien mir fair, und ich war bereit, den geforderten Preis zu zahlen. Aber ich war nicht einverstanden mit den schrecklichen Konditionen, zu denen dieser Handel durchgeführt werden sollte. Ich muss gestehen, mein lieber Dupin, obwohl mich das Leiden meiner Mitmenschen immer auf eine sonderbare Weise erheiterte und belebte, war ich selber nicht gewillt und nicht in der Lage, mein eigenes Leiden heldenhaft zu tragen. Ja, ich gestehe es in diesen letzen Worten ganz offen: Ich fürchte mich ganz außerordentlich vor körperlichen Schmerzen. Daher traf ich schon vor langer Zeit gewissenhafte Vorsorge, als ich mir nämlich ein wundervolles Pulver beschaffte, das mich, in einem guten Portwein genossen, langsam schläfrig machen und mich schließlich in einen sanften Tod entlassen würde und …
Gerade wurde ich, so kurz vor dem Abschluss dieses Briefes, durch ein eindringliches Klopfen in meinem Schreiben unterbrochen. Auch bereits dem Tode geweiht, bleibe ich ein Mensch, den äußerste Neugierde antreibt. Deshalb konnte ich es nicht lassen, nachzusehen, wer so kurz vor Mitternacht wagte, in dieser unverschämten Weise an meine Eingangspforte zu hämmern. Doch meine Neugierde wurde enttäuscht. Es war nur ein betrunkener Vagabund, der um ein paar Francs bettelte. Ich wollte diese Kreatur so schnell wie möglich loswerden und wieder zu meiner Niederschrift zurückkehren, daher übergab ich ihm meinen schweren, ledernen Reisemantel, der neben der Eingangstür hing. Der Landstreicher schlurfte erfreut mit seiner Beute davon. So habe ich, der ich nichts mehr hasse, als Weichherzigkeit und mitleidsvolle Gefühlsduselei, doch tatsächlich noch in den letzten verbleibenden Minuten meines irdischen Lebens eine gute Tat vollbracht. Nun, vielleicht wird mir diese Tat vor irgendeinem himmlischen Gericht gut geschrieben werden.
In wenigen Minuten wird die einschläfernde Wirkung meines Trankes einsetzen. Euch, lieber Dupin, wird dieser Bericht Aufschluss gegeben haben zur Klärung der vielen Rätsel, die Ihr stets mit meiner Person verbunden habt. Ihr werdet jetzt erkennen, dass ich, wie ich Ihnen immer wieder versicherte, im Sinne der weltlichen Rechtsprechung unschuldig war und bleibe. Kein Gericht dieser Welt kann mich wegen irgendwelcher Straftat anklagen, weil ich nie gegen die Buchstaben des Gesetzes verstoßen habe, wenn man einmal von der Beseitigung jenes dummen Burschen absieht. Aber die Vernichtung dieses wertlosen, vertanen Lebens rechtfertigt keine Anklage, da werdet Ihr, lieber Dupin, mir sicherlich zustimmen. Ich möchte mich nun für immer von Euch verabschieden. Dupin, mein liebster, treuester Freund, ich weiß, Ihr werdet mit dem, was ich Ihnen berichtet habe, in einer, meiner genialen Person angemessenen Weise umgehen und mir die herausragende Ehre zuteilwerden lassen, die mir zweifelsohne zusteht. Noch ein letztes Mal werde ich einen Blick auf die Ereignisse des übernächsten Tages werfen, jenem Tage, an dem ich bereits nicht mehr auf dieser Erde weilen werde. Ich gebe es freimütig zu, eine gewisse bizarre Neugierde treibt mich, zu erfahren, wie Ihr und letztendlich wie die Gesellschaft meinen Freitod darstellen und mein imposantes, erfolgreiches Leben würdigen werdet.
Lebt nun wohl, mein lieber, treuer Freund.

Postskriptum
Ich schreibe dies in höchster Eile und unter Aufbringung meiner letzten geistigen Kräfte. Ich habe die Zeitung soeben ins Feuer geworfen! Ich, der ich so viel Nutzen aus diesem Papier zog, wurde zuletzt doch schändlich von ihm betrogen!
Widerruf! Bei dem Brandopfer in den Halles Centrales handelte es sich nicht, wie am Tage zuvor berichtet, um den Verleger Jean Batiste G … Wie wir soeben erfahren haben, war das Opfer ein namenloser Landstreicher, der lediglich den extravaganten, auffälligen Mantel des begüterten Mannes trug. Wie der Vagabund indes in den Besitz dieses Mantels kam, war bei Drucklegung dieser Ausgabe noch nicht geklärt.
So hat mich diese Zeitung auf das Hinterhältigste betrogen! Und so habt Ihr, Charles Dupin, mich ebenfalls auf das Schändlichste hintergangen! Wieso habt Ihr geschwiegen? Wieso habt Ihr den Sachverhalt nicht aufgeklärt? Wieso wird mein Freitod mit keinem Worte erwähnt? Wieso erweist Ihr mir nicht die Ehre, die mir zusteht?
Ich verfluche Euch, M. Charles Dupin!
Und ich sterbe mit diesem Fluch auf meinen Lippen!

Manchmal ändern sich unsere Ansichten, wenn wir genauer hinsehen.