„Mami! Mir geht es gar nicht gut. Können wir nicht doch aussteigen und Hilfe holen?“
Niemals! Niemals würden sie hier aussteigen können! Schon der Gedanke ließ sie schaudern. Sie spürte die Hitzewelle. Es begann in der Brust, erst das Herzklopfen, dann der Schweißausbruch und danach die Kälte. Schwer atmend lehnte sie sich zurück. Nein, sie würden hier niemals aussteigen können!
Warum musste Marie ausgerechnet heute Fieber bekommen? Und warum musste das verdammte Auto ausgerechnet heute stehen bleiben? Sie schaute zu Marie. Zitternd, in eine Decke gehüllt, saß ihre kleine Tochter auf dem Beifahrersitz. Ihr Gesicht glühte. Marie brauchte Hilfe. Sie hatte hohes Fieber, deshalb musste sie dringend zum Arzt. Es war bitterkalt hier. Sie wusste, sie musste etwas unternehmen. Aber sie konnte hier nicht aussteigen! Niemals!
Und sie hatte ihr Handy in der Küche liegen lassen. Sie hatte versucht mit Bernhard zu telefonieren, aber nur die Mailbox erreicht. Wenigstens wusste er jetzt, dass Marie krank war. Falls er seine Mailbox abhörte. Aber eigentlich hörte er niemals seine Mailbox ab.
Sie hätte ihr Handy mitnehmen müssen. Aber als ihr klar wurde, dass sie Marie ins Krankenhaus bringen musste, dass sie aus dem Haus musste, sie da hinaus musste, zog eine Nebelwand in ihrem Kopf auf. Ein grauer Nebel , der alles fremd wirken ließ. Ein Nebel, der ihre Gedanken in Watte packte. Roboterhaft wickelte sie Marie in eine Decke und trug sie zum Wagen. Zum Glück stand das Auto in der Garage. Zum Glück konnte sie die Garage durch den Keller erreichen. Eigentlich musste sie gar nicht ins Freie.. Sie würden in der Tiefgarage des Krankenhauses parken.
Und dann blieb dieses verdammte Auto mitten auf der Landstraße stehen.
„Mami! Bitte! Können wir nicht einfach aussteigen? Da vorne, das Haus, da brennt Licht. Das ist gar nicht weit.“
„Nein! Wir müssen hier warten bis Hilfe kommt!“
Wieso konnte Marie ihr nicht einfach glauben? Wieso vertraute sie ihr nicht, wenn sie sagte, es sei zu gefährlich auszusteigen? Sie würden es nie bis zu dem Haus schaffen. Schon der Gedanke, hier auszusteigen, nahm ihr den Atem.
Es hatte zu Schneien aufgehört. Der Schneefall war in Regen über gegangen. Aber es würde noch Stunden dauern bis der ganze Schnee getaut war. Wenn er überhaupt tauen würde. Es wurde Nacht. Und wahrscheinlich würde es auch wieder kälter werden. Nein! Sie konnten sich unmöglich selbst befreien! Sie mussten warten bis Bernhard kam. Er würde sie finden. Ihm würde eine Lösung einfallen. Er würde nach Hause kommen, sehen, dass niemand da war und dann seine Mailbox abhören.
Jetzt standen sie schon eine Stunde im tiefen Schnee auf dem Notstreifen der Landstraße. Sie mussten nur noch ein bisschen durchhalten.
„Mir ist so kalt Mami.“
„Papa wird bald kommen. Er wird uns nach Hause bringen.“
„Können wir nicht einfach ein Auto anhalten. Bitte! Mami! Ich möchte hier raus!“
„Nicht mehr lange, dann kommt Papa. Versuch zu schlafen, Marie.“
Nein, sie konnte kein Auto anhalten. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden sie zwingen, auszusteigen … und dann … Niemals!
Sie durften nicht auf sie aufmerksam werden. Deshalb hatte sie die Warnblinkanlage nicht eingeschaltet.
Wieder sah sie die Scheinwerfer eines Autos im Rückspiegel. Sie sah das Auto kommen. Sie durften sie nicht sehen. Sie drückte sich tief in den Sitz und hielt den Atem an bis der Wagen vorbei war.
„Mami, kannst du mir nicht wenigstens eine Geschichte erzählen? Eine vom Schnee oder von Weihnachten?“
Marie zitterte vor Kälte, oder war es das Fieber?
Natürlich, sie konnte ihr eine Geschichte erzählen. Vielleicht würde Marie sogar einschlafen. Sie würde Marie auf den Schoß nehmen und ihr eine Geschichte erzählen. Marie würde einschlafen und dann würde auch schon Bernhard kommen.
Wieder kam ein Wagen. Sie sah die Scheinwerfer im Rückspiegel. Marie hatte wirklich hohes Fieber. Vielleicht sollte sie doch versuchen, den Wagen anzuhalten. Aber der viele Schnee! Der Schnee würde ihr den Atem nehmen. Sie konnte hier nicht aussteigen. Niemals!
Sie war zu Marie auf den Beifahrersitz gewechselt. Die Gefahr, hier von einem vorbeifahrenden Auto bemerkt zu werden, war geringer.
Ja, sie würde Marie eine Geschichte erzählen. Die Geschichte vom Mädchen mit den Zündhölzern. Vielleicht würde Marie dann verstehen, warum sie nicht aussteigen konnten.
Und sie begann die Geschichte…
„Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit Lächeln um den Mund – tot, erfroren im Schnee am letzten Tage des alten Jahres.“
Und sie beendete die Geschichte.
Jetzt würde Marie sie verstehen. Sie schaute auf ihre Tochter. Marie war eingeschlafen. Und ihr kleiner Körper fühlte sich schon gar nicht mehr so heiß an.
Bald würde Bernhard kommen. Sie würde jetzt auch versuchen, sich zu entspannen und ein bisschen zu schlafen.