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Weihnachtsmarkt

Kalt war es. Sehr kalt. Die Kälte hatte ihn geweckt. Mühsam stand der Alte vom Boden auf, stieg unbeholfen über die fleckige Matratze und schlurfte ins Bad.
„Es wird schon wieder dunkel“, dachte er und ließ die Tür zum Flur auf. Die Glühbirne im Bad war schon lange kaputt. Aber eigentlich reichte ihm auch das wenige Licht, das vom Flur hereinfiel. „Ich bin ja keine Tussie, die stundenlang vorm Spiegel steht“, hatte er gestern in der Kneipe erklärt. Der Alte grinste bei der Erinnerung. War ein schöner Abend gewesen und lang. Eigentlich hatte er ins Aldi gewollt, noch etwas zu Essen kaufen, bevor das Geld wieder weg war. Dann hatte er spontan beschlossen, bei Anni rein zu schauen, nur auf ein Bier und ein paar Worte. ‚So was braucht der Mensch eben auch von Zeit zu Zeit‘ hatte er sich gesagt. Er hatte schon seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen. Und dann wurde es richtig gut. Er stand am Tresen und erzählte von seiner Glühbirne im Bad und wie er eine neue kaufen wollte und wie die Verkäuferin an der Kasse ihm 8 Euro fünfzig für eine einzige Birne abnehmen wollte. „Energiesparlampe – was soll ich mit so ‚nem teuren Ding?“ hatte er sie gefragt und die Verkäuferin erklärte ihm, dass solche Lampen 10 Jahre lang hielten und dann erzählte er seinen Kumpels was er der geantwortet hatte: „Was soll ich mit einer Birne, die mich am Ende noch überlebt!“ Und die Kumpels hatten gelacht und ihm auf die Schulter geklopft und ihm einen ausgegeben. War ja auch echt gut, die Antwort. Der Alte musste wieder grinsen. Richtig gut drauf gewesen war er gestern, hatte die halbe Kneipe unterhalten mit seiner Geschichte von der Glühbirne. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er sie erzählen musste. Erst als Anni meinte, es reiche nun, er solle die Gäste in Ruhe lassen, hatte er noch ein Bier und einen Kurzen bestellt und sich an den kleinen Tisch in der Ecke gehockt. Manchmal konnte Anni ganz schön zickig sein. Die Leute fanden die Geschichte doch gut. Aber er wollte es sich mit Anni nicht verderben. In der Kneipe war es warm und Anni ließ ihn in Ruhe, auch wenn er stundenlang vor einem Bier saß. Er war überzeugt, sie wusste, dass er den mitgebrachten Schnaps heimlich auf der Toilette trank. Sie war eben eine gute Seele. Sie ließ ihn da sitzen und gegen Ende des Monats stellte sie ihm manchmal ein Bier hin, das er h nicht bezahlen musste. Sie verstand ihn eben, solange er ihre Gäste in Ruhe ließ. Aber gestern war sie wirklich empfindlich gewesen. „Er solle sich mal waschen“, hatte sie noch gesagt. War wahrscheinlich der Weihnachtsstress, da wurden die Leute komisch.

Der Alte schlurfte vom Bad zurück in die Küche. Kalt war es. Er öffnete die Backofentür und drehte den Herd an. Den schäbigen Sessel rückte er ganz nah an den Backofen. Dann trank er einen Schluck aus der Flasche, die griffbereit auf dem Herd stand. „Das muss jetzt sein“, beschwichtigte er sich selbst, „ einen gegen die Kälte“ und zog seinen Mantel an. Er hatte in den Kleidern geschlafen. „Wenn’s noch kälter wird, wird’s eng. Dann schafft der Herd das nicht mehr,“ dachte der Alte. Aber die Heizung war kaputt, schon seit Monaten. Irgendetwas am Heizkörper musste es sein. Er hatte sich bei der Frau in der Wohnung nebenan erkundigt, da ging die Heizung. Er hätte dem Vermieter Bescheid sagen können, schließlich zahlt das Amt ja die Miete, da hatte er auch ein Recht auf eine funktionierende Heizung. Aber erst musste er aufräumen, bevor er einen Handwerker in die Wohnung ließ und irgendwie war er noch nicht dazu gekommen. Und jetzt war es Winter.
„Du könntest dich ruhig mal waschen“, hatte Anni gesagt.
Früher hatte er sogar manchmal gebadet und sich rasiert, aber ohne Heizung gibt es auch kein warmes Wasser und die Glühbirne im Bad war kaputt – so viel zum Rasieren. Wieder grinste der Alte vor sich hin „… und ich werde kein Geld ausgeben für eine Glühbirne, die mich überlebt.“ Der Witz war wirklich gut. Und wozu auch Baden, wenn er sowieso wieder die gleichen Kleider anzog. Selbst wenn die Waschmaschine wieder funktionieren würde, wie sollte er die Wäsche denn trocken kriegen in der kalten Wohnung?
Aber Hunger hatte er. Die eingetrockneten Suppenreste in dem Topf auf dem Herd sahen nicht besonders einladend aus. Er roch daran. „Besser nicht“, dachte er. „Als ich das das letzte Mal probiert habe, hat es mich fast zerrissen.“
Der Alte beschloss, sich erst einmal eine Zigarette zu drehen. Langsam wurde es auch etwas wärmer im Zimmer. „Scheiße“, fluchte er, als im Tabak und Papier durch die Finger rutschten. “ Ich zittere ja immer noch vor Kälte und die Finger sind auch ganz steif.“ Ein Kumpel hatte mal gesagt, das sei Gicht, das könne man an den kleinen Knötchen sehen und das käme vom Saufen. „Du musst es ja wissen“, hatte er ihm geantwortet, „das ist das Alter, sonst nix.“ Tatsächlich hatte sein Vater das auch gehabt, erinnerte er sich jetzt. Der Alte zündete sich endlich eine Zigarette an. Sein Vater konnte später gar nicht mehr drehen. Deshalb hatte er die kleine Maschine. Er erinnerte sich, wie sein Vater Samstagsnachmittags am Küchentisch saß und mit seiner Maschine Zigaretten drehte; sogar welche mit Filter. Als kleiner Junge hatte er fasziniert daneben gesessen und zugeschaut, wie schließlich ein kleiner Plastikvogel nach vorne kippte und dann mit einer Zigarette im Schnabel wieder hoch kam. Er hatte nie verstanden, wie es funktionierte, aber es hatte ihm gefallen. Vielleicht sollte er sich auch so eine Maschine besorgen. Der Vater hatte jeden Samstag seine Zigaretten für die kommende Woche gedreht. Er drehte sie und teilte sie dann in sieben Häufchen auf. Für die ganze Woche. Sieben Tage, sieben Häufchen. „Man muss lernen, sich einzuteilen“, hatte er dabei gesagt. „Recht hat er gehabt,“ dachte der Alte und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Er begann, sich eine zweite Zigarette zu drehen. „Jetzt wird mir langsam warm, er spürte es und das Zittern hörte auf. Aber er würde mir auch nicht erklären können, wie man so wenig noch einteilen soll. Wenn er am ersten sein Geld bekam, musste er erst einmal die Schulden zurück bezahlen. Nix Großes. Überall nur ein paar Euro, die er sich bei seinen Kumpels oder im Getränkemarkt geliehen hatte. Er war immer bemüht, die Schulden zurück zu zahlen, er war darauf angewiesen, dass sie ihm wieder etwas liehen, wenn es gegen Ende des Monats nicht reichte. „Der Typ im Fernsehen hat genau so geredet wie mein Vater“, überlegte er, „ nur dass mein Vater wusste wovon er redete.“ „ Und wenn die keine Bewerbung schreiben wollen, dann muss man denen eben die Leistungen kürzen“ „ Die wissen doch echt nicht, wovon sie reden,“„ grummelte der Alte vor sich hin. Er hatte die Leute auf dem Amt dann gefragt, wo er sich denn bewerben sollte. Aber das war denen egal, irgendwo eben, haben sie gesagt. Und es käme ja nur darauf an, dass ihnen Ende des Monats fünf Bewerbungen vorliegen würden. Er hatte dann noch gefragt, ob sie ihm noch eine Schreibmaschine und Papier leihen würden und dann meinten sie, er solle jetzt nicht noch frech werden. Der Alte merkte, wie alte Wut wieder in ihm hochkam. Er hatte keine Bewerbungen geschrieben. Wie denn ? Und warum auch ? Er hatte sich die 10 Euro Porto und so gespart, wäre doch sowieso rausgeschmissenes Geld gewesen. Und sie hatten ihm die Leistungen gekürzt.

Dem Alten knurrte der Magen. Er stand auf und griff nach seinem Rucksack. Es brachte nichts, über das alles nachzugrübeln. Er musste raus, heute würde er einkaufen gehen.
Auf dem Weg nach unten fiel ihm ein, dass Sonntag war. Als es vor die Tür trat, war es schon dunkel. Er hatte tatsächlich den ganzen Tag verschlafen. Er blieb stehen und hörte das Gedudel vom Weihnachtsmarkt. Ein Geruch von Glühwein, Zimt und Knoblauch wehte zu ihm herüber. „Warum nicht“, dachte er „schließlich musste er etwas essen.“
Unterwegs hielt er an einem Mülltonne an. Er hatte vor kurzem begonnen, im Vorbeigehen die Mülltonnen nach Pfandflaschen zu durchsuchen. Er nannte es „seinen Zuverdienst“ und ein oder zwei Euros kamen immer zusammen. Steuerfrei – immerhin. „Nein“, dachte er, „ heute nicht. Heute ist Sonntag und du gehst zum Weihnachtsmarkt und spendierst dir einen Glühwein und eine Wurst.“
Die Wurst war teuer, aber es gefiel ihm, sie wie alle anderen an der Bude zu essen und dabei das Treiben des Weihnachtsmarktes zu betrachten. Auf den Kauf des Glühweins verzichtete er. Der Alte hatte längst bemerkt, dass die meisten ihren Glühwein nicht ganz austranken, weil er kalt nicht mehr schmeckte. Sie stellten die Pappbecher mit den Resten auf den Stehtischen ab. Er hatte Übung. Schnell schüttete er ein paar Reste zusammen und schlenderte dann mit einem gefüllten Becher an den Buden vorbei. „Schmeckt gar nicht mal so schlecht“, dachte er, als er das Ganze wiederholte. Er kam langsam in Stimmung. „Wir Deutschen verstehen es schon, Weihnachten zu feiern“, der Alte war zufrieden und summte ein Weihnachtslied. „Mein Gott, ich werde ja richtig sentimental“.
Dann fiel ihm der Junge auf. Er stand alleine an einem der Stehtische und aß eine Wurst. „Niemand sollte heute alleine sein. Vielleicht hat er Streit mit der Freundin, “ überlegte der Alte und beschloss, sich zu ihm zu gesellen. Er würde ihn aufheitern, er würde ihm von seinen Frauengeschichten erzählen, vielleicht würde er ihm auch die Sache mit der Glühbirne erzählen und der Junge würde lachen und ihm auf die Schulter klopfen und wer weiß, vielleicht würde sie sich noch in eine Kneipe setzen und ein bisschen reden. So dachte der Alte und stellte sich zu dem Jungen. Er vergoss einen Teil seines Glühweins, als er ihn auf dem Tisch abstellte, und der Junge wich einen halben Schritt zurück als sich der Alte vertrauensvoll zu ihm hinüberbeugte. “na – hat dich deine Tussie hier stehen lassen und ist mit einem anderen abgezogen?“ Aufmunternd legte der Alte den Arm um die Schulter des Jungen. Der Junge wich noch einen Schritt zurück und schüttelte den Arm des Alten ab. „Was willst du von mir alter Mann? Hau ab! Du bist besoffen und stinkst!“ „ Wie redest du denn mit mir? Da will man mal freundlich sein und dann so was!“ Der Alte war empört und beleidigt. Er schwankte auf den Jungen zu, doch der drehte sich einfach um und ging davon. „Habt ihr das gesehen?“ rief der Alte den Umstehenden zu. „Benimmt man sich so? Geht man so mit dem Alter um? Die haben keinen Respekt mehr, die Jungen!“ Er sprach laut in die Menge, aber niemand beachtete ihn. Es schien ihm sogar, als würden sich die Leute absichtlich von ihm wegdrehen, ihn absichtlich nicht bemerken. Seine gute Stimmung war verflogen. „Dann eben nicht“, dachte er. „Alles Spießer! Kümmern sich nur um sich selbst! Was hab ich hier eigentlich verloren? Hätte ich ja auch wissen können!“ Er merkte gar nicht, dass er immer noch laut vor sich hin sprach. Und er redete sich so langsam in Wut. Aber die Leute wichen ihm aus, seine Wut fand kein Gegenüber.
Er beschloss, nach Hause zu gehen. Wenn er sich beeilte, konnte er noch an der Tankstelle vorbei gehen. Er hatte ja seinen Rucksack dabei und Geld. Genau, das würde er machen. Er würde seine Biervorräte auffüllen und sich eine gute Flasche Wodka gönnen. Es würde jetzt sogar warm sein in seinem Zimmer, er hatte ja den Backofen angelassen und dann würde er sich einen gemütlichen Fernsehabend machen und die Sache mit dem Jungen einfach vergessen. Warum sollte er sich über so einen Grünschnabel eigentlich aufregen, der wusste doch nichts vom Leben.
Aber der Alte dachte immer noch an den Jungen, als er beladen mit seinem Rucksack voller Bierflaschen und dem Wodka in der Manteltasche Richtung Wohnung torkelte. „Die sollen doch erst mal etwas leisten im Leben“ grummelte er vor sich hin.
Und dann sah er ihn, den Jungen vom Weihnachtsmarkt. Er ging nur zehn Meter vor ihm. Immer noch alleine. Und er spürte, wie die Wut wieder in ihm hoch kochte. „ Hey Junge!“ rief er, „ist deine Alte immer noch nicht zurück. Bist ja immer noch alleine unterwegs.“
Der Junge ging schneller, tat so, als hätte er nichts gehört.
„So ein arrogantes Arschloch“, dachte der Alte. Aber der würde sich schon noch umdrehen.
„Was denn ? Was rennst du denn so? Gib deiner Tussi doch Zeit, sich von ihrem Lover zu verabschieden bevor du nach Hause kommst.“ Der Junge war stehen geblieben und drehte sich zu dem Alten um. „ Halt endlich die Klappe alter Mann! Hör auf hier durch die Straße zu schreien.“
Aber der Alte dachte gar nicht daran, aufzuhören. Er hatte bemerkt, wie unangenehm die ganze Sache dem Jungen war und er fühlte sich stark und auch irgendwie im Recht. „Er hätte mich auf dem Weihnachtsmarkt nicht so stehen lassen dürfen, so geht man nicht mit Menschen um“, dachte er.
„ Ich denke gar nicht daran, aufzuhören!“ schrie er dem Jungen entgegen, als der auf ihn zu kam. „ Im Gegenteil, es können ruhig alle hören, womit deine Tussi eure Haushaltskasse aufbessert …!“
Der Alte wusste gar nicht so genau, was geschehen war, als er plötzlich am Boden lag. Leute waren dazu gekommen. Einer schlug vor, die Polizei zu rufen. Ein anderer zog den Jungen von ihm weg, ging mit ihm ein Stück die Straße entlang und achtete darauf, dass er nicht mehr umkehrte. Mühsam rappelte der Alte sich auf. Niemand half ihm. Fluchend hob er seinen Rucksack vom Pflaster und schüttelte die Glasscherben und Bierreste aus. „So weit ist es gekommen!“ schimpfte er „ da kann ein braver Bürger abends noch nicht mal mehr vor die Haustür gehen! Schaut euch die Sauerei an! Der gehört doch eingesperrt!“
„Lass gut sein, alter Mann“, sagten sie, „geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus.“

… ach ja … und der Schaum des ausgeflossenen Bieres hat im gelben Licht der Straßenbeleuchtung ein bisschen so ausgesehen wie trüber Schnee als wir darüber hinweg stiegen auf unserem Nachhauseweg vom Weihnachtsmarkt.
Ä

Dies ist keine wahre Geschichte, mit Ausnahme der letzten beiden Abschnitte. Aber es könnte so gewesen sein.

Weihnachten

Er hatte lange geschlafen. Es muss Nachmittag sein, überlegte er. Warum hatten sie ihn nicht zum Essen geweckt? Der Junge stand auf. Es war kalt im Zimmer. Jeans, T-Shirt und Pullover lagen noch am Boden, dort, wo er sie heute Morgen hingeworfen hatte. Schnell schlüpfte er in die Hose, zog das T-Shirt und den Pullover über. Dass die Kleider nach Rauch und Bier rochen, störte ihn nicht. Er hatte Hunger.
Der Junge stieg die Treppe hinunter. Zum ersten Mal bemerkte er die Spinnweben am Geländer. Die Treppe war schon lange nicht mehr geputzt worden. Sie lässt sich ganz schön hängen, dachte er. Seit dem Tod vom Alten war sie so. Zwei Monate ist das jetzt her. Mein Gott, war das ein Aufstand. Dabei wussten doch alle, was los war. Todgesoffen hat er sich. Leberkrebs. War ein Scheißtod. Eigentlich waren wir alle froh, als es endlich vorbei war. Sie hätte sich doch auch freuen müssen, so, wie der mit ihr umgesprungen war, die letzten Jahre.
Der Junge betrat die Küche. Heiß war es hier und stickig. Sie hatten sich nie eine Zentralheizung leisten können. Er hasste es, die Kohlen aus dem Keller hoch zutragen. Oft hatte er deshalb Streit mit dem Alten bekommen. Jetzt holte sie die Kohlen aus dem Keller. Er ging zum Radio. Mussten die denn von morgens bis abends Weihnachtslieder dudeln? Der Junge stellte den Sender mit Rockmusik ein und drehte die volle Lautstärke auf. Er setzte sich an den Küchentisch und schob das benutzte Geschirr beiseite. Während der Junge sich eine Zigarette anzündete, betrat die Mutter die Küche. Sie hatte die Katze herein gelassen. Wortlos ging sie um Radio und stellte es leiser. Die Katze war unterdessen zu dem Jungen auf die Bank gesprungen. Schnurrend reib sie ihren Kopf an seinem Arm.
„Na, wo kommst du denn her? Du bist ja ganz kalt und nass.“ Liebevoll strich er über das schwarze Fell.
„Was gibt’s denn zu essen?“ Die Mutter hatte begonnen, den Tisch zu decken: einen Teller, eine Gabel, die Schüssel mit Kartoffelsalat.
„Soll ich dir die Wurst warm machen?“ fragte sie.
„Nein, lass, ich hab‘ Hunger.“ Der Junge begann zu essen. Die Mutter setzte sich zu ihm und schaute ihm schweigend beim Essen zu.
„Weißt du“, begann sie endlich, „ich hab‘ gedacht, ich koch‘ erst heute Abend. Und danach die Bescherung. Nur die Familie, weißt du, genau so, wie es immer war – fast so.“ Sie verstummte.
Der Junge aß schweigend weiter. Das letzte Stückchen Wurst warf er der Katze zu. Er wusste genau, dass die Mutter das nicht mochte. Sie hat es genau gesehen, dachte er und sagt nichts. Sie sagt nie, wenn ihr etwas nicht gefällt. All die Jahre hat sie nie etwas gesagt.
„Soll ich dir noch eine Tasse Kaffee kochen? Zum Wachwerden?“
Die Mutter stand auf, um das Kaffeewasser aufzusetzen.
„Wo ist Eva?“ fragte er.
„Sie hat ihrem Chef versprochen, ihm im Laden zu helfen. Aber zum Abendessen wird sie da sein. Sie will Robert mitbringen. Es wird bestimmt ein gemütlicher Abend werden. Ich hab‘ Wein gekauft, von dem guten, den wir letztes Jahr zu Weihnachten hatten.“
Wieder verstummte sie, stand einfach nur da und wartete, bis das Kaffeewasser kochte. Also meine Schwester wird das Spielchen heute Abend wieder mitspielen, dachte er. Dabei ist doch keiner mehr da, der sie dazu zwingt. Immer, solange er zurückdenken konnte, hatte es Streit um den Heiligen Abend gegeben. Und immer wurde schließlich das getan, was der Alte wollte: Messe, Abendessen, Bescherung. Es blieb nicht bei den zwei Flaschen Wein und dann gab es wieder Streit, weil sie ihm nie alles recht machen konnten. Aber dieses Jahr würde er den Heiligen Abend anders verbringen. Noch nicht einmal Weihnachtsgeschenke hatte er gekauft. Die Mutter brachte ihm eine Tasse schwarzen Kaffee zum Tisch.
„Dein weißes Hemd und die gute Hose hab‘ ich gebügelt. Saubere Wäsche liegt auch schon oben.“
„Ich wird‘ mich nicht umziehen.“ Der Junge stand auf. Mit der Katze auf dem Arm ging er ins Wohnzimmer, streckte sich lang auf dem Sofa aus und stellte das Fernsehen an. Er gab sich Mühe, die Tanne in der Zimmerecke nicht zu bemerken. Die Mutter brachte ihm den Kaffee nach. Unschlüssig blieb sie neben dem Sofa stehen.
„Du willst dich nicht umziehen?“ fragte sie schließlich.
„Nein. Ich bin nicht da heute Abend. Ich geh‘ zu einem Kumpel. Wir machen eine Gegenveranstaltung. Alles Leute, denen Weihnachten aufn Geist geht.“ Lustlos spielte er mit der Fernbedienung. „Nicht mal ordentliche Filme bringen die zu Weihnachten. Lauter rührseligen Mist.“ Er schielte zur Mutter hinüber. Sie war zur Tanne gegangen und hatte begonnen, Lamettafäden über die Äste zu hängen. Sie muss heute Morgen schon früh aufgestanden sein, um die Schachteln mit den Kugeln vom Dachboden zu holen, überlegte er. Die schwarzen Kleider sehen schrecklich aus, die machen sie so dünn. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass die Mutter eine alte Frau war. Alt und krank sah sie aus. Sie ist noch nicht einmal fünfzig, dachte er. Und warum muss sie wegen dem die grässlichen Kleider anziehen! Missmutig wandte er sich ab, wieder dem Fernsehprogramm zu.

Die Katze weckte ihn auf. Der Junge ließ sie hinaus und ging dann zum Bad. Dort sah er die Mutter vor den Spiegel stehen. Sie hatte sich zur Christmette umgezogen. Ihr Gesicht war wie immer: alt, grau, ohne Make up. Sie kämmte sich die Haare. Dann suchte sie in ihrer Handtasche und heilt schließlich ein kleines Fläschchen in der Hand. Sorgsam drehte sie es auf, wollte einige Tropfen des Parfüms auf die Innenseite ihres Handgelenkes geben. Sie wartete lange auf einen einzigen Tropfen, doch das Fläschchen war leer. Der Junge sah das Gesicht der Mutter, als sie das Fläschchen wieder verschloss und zurück in die Handtasche tat. Als sie dann das Bad verließ, saß er schon wieder vor dem Fernsehen. Die Mutter nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken und kam noch einmal ins Wohnzimmer:“ Ich geh‘ dann jetzt. Eva wird bald kommen.“
Sie war gegangen. Zur Mette. Alleine. Sie hatte kein Wort zu seinem Vorhaben am Abend gesagt. Das war das Parfüm vom Alten, dachte der Junge. Jedes Jahr hatte er ihr das gleiche Parfüm geschenkt. Das ganze Jahr über nichts. Nichts zum Geburtstag, nichts zum Muttertag. Aber das Parfüm zu Weihnachten, so ein winziges Fläschchen, total vornehm verpackt. Das Parfüm hatte er nie vergessen. Sie hat’s immer ganz sparsam benutzt. Und es hatte gerade so gereicht, bis zum nächten Weihnachten.
Der Junge sah auf die Uhr. Fünf Uhr. In einer Stunde würden die Geschäfte schließen. In zwei Stunden würde die Mutter zurück sein. Wenn er sich beeilte, würde er es gerade noch schaffen. Schnell zog er seine Jeansjacke über, steckte den Haustürschlüssel ein und machte sich auf den Weg. Vierzig Euro hatte er noch, seinen Beitrag zur Party am Abend. Es machte sich bemerkbar, dass er jeden Abend mit seinen Freunden in der Kneipe saß, und was verdiente man schon als Malerlehrling im zweiten Jahr? Es war kurz vor sechs, als er endlich in der Kosmetikabteilung des Kaufhauses stand. Und es vergingen nochmals einige Minuten, bis er das richtige Parfüm gefunden hatte. Er wollte es gerade aus dem Regal nehmen, als er das Preisschild sah.
„Verdammt“, fluchte er leise. „Hätt‘ nie gedacht, dass der Alte so spendabel war. Dann lassen wir’s eben. War sowieso ne blöde Idee.“ Unschlüssig stand er vor dem Regal. Dann fiel ihm das Gesicht der Mutter ein, wie sie im Bad gestanden hatte. Und dann tat er etwas, was er schon öfter getan hatte, allerdings noch nie in der Kosmetikabteilung: Er öffnete seine Jacke, sah sich kurz um und schob dann schnell und geschickt die Packung unter seinen Pullover. Zwei Minuten später war er draußen und auf dem Weg nach Hause. Er wurde nicht erwischt. Sie hatten ihn hier noch nie erwischt. Wenn er sich beeilte, überlegte er, könnte er duschen und sich umziehen bevor die Mutter kam. Vielleicht würde er dann später, nach der Bescherung noch zu seinen Kumpels gehen, mal sehen.
Vor der Haustür wartete die Katze. Gemeinsam betraten sie das Haus. Die Mutter kam eine viertel Stunde später nach Hause. Sie hörte den Jungen unter der Dusche.
Er pfiff ein Weihnachtslied.

Stromausfall

Sie hatte gerade die Weihnachtsgans noch einmal mit der Beize bestrichen, als das Licht ausging. Auch der Backofen hatte sich ausgeschaltet und die Kontrollleuchte am Herd war dunkel geworden.
‚Sicherung rausgeflogen … ausgerechnet jetzt‘, dachte sie. ‚Wie sollte sie so das Weihnachtsessen pünktlich fertig bekommen? ‘
Im Keller traf sie ihren Mann.
Er hatte den Sicherungskasten geöffnet. Es war schon fast dunkel im Keller. Die Dämmerung hatte begonnen und ein graues Licht drang durch das Kellerfenster. Fast konnte man die Kippschalter der Sicherungen nicht mehr erkennen.
„Hast du wieder alle Lichterketten an eine Stromleiste angeschlossen?“ fragte sie ärgerlich ihren Mann. „ Du weißt doch, dass die altern Leitungen das nicht aushalten.“
Er wollte unbedingt ein altes Haus kaufen und renovieren. Weil alte Häuser so viel mehr Charme und Charakter hatten als ein Neubau. Gleich zu Beginn fand sie diese Idee auch reizend. Sich in einem alten Haus am Stadtrand ein gemütliches Heim schaffen mit Kindern, Hund und Garten. Aber irgendwie wurden sie in diesem Haus nie fertig – oder vielleicht fehlte ihr einfach das Talent, die Räume behaglich und stilvoll zu gestalten. Wenn sie ihre Freundinnen in ihren modernen Stadtwohnungen besuchte und dann zurück kam, fand sie das Haus einfach nur schäbig und alt. Keine Spur von Gemütlichkeit in einem idyllischen alten Haus. Die Räume waren zugestellt mit praktischen Möbeln und kitschigem Ramsch, überall standen und lagen Dinge herum.
„Das sind nun einmal Lebensräume und keine Ausstellungsräume. Dich hat das früher nicht gestört“, hatte ihr Mann einmal erwidert, als sie versuchte, mit ihm über die Unzufriedenheit zu sprechen. Und er hatte Recht, es hatte sie früher nie gestört. Früher hatte sie das als heimelig empfunden. Sie wusste: nicht das Haus hatte sich verändert, sie hatte sich verändert.
„Sind alle drin, das liegt nicht an unseren Leitungen“, unterbrach der Mann ihre Gedanken. „Schau mal raus… dort… die Straßenlampen sind auch aus. Es ist überall der Strom ausgefallen.“
„Stromausfall! Ausgerechnet jetzt, wo ich die Gans im Ofen habe, und das Gemüse und die Kartoffeln sind auch noch nicht fertig!“
„Reg dich nicht auf … die kriegen das bestimmt in wenigen Minuten hin. Unten in der Stadt werden wohl ein paar tausend ihre Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet haben, “ versuchte der Mann die Frau zu beruhigen.
Gemeinsam stiegen sie aus dem Keller nach oben.
„Was is’n los? Ist kein Strom da. Nirgends. Computer geht nicht. Fernseher geht nicht.“ Ihr Sohn hatte sich im Wohnzimmer eingefunden.
„Ich habe gerade mit Melanie telefoniert. Sie hat gesagt, bei ihnen ist auch kein Strom.“ Auch die älteste Tochter war aus ihrem Zimmer gekommen. Sie stand am Fenster und schaute hinaus: „Nirgends Licht! Das muss ja ein gewaltiger Stromausfall sein.“
„Stromausfall ist Stromausfall! Es gibt kein bisschen Stromausfall. Entweder ist er weg oder nicht. Du bist ja auch nicht nur ein bisschen schwanger, blöde Nuss!“
Der Junge stand nun neben seiner Schwester am Fenster.
„Ich bin überhaupt nicht schwanger, du Affe!“ wehrte sich die Schwester.
„Ja, hatte ich ganz vergessen; dazu muss jemand wie du ja erst mal einen abkriegen!“
„Schluss jetzt!“ mischte sich die Mutter ein. Wieso mussten sich die beiden immer streiten.
„Vielleicht sollten wir erst einmal eine Taschenlampe und ein paar Kerzen suchen, bevor es endgültig dunkel geworden ist“, meldete sich der Mann zu Wort.
„Vielleicht könntest du aber auch etwas Sinnvolles tun und irgendwo anrufen und fragen, wie lange das noch dauert, “ erwiderte die Frau. „Die können uns doch nicht ohne Strom sitzen lassen, ausgerechnet an Heilig Abend ! Ich habe die Gans im Backofen!“
„Ich denke, wir warten erst einmal ab. Da ruft doch jetzt jeder an.“ Der Mann hatte eine Taschenlampe gefunden und machte sich auf die Suche nach Kerzen.
Schließlich kam er mit einigen dicken weißen Kerzen zurück. Er zündete sie an und verteilte sie im Wohnzimmer.
Die Frau stellte unter jede Kerze einen Unterteller. Man sah ihr an, was sie von der Initiative ihres Mannes hielt.
„Sieht doch ganz gemütlich aus, richtig weihnachtlich“, meinte er.
„Bist du mit dem Baum eigentlich fertig geworden? Hast du die Krippe aufgestellt?“ fragte die Frau.
„Alles fertig. Ich wollte gerade die Lichterketten ausprobieren.“
„Und was machen wir nun?“ Der Sohn drücke ungeduldig auf der Fernbedienung herum. „Immer noch kein Strom. In 20 Minuten fangen die Simpsons an, das Weihnachtsspecial … aber das können wir ja jetzt vergessen.“
„Melanie meinte, sie hätte gerade Radio gehört und die hätten gesagt, dass der Stromausfall die ganze Gegend betreffen würde. Keiner wüsste, was passiert sei und sie meinten, dass man erst in ein paar Stunden wieder Strom hätte.“ Die Tochter stand noch immer am Fenster, das Handy am Ohr. „Was, wenn da etwas richtig Schlimmes passiert ist?“
„Was wenn da etwas richtig Schlimmes passiert ist?“ äffte der Junge seine Schwester nach. „Was soll denn schon passiert sein?“
„Stromausfälle kommen immer mal wieder vor. So schlimm ist das nicht, “ beruhigte der Mann die Tochter.
Unschlüssig standen alle im Wohnzimmer.
„Ich sollte nach der Kleinen sehen. Sie wird sich in der Dunkelheit fürchten, wenn sie aufwacht“, überlegte die Frau.
Mittlerweile war es draußen ganz dunkel geworden. Eine tiefschwarze Nacht. So dunkel war es hier, so nahe an der Stadt noch nie gewesen.
Es regnete.
‚Also wieder nichts mit weißen Weihnachten. Es wäre so schön gewesen: frisch gefallener Schnee draußen, der Baum mit den bunten Lichtern im Wohnzimmer, die erleuchtete Krippe, das festliche Essen bei stimmungsvoller Weihnachtsmusik und danach die Bescherung, ‘ dachte die Frau. ‚Und jetzt: Stromausfall.‘
„Ich geh nachher auf jeden Fall noch weg. Wie haben uns um 10 in der Stadt verabredet. Alternative Weihnachtsfeier. Muss ich jetzt bei Kerzenlicht duschen? Ist ja richtig romantisch.“ Die Tochter machte sich mit einer Kerze auf den Weg ins Badezimmer.
„Solange es keinen Strom gibt, kannst du nirgends hingehen. Überleg mal: die Straßen sind stockdunkel und dann: Was macht eine Disco ohne Strom? Und das mit dem Duschen geht auch nicht. Die Pume braucht Strom, es gibt jetzt kein heißes Wasser in der Dusche. Und die Heizung funktioniert ohne Strom auch nicht.“ Der Mann ging zur Tochter , nahm ihr die Kerze aus der Hand und stellte sie wieder auf den Tisch. „Es wird bald ziemlich kühl hier werden. Wir sollten auf jeden Fall ein paar warme Pullis und Decken bereit legen.“
„Wir können es auch lassen und gleich ins Bett gehen. Weihnachten können wir wohl vergessen … ohne Strom. Es gibt noch nicht einmal etwas zum Essen.“ Der Junge stand auf. „Ich geh ins Bett.“
„Aber wir können doch trotzdem Weihnachten feiern. Wir können uns Brote schmieren oder Plätzchen essen. Wir können zusammen sitzen, ein bisschen reden und uns mit den Geschenken überraschen.“ schlug der Mann vor.
„Bescherung ? Die könnt ihr harken … ohne Strom. Ich hatte mich echt auf die neuen Spiele gefreut. Aber was soll ich jetzt mit denen? Türmchen bauen?“
„Genau ! Ich kann mein neues Handy nicht einmal aufladen … ohne Strom“ unterstützte jetzt auch die Schwester ihren Bruder. „ Und mit was wollen wir uns denn überraschen? Jeder weiß doch sowieso, was er bekommt. Und mein neues Handy, die Playstation Spiele, die Digitalkamera, der elektronische Bilderrahmen … das sind echt alles tolle Geschenke … aber ohne Strom … und einfach nur zusammen sitzen und reden? Auf Befehl ? Das geht doch nicht. Ist doch albern!“
Unschlüssig standen die vier im Wohnzimmer.
‚Wenn wenigstens von irgendwoher ein bisschen Weihnachtsmusik zu hören wäre oder man den Fernseher einschalten könnte. Diese Stille ist nicht zu ertragen ‘ dachte die Frau.

„Kommt das Christkind jetzt bald? Ist es deshalb so dunkel?“, verschlafen stand die Kleine an der Wohnzimmertür. Sie war vom Mittagsschlaf aufgewacht und durch die Dunkelheit dem Lichtschein ins Wohnzimmer gefolgt.
„Das habt ihr aber schön gemacht!“ entzückt schaute die Kleine auf die Kerzen. „Und der Weihnachtsbaum sieht ganz geheimnisvoll aus, so dunkel und mit den Kerzenflammen in den Spiegelkugeln.“
Die Kleine lief zum Weihnachtsbaum.
„Ist jetzt Bescherung? War das Christkind schon da?“ „Oh! Guckt mal, da im Dunkeln, neben dem Baum, ich glaube, da liegen Geschenke! Ist da auch eines für mich dabei?“ Voller Vorfreude und ein bisschen ängstlich, weil es doch ziemlich dunkel in der Ecke war, ging die Kleine zu den Geschenken.
„Ja, das Christkind ist schon da gewesen.“ Die Mutter ging zu der Kleinen. Zum Glück hatte sie doch noch den weißen Plüschhund besorgt, in den sich die Kleine in der Spielzeugabteilung verliebt hatte. Eigentlich lagen mehr als genug Stofftiere im Kinderzimmer herum. Sie hatten beschlossen, einen Kinder-CD-Player und viele CDs für die Kleine zu kaufen. Aber ein Geschenk einfach nur zum Kuscheln, wollte die Mutter dem Kind dann doch noch schenken. Andächtig und mit strahlenden Augen nahm die Kleine ihr Geschenk in Empfang. Sie ging zum Tisch, kletterte auf den Stuhl und begann, das Päckchen im Kerzenlicht auszupacken.
Dann hielt sie inne. „Kriegt ihr keine Geschenke?“, fragte sie die Mutter.
„Ja, weißt du“, der Vater setzte sich zu der Kleinen an den Tisch. „Das Christkind hat irgendwie nicht gewusst, dass heute Stromausfall ist. Jetzt haben wir keinen Strom und unsere Geschenke brauchen alle Strom, um zu funktionieren. Das ist eigentlich ziemlich schade…“
Die Kleine zögerte. Man sah ihr an, dass sie überlegte, ob sie das jetzt wirklich den Erwachsenen anvertrauen sollte. Schließlich hatte sie eine Entscheidung getroffen. Entschlossen sagte sie: „ Aber das Christkind kann da doch nichts dafür. Ich weiß schon lange, wer die ganzen Geschenke kauft und verpackt. Ich habe das Geschenkpapier auf dem Küchentisch liegen sehen und die ganzen Pakete im Schlafzimmer. Das wart ihr. Das Christkind hat nichts verkehrt gemacht!“
Wütend schlug die Kleine mit der Hand auf den Tisch. Dann hielt sie inne. „Aber schade ist es trotzdem, das mit euren Geschenken “, meinte sie traurig. Und dann fiel ihr etwas ein. Sie flüsterte dem Vater ins Ohr und gemeinsam verschwanden die beiden mit der Taschenlampe Richtung Kinderzimmer.
Wenig später kamen sie zurück. Stolz überreichte die Kleine jedem ein Blatt Papier. Es war zusammen gerollt und ungeschickt mit einer roten Schleife umwickelt.
„Da. Ich habe für jeden ein Bild gemalt. Jedem habe ich drauf gemalt, was ich Schönes mit ihm gemacht habe. Wie mein Bruder Fußball mit mir gespielt hat und immer so getan hat, als könnte er nix und wie meine Schwester mich mal ganz vornehm mit ihrem teuren Schminkzeug geschminkt hat. Das war auch lustig! Packt doch mal aus, ich kann euch die Bilder dann erklären, ganz ohne Strom.“
Verlegen standen die vier im Wohnzimmer, jeder mit seinem Geschenk in der Hand.
„Jetzt macht schon!“ Die Kleine wurde ungeduldig. „oder … nein, zuerst stellen wir dem Christkind in der Krippe auch noch eine Kerze hin und singen ihm ein Geburtstagslied.“
„Also ich sing nix!“ protestierte die große Schwester.
„Ist mir viel zu blöd!“ stimmte ihr der Bruder ausnahmsweise zu.
„Ich kann mich eigentlich an gar kein Lied erinnern“, meinte die Mutter und der Vater sagte, er habe noch nie gesungen und könne auch eigentlich gar nicht singen.
„Macht nichts, dann singe ich eben alleine.“
Die Kleine nahm die Kerze vom Tisch und trug sie vorsichtig zur Krippe. Dann hielt sie den neuen Plüschhund liebevoll im Arm, stellte sich vor die Krippe und stimmte mit ihrem dünnen Stimmchen das Weihnachtslied an, das sie im Kindergarten gelernt hatte.
Die Mutter wurde traurig, als sie ihre kleine Tochter so alleine vor der Krippe stehen sah. Und gleichzeitig bewunderte sie den unbedingten Willen des Kindes, ein schönes Weihnachtsfest zu feiern.
Gerne hätte sie mit ihr gesungen, sie bei ihrem tapferen Kampf unterstützt, aber sie konnte es einfach nicht. Sie sah zum Vater hinüber, der damit beschäftigt war, die Kerzen auf dem Tisch neu zu ordnen. Sie blickte zu den beiden Großen, die ratlos auf die Bilder in ihren Händen blickten.
Ihnen allen kam dieses Weihnachtslied unendlich lange vor.
Aber als die Kleine verstummte, war die Stille unerträglich.
„Schön hast du gesungen“, meinte die Mutter schließlich. „Sollen wir jetzt Weihnachtsplätzchen essen?“
„Ja“, flüsterte die Kleine und schaute traurig zur Krippe.
„Kann das Christkind nicht machen, dass der Stromausfall aufhört und alles wieder so ist wie immer?“, fragte sie leise.
Doch dann schaute sie zum Fenster und wurde ganz aufgeregt.
„Es schneit“, rief sie. „Morgen können wir Schlitten fahren und einen Schneemann bauen!“
Tatsächlich. Der Regen hatte aufgehört.
Dicke weiße Flocken fielen am Fenster vorbei auf die Tannen im Garten.
„Guckt mal! Die Straßenlampen! “ Der Junge stand neben der Kleinen am Fenster als das Licht im Wohnzimmer anging. „Dann kann ich ja doch noch Simpsons gucken!“
„Ich geh duschen!“ Die Tochter machte sich auf den Weg zum Badezimmer.
„Und ich schau nach der Gans.“ Die Frau verschwand in der Küche.
„Sollen wir zwei jetzt ausprobieren, ob die Lichterkette am Weihnachtsbaum funktioniert?“ Der Vater hatte die Kleine auf den Arm genommen.
„Au ja!“ rief sie glücklich. „Aber die Kerze beim Christkind, die lassen wir da stehen. Die macht nämlich nicht nur hell, die macht auch warm .“