„Das ist das Martinshorn des Krankenwagens.“ Das Heulen der Polizeisirene hatte Karin wenige Minuten zuvor gehört. „Seltsam“, dachte sie, „ früher sind mir diese Geräusche nie aufgefallen.“ Sie nahm eine weitere Kartoffel, viertelte sie sorgfältig und legte sie zu den anderen in den Topf. Erst seit Lisa den Führerschein hatte und mit ihrem eigenen kleinen Auto unterwegs war, ist ihr bewusst geworden, wie allgegenwärtig die Polizeisirenen waren. Sie wusste, sie waren schon immer da gewesen. Sie wohnten in der Nähe eines Krankenhauses und nur wenige Kilometer vom Autobahnkreuz entfernt. Aber früher waren die Sirenen mit den anderen Hintergrundgeräuschen ihres Alltags verschmolzen.
Lisa hatte sich so gefreut, als sie ihr den roten Fiesta zum 18. Geburtstag schenkten. Ihr Mann hatte ihn gebraucht gekauft und ihn heimlich in der Garage seines Bruders instandgesetzt. Ungezählte Stunden verbrachten die beiden mit der Arbeit an dem Wagen. „Muss der wirklich so aufwendig neu lackiert werden?“ hatte Karin gefragt. „Ihr hängt schon seit Wochen jede freie Minute an den Wagen. Wichtig ist doch die Sicherheit, nicht das Aussehen.“ „Das erste eigene Auto, daran erinnert man sich ein Leben lang. Davon wird sie ihren Kindern noch erzählen. Das soll schon etwas hermachen, “ erwiderte Karl, als er wieder einmal am Samstagnachmittag zu seinem Bruder fuhr. Karin lächelte, als sie sich an den Eifer ihres Mannes erinnerte. Dies war seine Art, Lisa zu zeigen, wie stolz er auf sie war. Sie hatte dann eben wieder einmal das Rasenmähen übernommen. So hatten sie es immer gemacht: einer stand für den anderen ein. So hielten sie ihre kleine Familie zusammen. Die Kartoffeln waren fertig geschnitten. Sie goss Wasser darauf und stellte den Kochtopf auf die Herdplatte. Lisa war an ihren Geburtstag sofort mit ihrem roten Flitzer davon gebraust. Eigentlich hatten sie ja gehofft, dass sie diese erste Spitztour gemeinsam mit ihrer Tochter unternehmen würden. Ein bisschen enttäuscht war Karin damals schon. „Lass sie doch“, hatte Karl gemeint und ihr tröstend den Arm um die Schulter gelegt. So standen sie dann vor ihrem Haus und schauten dem kleinen roten Fiesta nach. An diesem Tag hatte Karin zum ersten Mal bewusst auf die Polizeisirenen gelauscht. Sie hatte Karl davon erzählt und von ihrer Angst. „Das machen alle Eltern durch“, beruhigte er sie. „Lisa ist vernünftig und besonnen. Du hast sie ein Jahr lang beim Fahren begleitet. Du weißt, dass sie sicher fährt, “ hatte er noch hinzugefügt. Karin begann, den Blumenkohl zu putzen. Sie löste die Röschen behutsam voneinander und spülte sie sorgfältig unter dem fließenden Wasser ab. „Eigentlich müsste sie schon da sein“, dachte sie. „Der Unterricht war schon seit fast einer Stunde beendet.“ Voller Stolz fuhr Lisa jeden Morgen mit ihrem roten Flitzer die sieben Kilometer zum Gymnasium. In ein paar Tagen würde das Abitur beginnen. Das Kleid für die Abiturfeier hatten sie gemeinsam gekauft. Lisa sah wunderschön darin aus und erwachsen. „Eine richtige junge Dame“, hatte Karl bewundernd gesagt. Karin stellte den Topf mit dem Blumenkohl auf eine Herdplatte. Sie freute sich auf das gemeinsame Mittagessen. Geschickt panierte sie die Schnitzel und legte sie in die Pfanne mit dem heißen Fett. Jetzt wurde es wirklich Zeit. Lisa kam eigentlich nie zu spät. Aber vielleicht besprach sie noch ihr Thema für das mündliche Abitur. Wenn nur die Sirenen nicht gewesen wären. Karin sah zu dem Handy, das auf dem Küchentisch lag. Ob sie doch anrufen sollte? Aber bestimmt war Lisa schon unterwegs. Das Klingeln des Handys würde sie dann nur unnötig ablenken. Sie seufzte. Lisa hätte ruhig anrufen können, sagen, dass es später werden würde. Karin wünschte sich etwas mehr von der heiteren Gelassenheit ihres Mannes. „ Keine Nachricht, gute Nachricht“, pflegte er zu sagen. „Die Jugend meldet sich bei den Alten nur, wenn es klemmt. Das war schon immer so. Wir waren nicht anders.“ Wenn nur die Polizeisirenen nicht gewesen wären und das Martinshorn des Krankenwagens. „Keine Nachricht, gute Nachricht.“ Karin merkte gar nicht, dass sie diese Worte wie ein Mantra immer wieder flüsterte. Dann ertönte der Westminsterklang der Türklingel. „Endlich“, dachte sie erleichtert. „Lisa hat wohl wieder ihren Haustürschlüssel vergessen.“ Die Frau eilte zur Tür. Sie öffnete und schaute in die ernsten Gesichter der beiden Polizisten. „Guten Tag Frau Thon“, begann einer der beiden. „Sind sie die Mutter von Lisa Thon? Können wir vielleicht hereinkommen?“ „Ja, sicher, kommen sie“, flüsterte Karin. Mit hölzernen Schritten ging sie den Polizisten voran ins Wohnzimmer. „Ich … mir ist kalt …. „ begann sie. „Setzen sie sich doch … ich mache Kaffee … nein … keinen Kaffee …. Ich muss ….“ Karin hastete in die Küche. Sie hatte das Gefühl, als würde sie jemand unter Wasser drücken. Als könne sie nicht mehr atmen. Die Stimme des Polizisten klang als wäre da Watte, durch die er sprach. „Was hatte er gemeint?“ Egal. Zuerst musste sie die Kartoffeln abgießen. Lisa hasste verkochte Kartoffeln. Dann würde sie die Schnitzel in Alufolie einschlagen, um sie warm zu halten. Karin wandte sich dem Polizisten zu: „Wir werden heute später essen, nicht wahr?“ flüsterte sie. Es war keine Frage, es war ein Flehen, das sie an den Polizisten richtete, der ihr sanft die Alufolie aus der Hand nahm. “Sie haben sie auch gehört, die Sirenen, nicht wahr? Aber Lisa müsste bald da sein. Sie hat nicht angerufen. Aber keine Nachricht, gute Nachricht. So ist es doch. Wenn nur die Sirenen nicht gewesen wären.“