Viele meiner Kurzgeschichten jetzt auch zum Mitnehmen !
Ein bisschen Mord, ein bisschen Mystery, ein bisschen skurriler Alltag, ein bisschen Nachdenkliches
Taschenbuch
164 Seiten
ISBN: 9783737566339
Verlag: epubli
als e book erhältlich € 2,99
Bevor er davon fuhr legte er kurz den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich: „Nicht weinen! Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt.“ Sie schaute zu ihm auf. Wie groß er geworden war! In der ersten Zeit rief er an. Manchmal. Am Wochenende. Viel zu tun. Der Job. Die neue Wohnung. Die Leute hier sind klasse. Geile Schnecken in den Kneipen. Ich komme vorbei, wenn sich alles eingespielt hat. Oder Weihnachten. Vielleicht. Mal sehen, was die anderen vorhaben.
Die Christmette hat sie zu Hause am Fernsehen angeschaut. Ihr war immer so kalt in der Kirche. Und was wäre, wenn er käme, während sie in der Kirche war. Niemand würde ihm öffnen. Und seine Schlüssel hatte er hier gelassen. Ihre Schwester lud sie am ersten Weihnachtstag zum Essen ein. Sie lehnte ab. Ginge leider nicht. Könnte sein, dass Jens kommt, dann musste sie doch daheim sein. Rouladen hatte sie gekocht. Und Rotkohl. Sein Lieblingsessen. Er kam auch am zweiten Weihnachtstag nicht. Am Neujahrstag schickte er eine SMS. Der Sohn der Nachbarin hat sie ihr vorgelesen. „Der besten Mutter der Welt! Ein gutes, neues Jahr! Viele Grüße aus Paris!“ Ob man das ausdrucken kann, hat sie den Nachbarjungen gefragt.
Einmal hat sie ihn angerufen. Nur so. Auf seinem Handy. Er war wütend geworden. Was das solle? Er sei gerade in einem wichtigen Meeting. Sie solle ihm nicht immerzu nachspionieren.
Eine Woche später hat er sie angerufen. Sich entschuldigt. Ja. Ostern klingt gut. Vielleicht Ostern. Falls nicht Rita … Mal sehen.
Freunde hatten sie eingeladen in ihr Ferienhaus an der Nordsee. Ein nettes Angebot. Ja, sie würde gerne mitfahren. An Ostern? Nein, zu Ostern würde Jens kommen. Und er würde Rita mitbringen. Sie hat sich beeilt mit den Ostereinkäufen. Schließlich sollten die beiden nicht vor verschlossener Tür warten müssen. Die Sahnetorte warf sie am Dienstag in die Mülltonne. Den Osterzopf aß sie unter der Woche. Er war trocken, aber zum Kaffee. Bestimmt war ihm etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Sie prüfte, ob ihr Handy geladen war, falls er anrief. Oder hatte er nach Ostern gesagt? Am nächsten Freitag kaufte sie für drei ein und wartete. Samstag und Sonntag verließ sie nicht das Haus. Sie betrachtete die Fotos auf der Kommode. Wie groß er geworden war. Und so selbständig. Dienstag wählte sie mit zitternden Fingern seine Handynummer. „Diese Rufnummer ist nicht vergeben.“ „Nein“, sagte der Nachbarjunge, „dein Handy ist nicht kaputt. Vermutlich hat Jens eine neue Handynummer.“ Sie nickte. Er hatte wohl vergessen, ihr die neue Handynummer zu geben.
Ihre Freunde schüttelten den Kopf. „Du musst doch nicht jedes Wochenende zu Hause sitzen und auf den Kerl warten. Er kann anrufen, bevor er vorbei kommt.“ Sie verstanden nicht. Er hatte noch nie vorher angerufen. So war er nicht. Eines Tages würde er einfach vor der Tür stehen. Sie würde da sein und ihm öffnen. Er würde wieder seinen Arm um ihre Schulter legen und sie kurz an sich ziehen. „Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt“, hatte er gesagt. Sie würde zu ihm aufschauen und lächeln. Ihr Junge! So groß! So erwachsen! So selbständig! Nein, sie würde am Wochenende nicht mehr mit ihren Freunden weggehen. Die Freunde konnte sie auch unter der Woche treffen. Aber ihren Jungen … Was wäre sie eine schlechte Mutter, wenn sie nicht daheim wäre, wenn der Junge käme.
Den Muttertag verbrachte sie zu Hause in der Nähe des Telefons. Sie hatte Kuchen gebacken und die Türklingel kontrolliert. Manchmal trat sie auf die Türschwelle und schaute die Straße hinunter. Dabei hatte sie so ein Gefühl. Als wenn er jeden Moment käme.
Vielleicht käme er auch gar nicht an einem Wochenende. Vielleicht war er schon da gewesen. Letzte Woche. Am Dienstag vielleicht. Während sie beim Frisör war. Er hatte sie überraschen wollen, aber sie war nicht da. Bestimmt hatte ihn das enttäuscht. Oder verärgert. Bestimmt hatte er deshalb zu Muttertag nicht angerufen. Was sollte er auch von einer Mutter halten, die lieber zum Frisör geht, anstatt nur dieses eine Mal für ihren Sohn zu Hause zu sein?
So fing es an, dass sie das Haus nicht mehr verließ. Noch nicht einmal zum Einkaufen. Den Nachbarjungen freute das zusätzliche Taschengeld. „Du musst Dir helfen lassen. Das ist nicht mehr normal“, sagten die Freunde. Sie schüttelte den Kopf. Was wussten sie schon von diesem besonderen Band zwischen Mutter und Sohn. Jeden Morgen nahm sie sein Foto von der Kommode, stellte es vor sich hin und sprach mit dem Sohn. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie die Verbindung spüren. Sie konnte fühlen, dass er an sie dachte. Sie fühlte seine Sehnsucht nach ihr. Sie fühlte wie sehr er unter der Trennung litt. Wie gerne er gekommen wäre. So erwachsen. So selbständig. Jeden Morgen versprach sie ihm, zu warten, da zu sein, wenn er an ihre Tür klopfen würde. Für ihn da zu sein. Immer.
Als die Schmerzen begannen, ließ sie sich vom Nachbarjungen Schmerzmittel aus der Apotheke besorgen. Als die Schmerzen heftiger wurden, überlegte sie, ob sie den Arzt ins Haus bestellen sollte. Der Nachbarjunge war rot geworden, als sie ihn zum ersten Mal bat, Binden zu kaufen, die größte Größe und eine Flasche Korn. Die blutdurchtränkte Unterwäsche hatte sie in den Müll geworfen. Sie kannte ihren Körper. Sie wusste, was die Schmerzen bedeuteten. Der Arzt würde sie ins Krankenjaus überweisen. Operation. Mehr als acht Tage nicht zu Hause. Deshalb rief sie keinen Arzt. Sie litt. Aber es war normal für eine Mutter, zu leiden. Das war das Los der Mutter. Sie hatte ihn unter Schmerzen geboren. Es hatte sie fast zerrissen. Wieder fühlte es sich an, als würde etwas in ihr zerreißen. Fast als würde sie ihn ein zweites Mal zur Welt bringen. Sie würde auch diese Schmerzen aushalten. Nur noch diese Schmerzen aushalten, und er wäre da. Wieder bei ihr.
Der Nachbarjunge hat sie gefunden und die Eltern gerufen. Der Arzt schüttelte bedauernd den Kopf: „Ich kann nichts mehr tun.“ „Sie müssen loslassen“, sagte der Priester. „Nein“, stöhnte sie. „Warten. Er kommt. Bestimmt.“ Sie kämpfe verbissen. Schweißnass. Stöhnte. Weigerte sich zu gehen. Ihre Schwester war da, weinte, streichelte ihre Hand:“ Es ist in Ordnung. Mach es Dir nicht so schwer.“ Mühsam hob sie den Kopf. Das Foto. „Warten!“ Ihr Blick zur Tür. Die Schwester schüttelte den Kopf: „Nein! Er wird nicht kommen. Wir haben ihn nicht einmal erreicht!“
Sie schloss die Augen. Warten. Er wird kommen. Dieses besondere Band. Er würde ihr nie verzeihen, wenn sie jetzt ging. Wenn sie ihn verließ, ohne dass er sich verabschieden konnte. Er würde ihr das nie verzeihen.
Er war auch zur Beerdigung nicht gekommen. Den Verkauf des Hauses hatte er von Berlin aus abgewickelt. Er war großzügig: Die Schwester konnte sich aus dem Haushalt nehmen, was sie wollte. Es war ihm egal.
Der Makler stöhnte, als er das Haus schon wieder zum Verkauf anbieten sollte. „Ich kann in diesem Haus nicht glücklich werden“, sagten alle, die es bewohnten, „immer wenn ich es betrete, umfängt mich diese traurige Sehnsucht.“
„Es ist ihre Seele“, vertraute die Nachbarin der Schwester an. „Ihre Seele kann das Haus nicht verlassen, sie wartet immer noch.“