I
Heute schütteln alle den Kopf. Wie konnte man auf so etwas herein fallen? Wie konnte man sich dermaßen für dumm verkaufen lassen?
Ein bisschen Lagerfeuerromantik, Kameradschaft, Fackelzüge und die Idee vom besseren Menschen – wie konnte man nur darauf herein fallen?
Aber ich war vierzehn und stolz, dabei zu sein. Ich war stolz, eine HJ- Uniform zu tragen und ich glaubte, was ich in der Wochenschau sah.
Und … vielleicht das Wichtigste: Ich war nicht allein. Es waren Tausende.
Da waren welche vor mir. Vorbilder. Wisst ihr noch, was Vorbilder sind? Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was es für einen Vierzehnjährigen bedeutet, endlich jemanden zu finden, der weiß, wo es lang geht und worauf es ankommt?
Und es waren welche neben mir. Freunde. Freunde, die schwuren, auf die Fahne, mit mir durch dick und dünn zu gehen. Wisst ihr, wie gut es einem Vierzehnjährigen tut, zu wissen, er ist nicht allein?
Und dann die hinter mir. Die Kleinen. Die vom Jungvolk. Für die war ich Vorbild. Es ist ein gutes Gefühl, bewundert zu werden.
Das alles gaben sie mir. Dazu klare, einfache Regeln, eine verständliche Ordnung: für mich selbst, mein Leben und die Welt. Könnt ihr euch vorstellen, wie sehr ein Vierzehnjähriger nach einer einfachen Ordnung sucht, nach Prinzipien, nach etwas, das einen Sinn in das Chaos „Welt“ bringt?
Alles das gaben sie mir – und jede Menge Abenteuer und Zeitvertreib noch dazu. Wundert ihr euch jetzt immer noch, dass ich begeistert mitmachte und gar nicht mitbekam, was eigentlich passierte?
Ich hatte das bis zum Schluss nicht begriffen. Man hat es mir erzählt. Ich habe darüber gelesen. Ich habe mir sogar hier und da etwas angeschaut … Dachau, zum Beispiel und später Buchenwald. Aber ich habe es bis heute nicht begriffen. Ich meine, so dass es überall gleichzeitig klar ist: im Kopf und im Bauch, mit dem Verstand und dem Gefühl. Wisst ihr, wie ich das meine? Ich habe immer noch das Gefühl, als hätte ich damit nichts zu tun gehabt. Natürlich bin ich mit marschiert und habe „Heil Hitler!“ geschrien und Scheiben eingeworfen.
Aber so, so wie in Buchenwald, habe ich das doch nie gemeint! Und jetzt sagen sie, zwischen mir und Buchenwald, da bestände eine Verbindung. Über mich und die vielen anderen führe ein Weg geradewegs nach Buchenwald und Dachau und Auschwitz und …
Wahrscheinlich muss man Soziologie oder Psychologie oder sonst etwas studiert haben, um diesen Weg zu sehen. Mein Gott! Ich war damals gerade vierzehn und ich habe es bis heute nicht begriffen!
Aber eines weiß ich: Es fängt wieder an. Sie sind wieder vierzehn und suchen nach Vorbildern, nach Kameradschaft, nach Sinn, nach einfachen Antworten, nach Spaß und Zeitvertreib.
Sie sind vierzehn und schmeißen Scheiben ein.
… Ob sie begreifen, dass sie am Anfang eines Weges stehen?
Für sie erzähle ich diese Geschichte. Nicht für die Studierten, nicht für die Historiker, die kennen die große Geschichte. Was sollte ihnen meine kleine Geschichte nutzen?
Nein, ich will versuchen wieder vierzehn zu sein und eine Geschichte erzählen. Meine Geschichte. Ein Stück Weg, der nicht in Auschwitz endete. Eine Geschichte, die unbedeutend scheint, gemessen an jener großen Historie. Eine Geschichte, die nur den Weg eines einzigen Menschen beschreibt. Einen Weg, der mich dennoch hundert Mal mehr betroffen macht, als der Weg der Hunderttausenden in die Konzentrationslager.
Vielleicht weil meine Geschichte ein Gesicht hat, Hände und Arme und Beine, eine Stimme, Augen und einen Namen.
II
Sie war eines Tages einfach da.
Mutter hatte sie mitgebracht und nur gesagt, wir müssten sie verstecken. Wie kamen wir dazu, eine Jüdin zu verstecken? Ihre Eltern seien abgeholt worden und dort, wo man sie bisher versteckt habe, könne sie nicht mehr bleiben. Und nun sei sie eben hier, sagte meine Mutter. Mit meiner Mutter über die Sache zu diskutieren, hatte keinen Sinn. Sie war gegen meine Mitgliedschaft in der HJ und ließ mich nur gehen, um nicht aufzufallen. Mein Vater kämpfte in Russland für den Führer und meine Mutter kämpfte in Berlin direkt vor der Nase der SS dagegen. Sie war eine Politische. Ich hasste sie dafür. Sie verriet die Sache meines Vaters. Manchmal kam mir der Gedanke, meine Mutter anzuzeigen. Ich habe es aber nie getan; sie war meine Mutter.
Nein, ich hätte sie nie verraten, auch nicht, als sie diese Jüdin ins Haus brachte.
Hannah heiß sie. Sie war sechs und stand einfach mit ihrem kleinen Koffer in unserer Küche.
Sie stand da und starrte hungrig auf den Tisch, den ich gerade zum Abendessen gedeckt hatte. Drei Teller: einen für mich, einen für meine Mutter und einen für die Alte, die über uns wohnte. Wir hatten Brot, etwas Butter und Äpfel, die ich organisiert hatte. Und … als besonderen Luxus: Tee. Es gab damals, gegen Ende des Krieges kaum noch etwas. Nicht einmal auf dem Schwarzmarkt war noch etwas zu haben. Wir hatten eigentlich noch Glück. Hier, ein paar Kilometer vor Berlin konnte man wenigstens ab und zu noch etwas Obst oder Gemüse von den Bauern bekommen. Doch viel gab es nicht mehr. Die meisten Felder waren zerbombt.
Aber ich war zufrieden mit Brot und Äpfeln. Für mich war es selbstverständlich, dass die Soldaten an der Front zuerst versorgt wurden. Ich glaubte fest an den Sieg, entgegen aller Versuche meiner Mutter, mich vom bereits verlorenen Krieg zu überzeugen. Ich hasste die linke Propaganda! Ich wollte mit für unseren Sieg kämpfen! Was hätte ich dafür gegeben, um wenigstens als Flakhelfer nach Berlin zu gehen!
Aber meine Mutter verbot es. Und deshalb blieb ich. Wütend, trotzig, voller Hass – aber ich blieb.
Und dann brachte sie auch noch Hannah mit. Sie zog ihr Schuhe und Mantel aus, rückte ihr einen Stuhl zum Tisch, bestrich eine Scheibe Brot dünn mit Butter, schnitt die Äpfel in Stücke und meinte, wir sollten essen und uns dabei kennen lernen. Sie würde inzwischen der Alten etwas bringen.
Und Hannah setzte sich und aß und erzählte. Dass ihre Eltern schon lange weg seien. Dass sie gar nicht mehr wissen, wie sie ausgesehen hätten. Dass sie das manchmal sehr traurig machen würde. Dass die ganze Zeit Monika und Franz ihre Eltern gewesen seien. Dass sie die aber jetzt verhaftet hätten. Sie erzählte, wie sie sich unter den Fußbodenbrettern versteckt hatte. Ganz klein habe sie sich gemacht und trotzdem sei es schrecklich eng gewesen. Und gefroren habe sie. Und sie habe fast keine Luft mehr gekriegt. Und jedes Mal habe sie große Angst gehabt, wenn jemand mit schweren Stiefeln direkt über ihr herumging. Und dann, beim letzten Mal, sei es irgendwann für ganz lange ganz still geworden. Aber sie habe sich nicht getraut, aus ihrem Versteck heraus zu kommen. Und dann seien noch einmal Schritte gekommen und jemand hätte die Dielen hochgeklappt. Sie hätte wieder Angst gehabt, aber es sei meine Mutter gewesen und die habe sie mitgenommen. Und dann wäre sie zum ersten Mal seit ganz langer Zeit wieder draußen im Freien gewesen. Und sie hätte lange laufen müssen. Und über die Felder hätte meine Mutter sie getragen. Und sie hätte wieder Angst gehabt. Angst davor, dass sie beide sich in der Dunkelheit verlaufen würden.
„Aber jetzt bin ich hier. Schön warm ist es hier. Hast du etwas zum Trinken für mich?“ schloss Hannah ihre Geschichte. Während sie erzählt hatte, saß ich am Tisch, kaute mein Brot und versuchte, gar nicht hinzuhören. Aber Hannah war eine gute Geschichtenerzählerin und irgendwann hörte ich doch zu. Ich glaube, ich war sogar ein bisschen neidisch auf die Abenteuer, die sie erlebt hatte.
„Du, ob du etwas zum Trinken für mich hast?“ wiederholte Hannah ihre Frage. Ich stand auf, goss Tee in die Tasse und stellte sie Hannah hin.
„Zucker gibt’s keinen.“
Aber Hannah war nicht verwöhnt. Sie trank den warmen Tee in großen Schlucken. Und dann kam meine Mutter zurück und setzte sich zu uns. Hannah kletterte auf ihren Schoß und begann, sie über die Frau auszufragen, der sie eben das Essen gebracht hatte.
Die Alte, jeder nannte sie so, lebte in der Dachkammer über uns. Sie war blind, uralt und wohl irgendwie mit uns verwandt. Mutter versorgte sie. Wusch für sie und brachte ihr das Essen. Immer, wenn ich zu ihr kam, saß sie in ihrem Schaukelstuhl. Tatsächlich schien sie diesen Schaukelstuhl nie zu verlassen. Selbst abends, wenn ich im Bett lag, begleitete mich das Knarren der Dielen unter dem Schaukelstuhl in den Schlaf. Von mir hielt die Alte vermutlich nicht besonders viel. Auf jeden Fall sprach sie nie ein Wort mit mir. Naja, eigentlich konnte ich sie auch nicht leiden und überließ es lieber meiner Mutter, ihr das Essen zu bringen.
Hannah wollte nun also wissen, wer die Alte war … und meine Mutter erzählte ihr von der alten Frau im Schaukelstuhl.
„Und morgen gehst du sie besuchen. Ich denke, ihr beide könntet Freunde werden. Aber jetzt müssen wir erst einmal überlegen, wo du heute Nacht schlafen wirst.“ Die beiden überlegten und beschlossen schließlich, dass Hannah im Bett meiner Mutter schlafen sollte. „Ein weiteres Bett wäre zu auffällig. Und jetzt gehen wir schlafen. Alles andere regeln wir morgen.“ Meine Mutter stand auf, um Hannah ins Bett zu bringen. „Morgen müssen wir auch ein gutes Versteck für dich finden. Falls sie kommen.“ „Aber nicht wieder unter dem Fußboden“, hörte ich Hannah noch sagen, als ich auf dem Weg in mein Zimmer war.
So zog also diese kleine Jüdin bei uns ein, aß unser Brot, trank unseren Tee, erzählte Abenteuergeschichten und schlief im Bett meiner Mutter.
III
Ich kann nur schwer beschreiben, was ich die ersten Wochen für Hannah empfand. Sie war die erste Jüdin, die ich kannte. Ich meine, richtig kannte. Natürlich hatte es da ein paar jüdische Geschäfte in unserer Gegend gegeben. Aber die waren schon lange von Deutschen übernommen worden.
Und dann gab es noch die Juden auf der Straße mit ihren komischen Hüten und Zöpfen und langen schwarzen Mänteln.
Ich war zehn oder elf, als ich zum ersten Mal erlebte, wie es war, Macht über Erwachsene zu haben. Wir standen einfach nur da, auf dem Bürgersteig, fünf oder sechs Jungen aus meiner Gruppe. Wir standen da und die Juden, drei erwachsenen Männer, verließen den Bürgersteig und gingen im Morast der Straße weiter. Ein tolles Gefühl war das. Und als einer aus unserer Gruppe sich bückte, aus dem Dreck einen Klumpen formte und nach den Juden warf, drehten sie sich nicht einmal um. Ich konnte ihre Angst spüren und irgendwie bestätigten sie durch dieses Verhalten, durch ihre Angst unsere These vom Herrenmenschen. Wie sonst konnte es passieren, dass diese drei erwachsenen Männer sich vor zehnjährigen Kindern fürchteten? Ich habe dann auch n mit Lehm geschmissen und meine Mutter hat es rausgekriegt und mir gedroht, sie würde mir die Gruppenabende streichen, wenn ich so etwas noch einmal täte. Aber ich war trotzdem immer wieder dabei.
Und später dann sind die Juden von der Straße verschwunden. Geflüchtet oder abtransportiert. Sie würden irgendwo im Osten in Sammellagern untergebracht, hieß es. Ich fand das damals gut. Auf diese Weise konnte man verhindern, dass sich die beiden Rassen noch stärker vermischten, dachte ich. Sie hatten uns damals nämlich von einer heimlichen Unterwanderung durch die Juden gewarnt. Außerdem konnten sie ihnen dort deutsche Werte, Fleiß und Ehrlichkeit beibringen. Man hatte uns erzählt, alle Juden seien faul und würden ihren Lebensunterhalt ausschließlich durch Lügen und Betrügen verdienen. Und tatsächlich konnte ich mich als Vierzehnjähriger nicht daran erinnern, jemals einen arbeitenden Juden gesehen zu haben, außer eben in den Wochenschauen in den Arbeitslagern. Die Juden, an die ich mich erinnerte, standen immer nur herum. Meine Mutter hatte mir damals erklärt, dass niemand mehr einem Juden Arbeit geben würde, aber ich wollte ihr nicht glauben.
Diese Vorstellung von Juden hatte ich also, als Hannah zu uns kam.
Äußerlich passte sie auch irgendwie in das Bild. Schwarzhaarig, dunkel, dürr … sie glich mehr einer streunenden Katze als dem Idealbild, das ich damals von Mädchen hatte.
Sie erzählten uns, alle Juden seien verlogen und hinterhältig. Aber das traf auf Hannah ganz bestimmt nicht zu. Sie war ein offenes Buch. Wenn sie von ihrem Leben, ihren Wünschen, Ideen und Phantasien plapperte, dann war da ganz bestimmt nichts gelogen und irgendeine hinterhältige Absicht hätte ich auch vergeblich gesucht. Bestenfalls noch den Versuch, mich mit ihren Geschichten etwas freundlicher zu stimmen, denn ich behandelte Hannah eigentlich immer noch ziemlich kühl. Sie war nun einmal Jüdin. Das wollte ich nicht vergessen. Immerhin war ich HJ-Gruppenführer, schon mir vierzehn, und ich war stolz darauf. Ich hatte Freunde, deutsche Freunde und legte auf die Freundschaft einer kleinen Jüdin keinen besonderen Wert. Damals überlegte ich auch, ob nicht alle jungen Juden so waren wie Hannah und ob sich die schlechten Charaktereigenschaften nicht vielleicht erst später bildeten. Aber ich fand darauf nirgendwo eine Antwort und fragen konnte ich erst recht keinen.
Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum Hannah so um meine Freundschaft bemüht war. Sie hatte doch meine Mutter und die Alte. Ja, Hannah hatte die Alte rumgekriegt. Sie beiden waren enge Vertraute. Aber von dieser Freundschaft werde ich später erzählen.
Vielleicht brauchte Hannah mich, weil sie gleichaltrige Freunde vermisste. Ich habe das damals einfach nicht sehen wollen. Wahrscheinlich war da für einen Vierzehnjährigen zu viel Gefühl dabei, denn Hannah war trotz meiner Mutter und der Alten einsam. Stundenlang erzählte sie mir, wie das sein würde, wenn sie sich nicht mehr verstecken müsste. Sie würde Freunde und Freundinnen habe, mit ihnen auf der Straße spielen und sie zu Puppengesellschaften einladen. Und alle ließe sie auf Arian reiten.
Ja. Von Arian muss ich auch noch erzählen. Ohne ihn wäre diese Geschichte ganz anderes ausgegangen. Oder vielleicht doch nicht, falls es so etwas wie ein voraus bestimmtes Schicksal gibt. Also Arian war Hannahs dritter Freund, wenn man von mir einmal absieht. Und Arian war ein alter Schimmel, der solange ich denken konnte, auf der Wiese gegenüber unserem Haus graste. Hannah konnte Arian vom Dachfenster aus sehen, und da es sonst nicht besonders viel zu sehen gab, stand sie ewig am Fenster und schaute dem Schimmel zu. Und wenn der Schimmel einmal den Kopf hob, winkte Hannah und behauptete, er habe ihr zugenickt.
Arian … Hannah hatte ihn so getauft, keine Ahnung wie sie auf den Namen kam, … Arian, glaube ich verkörperte für Hannah die Freiheit, die sie nur vom Erzählen kannte. Sie konnte sich hundert Geschichten ausdenken, was sie alles tun und erleben würde, wenn sie endlich hinaus und runter zu Arian gehen dürfte. Sie würde einfach auf ihm davon reiten und die tollsten Abenteuer erleben. Hannahs Geschichten waren so fesselnd, dass ich mich immer wieder dabei ertappte, wie ich gespannt zuhörte. Ich schämte mich dann jedes Mal, weil ich mich von den Phantasien eines kleinen Mädchens, noch dazu einer Jüdin, in den Bann ziehen ließ.
Hannahs Liebe zu Arian und ihr Wunsch, einfach auf ihm in die Freiheit zu reiten, wurden so stark, dass meine Mutter mir einschärfte, immer die Türen verschlossen zu halten. Sie fürchtete, Hannah könnte eines Tages einfach hinaus marschieren und versuchen, ihren Traum war zu machen.
„Dabei muss sie nur noch ein paar Wochen aushalten, dann wird sie wirklich frei sein.“
Ich werde diesen Satz meiner Mutter nie vergessen.
Es war März, als sie es sagte. Wir hatten einen langen, hungrigen Winter hinter uns und versteckten Hannah schon mehr als vier Monate. Meine Mutter meinte die bevorstehende Kapitulation. Damals hasste ich meine Mutter für diesen Satz. Und während sie im Untergrund heimlich die Übernahme Deutschlands durch die Kommunisten vorbereitete, plante ich heimlich weg zu laufen und mich den Volkssturm anzuschließen. Deutschland würde diesen Krieg niemals verlieren. Davon waren alle meine Freunde überzeugt und wir weigerten uns, irgendetwas anderes zur Kenntnis zu nehmen. Ich lief jedoch nicht heimlich weg. Dort war der Volkssturm und hier waren meine Mutter, die Alte und eben auch Hannah. Sie brauchten mich in diesem Hungerfrühling. Wer sonst sollte ihnen Lebensmittel organisieren? Ich kannte mich auf dem Schwarzmarkt aus und hatte genügend Beziehungen, um trotz allem immer noch irgendwoher etwas Essbares zu besorgen. Ich war es, de diese seltsame Familie durch den Winter gebracht hatte. Und ich war stolz darauf und ich konnte sie jetzt, im Frühjahr nicht sich selbst überlassen.
Also musste der Volkssturm warten.
IV
Und dann, völlig unerwartet für mich, war alles vorbei.
Aber zuerst muss ich noch von Hannahs Freundschaft mit der Alten erzählen.
Wir konnten Hannah natürlich nicht mir in den Luftschutzbunker nehmen. Und die Alte, vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht aus Gleichgültigkeit weigerte sich schon lange, bei jedem Luftangriff ihren Schaukelstuhl zu verlassen. So blieben die beiden also während der Luftangriffe gemeinsam in der Dachkammer. Hannah erzählte mir immer alles, was sie in unseren vier Zimmern erlebte. Aber sie hat niemals, bis auf eine Ausnahme, berichtet, was die Alte und sie während der vielen Luftangriffe in der Dachkammer taten. Ich wusste nicht einmal, ob sie da oben Angst hatte, ob sie zum Fenster hinaus schaute, sich irgendwo verkroch oder einfach so tat, als sei nichts, ob die beiden redeten, schwiegen oder zusammen beteten. Ich habe von Hannah auf diese Fragen nie eine Antwort bekommen und irgendwann habe ich aufgehört zu fragen.
Und dann kam Hannah nach einem Luftangriff ganz aufgeregt aus der Dachkammer und begann zu erzählen: „ Ich weiß jetzt, wann ich rausgehen darf. Wann das hier alles zu Ende ist. Wann ich meine Eltern und alle alten Freunde wieder treffen werde. Es wird gar nicht mehr lange dauern. Sie weiß es, die Alte, sie hat es mir gesagt.“
Ich war wütend auf die Alte, weil sie Hannah Hoffnung gemacht hatte.
„Was hat sie dir gesagt?“ wollte ich von Hannah wissen.
Und Hannah erzählte voller Freude:“ ‚Wann kann ich endlich da raus gehen? ‘ habe ich sie gefragt und die Alte hat geantwortet: ‚ Bald. Wenn du einen schwarzen Schimmel siehst, wirst du frei sein.“
Meine Wut auf die Alte wuchs. Warum musste sie sich über Hannahs Sehnsucht lustig machen?
„Die Alte hat das nicht ernst gemeint. Es gibt keine schwarzen Schimmel, Hannah.“
Aber Hannah ließ sich nicht beirren. Von diesem Tage an stand sie noch häufiger am Fenster. Sie winkte Arian zu und hielt Ausschau nach dem schwarzen Schimmel.
V
Es war in einer Nacht Anfang Mai. Selbst mir gelang es kaum noch etwas zum Essen aufzutreiben und wir waren alle mit leerem Magen zu Bett gegangen. Irgendwann muss ich trotz meines Hungers eingeschlafen sein, denn ich hatte nicht gemerkt, dass Hanna aufgestanden war und wieder einmal an meinem Fenster stand, um auf ihren schwarzen Schimmel zu warten. Ich wurde erst wach, als Hannah aufgeregt an die Fensterscheibe klopfte.
„Nein!“ schrie sie, „das dürfen sie nicht machen. Sie dürfen Arian nicht mitnehmen! Sie haben schon so viele mitgenommen! Nicht auch noch Arian!.“
Hannah wurde immer aufgeregter und plötzlich drehte sie sich um und rannte aus dem Zimmer.
In diesem Moment wurde mir klar, was da passierte und auch, dass sich vergessen hatte, die Haustür abzuschließen. Ich sprang aus dem Bett, warf einen kurzen Blick durch das Fenster auf den LKW des Abdeckers und rannte hinter Hannah die Treppe hinunter. Ich hoffte, sie noch aufzuhalten. Wenn sie da unten einen Aufruhr verursachen würde, wären wir alle dran. Und dann fiel die Tür ins Schloss und ich wusste, dass ich zu spät kam. Und ich hörte Motoren und dann Reifen quietschen und Leute durcheinander schreien. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Aber als ich die Haustür öffnete, sah ich die Straße und wusste, was sie meinten.
Ich ging zu Hannah und hockte mich neben sie. Sie strahlte mich an: „Siehst du, du wolltest mir nie glauben! Es gibt ihn doch, den schwarzen Schimmel! Ich habe ihn gesehen, eben, als er im Licht des Autos auf mich zukam. Die Alte hatte recht. Jetzt werde ich bald frei sein und auf Arian reiten.“
VI
Eigentlich ist dies das Ende meiner Geschichte.
Hannah ist überfahren worden.
Ausgerechnet von denen, die ihr die Freiheit bringen sollten. In jener Nacht sind die Russen in unser Dorf einmarschiert.
Eine unbedeutende Geschichte, meine Geschichte von Hannah. Was bedeutet schon eine tote Jüdin mehr, gemessen an den hunderttausenden, die in den KZs starben. Aber ich habe keinen dieser Juden gekannt, die sie in den KZs ermordeten. Hannah aber kannte ich. Sie hatte Augen, Hände, Arme, Beine und einen Namen. Und sie erzählte mir von ihren Ängsten, ihren Träumen und ihrer Hoffnung.
Vielleicht, wenn jene große Geschichte mit den vielen Toten auch von Gesichtern mit Namen handeln würde, könnte ich es begreifen.
Gott bewahre mich davor. Ich kann mit meiner Geschichte und meiner Schuld kaum leben.
Wie sollte ich die große Geschichte aushalten!