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Dream evil

I

Ich sollte mich erst einmal richtig erholen, haben sie gesagt. Mir Zeit lassen, mich entspannen, spazieren gehen. Erst müsse ich den Schock überwinden, dann käme auch die Erinnerung wieder.
Es wäre Notwehr gewesen, ohne jeden Zweifel. Mich träfe keine Schuld. Allenfalls könne man mir Leichtsinn vorwerfen, dass ich einem Fremden die Wohnungstür geöffnet hätte. Denn ich müsste ihn hereingelassen haben. Nichts deute auf einen Einbruch hin. Eigentlich erstaunlich, meinten sei, dass ich diesen Mann überwältigen konnte. Er sei mir körperlich weit überlegen gewesen. Es sei ein Wunder, dass ich selbst fast unverletzt blieb.
Die tiefen Kratzer und die Bisse im Gesicht, an meinen Händen und Armen müssten wohl von der Katze stammen. Vermutlich hätte ich versucht, das verstörte Tier einzufangen, ehe es davon lief.
Eigenartig, überlegten sie, dass man immer noch nicht herausgefunden habe, wer der Fremde sei und weshalb er Kleidung aus dem letzten Jahrhundert getragen habe. Vielleicht sei diese Kleidung Teil eines Tricks gewesen, um in die Wohnung zu kommen.
Aber darüber sollte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Wichtig sei erst einmal, dass ich absolute Ruhe hätte.

Seit einer Woche bin ich nun hier. Seit einer Woche erzählen sie mir immer wieder das Gleiche.
Dass ich mich entspannen sollte.
Dass ich etwas Entsetzliches erlebt hätte und ich mich unbewusst weigern würde, daran zurück zu denken.
Dass mit der Zeit die Erinnerung wieder käme und sie mir dann helfen könnten das Entsetzen zu überwinden.
Dass man im Moment erst einmal abwarten müsse.

Sie werden vergebens abwarten.

Ich werde mein Gedächtnis nicht wieder finden; ich hatte es nie verloren.
Ich erinnere mich an alles.
Ich weiß, wer der Mann war.
Ich werde ihn niemals vergessen.
Die ganze Geschichte werde ich niemals vergessen können.
Aber ich kann ihnen diese Geschichte nicht erzählen.
Sie würden mir ohnehin nicht glauben.
Sie würden nur weiterhin versuchen, mir zu helfen und mich hier festhalten.

Aber sie können mir nicht helfen.

II

Es begann an einem Dienstag.
Ich hatte ein paar Tage frei und stöberte durch die Buchhandlungen.
Schließlich betrat ich einen kleinen Buchladen, der in einer Seitengasse, abseits der großen Geschäftsstraßen im Erdgeschoß eines alten Gebäudes untergebracht war.
Der Laden musste neu sein.
Ich war oft in diesem Teil der Stadt gewesen und kannte die Gassen und dieses Haus, das seit Jahren leer stand.
Der Besitzer war mir sofort sympathisch. Ich hatte Zeit, war die einzige Kundin und begann eine Unterhaltung mit dem etwa fünfzigjährigen Mann.
Warum er seinen Laden abseits des eigentlichen Geschäftsviertels eröffnet habe, wollte ich wissen. Hier käme doch kaum jemand vorbei und er könne schwerlich einen ausreichenden Umsatz machen.
Der Mann gab mir Recht. Aber dieser Laden sei nur der Anfang, meinte er. Er habe das Haus gekauft und plane, es wieder zu dem zu machen, was es ursprünglich gewesen war.
„In diesem Haus“, erklärte er, „ war einmal die größte und interessanteste Bibliothek der ganzen Stadt untergebracht. Was sie hier sehen ist nur ein kleiner Teil des gesamten Gebäudes, einer von vier Leseräumen im Erdgeschoss. Die eigentliche Bibliothek befand sich im ersten Stock: eine große, helle Halle mit hohen Regalen, die vielen hundert Büchern Platz boten.“
Und der Ladenbesitzer erzählte, er habe vor eines Tages wieder eine solche Bibliothek einzurichten.
Ich war neugierig geworden und fragte, ob ich mir diese ehemalige Bibliothek einmal ansehen dürfte.
„Warum nicht? Hier ist im Moment ohnehin nichts zu tun“, antwortete der Mann und kramte in der Schublade nach dem Schlüssel.
„Aber viel zu sehen gibt’s da nicht. Nur leere, staubige Regale, keine Bücher und überhaupt nichts Geheimnisvolles.“

Gemeinsam stiegen wir die schmale Wendeltreppe hinauf. Der Mann wollte gerade die Tür aufschließen, als ein Kunde den Laden betrat.
„Kundschaft. Ich muss nach unten. Schauen sie sich ruhig alles an. Und schließen sie nachher die Tür wieder ab.“
Mit diesen Worten drückte er mir den Schlüssel in die Hand und ging in den Laden zurück.
Gespannt öffnete ich die Tür und betrat eine große, sonnendurchflutete Halle.
Der Ladenbesitzer hatte die ehemalige Bibliothek treffend beschrieben: nichts weiter als hohe, schwere Regale aus dunklem Holz, allesamt leer und mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Ich war enttäuscht. Irgendwie hatte ich etwas Besonderes erwartet.
Aber hier gab es tatsächlich nichts Geheimnisvolles, abgesehen vielleicht von der bedrückenden Stille und fast unheimlichen Leere des Raumes. Eigenartig, dachte ich, dass nicht einmal Geräusche von der Straße zu hören waren.
Die Stille war so vollkommen und endgültig, dass ich heftig erschrak, als ein leises Miauen sie durchbrach.
Eine Katze? Hier oben? Wohl kaum.
Ein zweites Miauen folgte.
Lauter dieses Mal und eindringlicher.
Ich ging um die alten Regale herum. Das Miauen führte mich.
Dann sah ich sie:
Eine ausgewachsene, graue Katze, ganz oben auf einem hohen Wandbord.
Wie die da wohl hingekommen war, überlegte ich. Auf jeden Fall schien sie sich nicht wieder herunter zu trauen.
„Na‘ du arme Kleine, wie lange hockst du denn schon da oben? Los, trau dich!“
Mit ausgestreckten Armen lockte ich die Katze. Ich musste ihr nicht lange zureden. Sie sprang sofort, als hätte sie auf mich gewartet.

Mit der Katze im Arm verließ ich die Bibliothek. Seltsam, dachte ich beim Hinuntergehen, dass sie ausgerechnet neben dem einzigen Buch saß, das es in dieser Bibliothek noch zu geben schien.
Ich brachte dem Ladenbesitzer den Schlüssel zurück und wollte ihm auch seine Katze überreichen, doch er meinte, er habe das Tier noch nie gesehen und wisse nicht, wie sie da oben hingekommen sei.

Also nahm ich die Katze mit nach draußen, hockte sie auf den Bürgersteig und machte mich mit den Worten „Los, du Unglücksvieh, lauf nach Hause!“, selbst auf den Heimweg.
Doch die Katze dachte überhaupt nicht daran, nach Hause zu laufen. Stattdessen folgte sie mir und stand schließlich vor meiner Haustür.
Ich konnte noch nie jemandem etwas energisch genug abschlagen, und so kam es, dass die Katze bei mir einzog.

III

In der Nacht träumte ich von dem Buch, das als einziges in der Bibliothek gestanden hatte.
Ich erwachte mit der Katze im Bett und dem brennenden Wunsch, mir dieses Buch anzusehen.
Warum auch nicht? Ich hatte Urlaub und genügend Zeit. Also ging ich wieder zu dem Buchladen, erklärte dem Besitzer die Sache mit dem Buch und bat ihn, mich noch einmal in die Bibliothek zu lassen. Bereitwillig überließ er mir den Schlüssel zum zweiten Mal.

Eilig stieg ich die Wendeltreppe hinauf, schloss die Tür auf, betrat die Halle, fand das hohe Wandregal und sogar eine altmodische Trittleiter und hielt schließlich das Buch in der Hand.
Titel und Autor waren mir unbekannt, also schlug ich erwartungsvoll den alten Einband auf.
In diesem Moment wusste ich, warum man das Buch zurückgelassen hatte. Es war wertlos. Mäuse hatten den größten Teil der Seiten zerfressen. Nicht einen Satz konnte ich noch vollständig lesen. Enttäuscht brachte ich das Buch nach unten. Der Buchhändler verstand meine Enttäuschung und riet mir, das Buch mitzunehmen und in einem Antiquariat nach einem zweiten Exemplar zu fragen.

Ich ließ kein Antiquariat der Stadt aus.
Überall das Gleiche: weder Titel, noch Autor, ja nicht einmal der Verlag waren bekannt.
Eigentlich, sagte man mir, dürfte es dieses Buch gar nicht geben.
Als ich endlich müde mit dem wertlosen Buch die Wohnung betrat, wurde ich von der Katze erwartet. Schnurrend strich sie um meine Beine.
Sonderbar, überlegte ich, sie schien sich für das Buch zu interessieren. Sie konnte es doch nicht wiedererkannt haben. Ich warf das Buch auf das Sofa und ging in die Küche, um mir etwas zu Essen zu machen.
Als ich zurück kam, lag die Katze schnurrend auf dem Sofa neben dem Buch. Ihre gelben Augen blickten mir erwartungsvoll entgegen.

IV

In dieser Nacht begann der Albtraum.
Am Morgen erwachte ich zerschlagen. Neben mir lag die Katze, hellwach. Sie schien mich zu beobachten.
Wahrscheinlich hat sie darauf gewartet, dass ich aufwache, sie wird Hunger haben, überlegte ich.
Der Tag verlief ereignislos und ich vergaß den Traum.
Doch in der nächsten Nacht und in allen folgenden Nächten :
immer wieder der gleiche Traum, immer wieder dieser Mann, der mich immer wieder bat, ihm zu helfen. Er habe noch etwas zu erledigen, dazu müsse er zurück kommen, ich müsse dies für ihn vorbereiten, es wäre möglich, zurück zu kommen, ich solle doch das Buch lesen, da stände alles drin.

Nacht für Nacht dieser Traum.
Nacht für Nacht der Mann.
Nacht für Nacht sein Bitten,
das immer eindringlicher wurde.

Und Morgen für Morgen die Katze in meinem Bett, jeden Morgen hellwach und mich erwartungsvoll fixierend.

Es ist die Katze, dachte ich schließlich.
Irgendetwas verbinde ich mit diesem Tier und dieses Etwas schleicht sich dann als Albtraum in meinen Schlaf.

Am folgenden Abend ließ ich die Katze in den Keller.
Bevor ich zu Bett ging, prüfte ich sorgfältig, ob die Kellertür fest verschlossen war und versperrte sogar das Schlafzimmer.
Doch der Albtraum kam auch in dieser Nacht.
Immer fordernder und bedrohlicher wurde der Mann.
Ich solle dieses Buch lesen, ich müsse ihm helfen, er habe keine Zeit mehr, wenn ich ihm nicht freiwillig helfen würde, dann …

Mein eigenes Schreien musste mich geweckt haben.
Es war mitten in der Nacht.
Neben mir lag wieder die Katze und schaute mich mit gelben Augen an.
„Wie bist du hier herein gekommen?“ schrie ich.
„Was willst du von mir? Ich kann das Buch nicht lesen! Es gibt da nichts mehr zu lesen! Siehst du das nicht ein, du blödes Vieh! Ich kann ihm nicht helfen!“
Ich schrie, bis ich heiser war.
Die Katze lag nur bewegungslos da und starrte mich an.
Endlich ahnte ich, dass ich diese Katze und mit ihr den Mann und diesen Traum niemals loswerden würde.
Egal, wohin ich sie bringen würde, die Katze käme immer wieder zu mir zurück.
Und dieser Albtraum, dieser Mann – er würde mich höchstens noch einmal bitten und dann …

Plötzlich wusste ich, was zu tun war. Mir blieb gar keine andere Wahl.
Entschlossen packte ich die Katze. Sie ahnte, was ich vor hatte und wand sich in meinen Händen.
Sie kratzte und biss, doch ich ließ sie nicht los.
Halb wahnsinnig vor Angst, getrieben von der Drohung meines Traumes, rannte ich zur Küche.
Die sich sträubende Katze mir einer Hand fest an mich gepresst öffnete ich die Küchenschublade.
Hier irgendwo musste ein Brotmesser liegen.
Ich hatte noch nie ein Tier töten können. Noch nicht einmal eine Spinne konnte ich zertreten. Aber dieses Mal musste ich es tun.
Ich presste die Katze mit der linken Hand fest auf den Küchenboden.
Sie wand sich, fauchte, kratzte und biss.
Ich schloss die Augen und stach zu, so lange, bis sich die Katze nicht mehr rührte.

V

Meine Freundin, die einen Schlüssel zur Wohnung hatte und nur einmal vorbei schauen wollte, fand mich am Morgen am Küchentisch sitzend.
Das blutige Messer noch immer in der Hand.
Wortlos starrte sie erst mich, dann den toten Mann auf dem Küchenboden an.
Schließlich benachrichtigte sie die Polizei und brachte mich in diese Klinik.

Heute Nachmittag hat sie mich besucht.
Sie hatte mir etwas mitgebracht. Das arme Tier wäre wohl die ganze Woche in der Wohnung gewesen, meinte sie. Eigentlich seltsam, sie habe es doch an jenem Tag gesucht und nirgends gefunden. Es müsse sich aus Angst wohl irgendwo versteckt haben.

Die graue Katze hat also wieder zu mir gefunden.
Schnurrend liegt sie auf meinen Knien.

Wir beide wissen, was heute Nacht passieren wird.

Der Weiher am Landheim

Man hat das Tor geschlossen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Schade. Eigentlich lief ich gerne durch den verwilderten Park. Es war schön, dem Pfad der Rehe bis zum Wasser zu folgen. Ich saß auf der alten Holzbank in der Sonne und blickte hinüber zu den Trauerweiden, die sich tief über das schwarze Wasser beugten. Ich konnte mir die Kinder vorstellen, die dort unter den Weiden im dunklen Schatten Verstecken spielten. Wie sie durch das Gras zum bunten Spielhaus liefen oder sich am Fuße der Rutsche stritten, wer die Leiter als erstes hinaufklettern durfte. Und ich stellte mir ihre Mütter vor, die die Kinder auf dem kleinen Karussell antrieben. Die Schaukeln hatte man abgehängt, und die Spielgeräte waren von Brombeerhecken überwuchert. Aber das große Entenhaus auf der Insel in der Mitte des Weihers wurde immer noch von Enten bewohnt. Ein alter, verwitterter Holzzaun umschloss den Weiher. Die kleine Pforte war geschlossen. Hier hatten die Kinder gestanden, mit ihrem Brot in den Händen, ungeduldig auf die Mütter wartend, die noch bei einer letzten Tasse Kaffee beim Frühstück hockten. Jedes Kind füttert gerne Enten. Ich hatte mir vorgenommen, beim nächsten Spaziergang auch Brot für die Enten mitzunehmen. Aber der Weg durch den Park zum Weiher ist jetzt versperrt. Vielleicht ist es besser so.
Der Park und der Weiher gehörten zu einem Müttergenesungsheim, das vor langer Zeit geschlossen wurde. Hierher kamen Mütter mit Kindern, die an schweren, chronischen Erkrankungen litten. Man wollte beiden, den Müttern und den Kindern einen Erholungsaufenthalt außerhalb der Stadt ermöglichen. Beide hatten diesen Aufenthalt dringend nötig. Ganz besonders aber die Mütter, die von der täglichen Sorge um ihre kranken Kinder körperlich und seelisch ausgebrannt waren.
Es begann kurz nach der feierlichen Eröffnung des Erholungsheimes.
Ein tragischer Unfall. Die kleine Lisa, fünf Jahre alt und von den zerstörerischen Nebenwirkungen einer Chemotherapie gezeichnet, war am späten Abend in den Weiher gefallen und ertrunken. Ein Unfalltod. Jedoch meinte man danach, man hätte den Weiher besser sichern müssen. Schließlich könnten die Mütter ihre Kinder nicht rund um die Uhr beaufsichtigen. So baute man den hölzernen Zaun um den Weiher. Der Zaun fügte sich harmonisch in das Gesamtbild des Parks ein. Nur noch eine kleine Pforte ermöglichte den Zutritt zum Weiher. Jemand hatte sie versehentlich aufgelassen, ein paar Wochen später, als der kleine Timmy nachts ertrank. Danach wurde die Tür so konstruiert, dass sie von selbst ins Schloss fiel und für kleine Kinderhände nicht mehr zu öffnen war. Aber Mariechen musste es eines späten Abends doch geschafft haben. Man fand sie am nächsten Morgen tot im Weiher. Drei unglückliche Todesfälle, allesamt Kinder, waren nicht die beste Werbung, die sich die Heimleitung für das Müttergenesungsheim wünschte. Und die Unfallserie sollte nicht abreißen. Nachdem vier weitere Kinder auf ähnliche, unerklärliche Weise nachts im dunklen Wasser ertrunken waren, erwog man, den unglückseligen Weiher zuzuschütten. Aber er war dann doch zu schön gelegen. Die alten Trauerweiden, deren Äste bis ins Wasser reichten, die kleine Insel in der Mitte, die gemütlichen Holzbänke, die wahlweise in der Sonne oder im Schatten der Weiden standen. Die Mütter liebten es, dort zu sitzen, Handarbeit zu machen und sich zu unterhalten, während die Kinder auf den Spielgeräten neben dem Weiher herumtollten. Eine wirkliche Postkartenidylle, die tatsächlich auf Postkarten gedruckt von den Müttern gerne nach Hause gesandt wurde. Nein, der Weiher konnte nicht zugeschüttet werden. Er war das Erkennungszeichen des Genesungsheimes. Die Leitung entschied sich nun doch dazu, von den Müttern eine sorgfältigere Aufsicht ihrer Kinder einzufordern. Wozu waren sie denn Mütter. Überhaupt – es war schon auffällig, mit welcher Gelassenheit, ja heiterer Ruhe die betroffenen Mütter den Tod ihrer Kinder hinnahmen. Hatte man die gelassene Haltung der ersten Mutter noch als mögliche posttraumatische Stressreaktion gedeutet, so verwunderte es den Psychologen mit der Zeit schon, dass alle Mütter ähnlich gelassen auf den Ertrinkungstod ihrer Kinder reagierten.
Die Heimleitung erwog gerade, die Türen des Heimes nach Eintritt der Dunkelheit grundsätzlich abzuschließen und ein allgemeines, nächtliches Ausgangsverbot auszusprechen, als wieder ein Kind den Tod fand. Wieder in der Nacht und wieder durch Ertrinken im Weiher. Und auch dieser Tod wäre als tragischer Unfalltod unaufgeklärt geblieben, wenn die kleine Sophie nicht einen älteren Bruder gehabt hätte, der seine Mutter und das Schwesterchen zur Kur begleiten durfte. Dieser Bruder erzählte am nächsten Morgen einer Erzieherin, es sei Sophie ganz recht geschehen. Schließlich sei es ungerecht gewesen, dass die Mutter nur Sophie in der Nacht zu einer Mondwanderung mitgenommen habe, während er alleine im Zimmer zurückbleiben musste. Die Geschichte des Jungen verwunderte die Erzieherin. Sie erzählte dem Psychologen davon, der wiederum die Mutter befragte. Das Ergebnis dieser Befragung sorgte für helle Aufregung. Die Mutter gab offen zu, dass sie die kranke Sophie in der letzten Vollmondnacht zum Weiher geführt habe. Bei Vollmond wäre die wunderschöne Stadt auf dem Grund des Weihers besonders gut zu sehen. Viele Kinder wären dort. Sie lebten glücklich und ohne Schmerzen. Die Kinder wären zum Ufer gekommen, hätten Sophie bei den Händen gefasst und mitgenommen in die Stadt. Ihre kleine Sophie wäre fröhlich mit den Kindern mitgegangen. Eine Untersuchung ergab, dass sämtliche Unfälle in
Vollmondnächten geschehen waren und dass alle Mütter die gleiche Geschichte erzählten. Sie hatten ihre kranken Kinder zu dem Weiher geführt und sie dort den Kindern aus der hellen Stadt in der Tiefe des Weihers übergeben. Die Mütter waren überzeugt, das Beste für ihre Kindern getan zu haben. Der Psychologe erklärte, das dunkle Wasser und der Vollmond müsste einen eigenartigen Einfluss auf die ohnehin psychisch labilen Mütter gehabt haben. Vielleicht habe sich das Licht des Heimes im Wasser gespiegelt und den Müttern eine versunkene Stadt vorgegaukelt. Natürlich wurde das Genesungsheim unverzüglich geschlossen. Und eigentlich wäre diese tragische Geschichte hier zu Ende.
Wenn ich nicht dort gewesen wäre.
Wie gesagt, ich bin gerne durch den verwilderten Park zum Weiher gelaufen. Eines Abends habe ich lange dort gesessen und das Aufgehen des Mondes betrachtet. Da konnte ich sie fühlen, diese seltsame Anziehungskraft des tiefschwarzen Wassers. Da war etwas. Mein Hund spürte es auch. Er knurrte und sein Nackenfell sträubte sich. Regungslos stand er da und starrte auf das Wasser. Er sah es. Und ich sah es auch. Ich sah, wie sich der Vollmond in dem dunklen Wasser spiegelte, und ich sah das Spiegelbild der hell erleuchteten Fenster des Erholungsheims im Wasser des Weihers. Doch das Heim war geschlossen und alle Fenster waren dunkel. Und ich ahnte die Kinder, ich hörte sie: ihr fröhliches Lachen beim Spielen in den Tiefen des Wassers. Ich hätte ihnen alles gegeben. Dann schob sich eine Wolke vor den Mond und der Zauber verflog. Mein Hund zerrte an der Leine, weg vom Weiher. Dieses Erlebnis hat mich nicht mehr losgelassen. Ich begann in alten Chroniken zu forschen und schließlich habe ich sie gefunden: Die wahre Geschichte.
Die Geschichte des Müttergenesungsheimes reicht viel weiter in die Vergangenheit als ich ursprünglich angenommen hatte. Tatsächlich
ist das Heim auf den Grundmauern eines Waisenhauses erbaut, das vor mehr als hundert Jahren abgerissen wurde. Schon damals gab es den Weiher mit der kleinen Insel in der Mitte. Es gibt keine verlässlichen Informationen, warum das Waisenhaus abgerissen wurde. Die Chroniken halten sich seltsam bedeckt. So als hätten die Geschichtsschreiber Angst, dieses Haus näher zu beschreiben. Erst in einer alten Kirchenchronik wurde ich fündig. Da stand in einer Randnotiz, dass man siebzig todkranke Kinder dem Wasser übergeben habe. Das Waisenhaus sah keine Möglichkeit, diese Kinder, die niemandem nützlich waren und nichts zu ihrem Lebensunterhalt beitragen konnten, zu pflegen und zu ernähren. Im ersten Frühjahrsvollmond fuhren Nonnen in Holzbooten mit den kranken Kindern auf den Weiher. Die Boote waren mit bunten Lampions geschmückt. Es gab eine Abschiedsfeier für die Kinder. Zum ersten Mal in ihrem Leben durften sie so viel süßen Kuchen essen, bis sie satt waren. Danach gaben die Nonnen ihnen einen Schlaftrunk. Sobald die Kinder schläfrig wurden und sich in den Booten hinlegten, hackten die Nonnen die Böden der Boote auf. Sie fuhren in einem anderen Boot zurück zum Ufer. Die schlafenden Kinder überließen sie dem Wasser. Die todkranken Kinder ertranken oder erfroren in der kalten Winternacht. Die Nonnen waren überzeugt, dass es eine Tat der Barmherzigkeit gewesen sei. Dass die Kinder in einer anderen Welt ein glücklicheres Leben finden würden. Bald darauf ereigneten sich die ersten seltsamen Todesfälle im Weiher. Die Legende erzählte, die toten Waisenkinder würden eine wunderbare Stadt am Grunde des Weihers bewohnen. Nur in Vollmondnächten erinnerten sich die Kinder an ihr Leben in dem Waisenhaus, dann kämen sie an die Oberfläche, um ihre kranken Leidensgefährten mitzunehmen in ein besseres Leben. Mütter, die mit ihren kranken Kindern auf eine besonders innige Weise verbunden waren, spürten die Macht der Geistkinder und übergaben ihnen voller Vertrauen ihre kranken Kinder.

Diese Geschichte habe ich herausgefunden.
Wie gesagt. Gestern hat man das Tor geschlossen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Letzte Woche ertrank wieder ein Kind im Weiher. Niemand konnte sich erklären, wie es mit seinem Rollstuhl zum Wasser gekommen war. Ich habe die Mutter nicht verraten.