Kalt war es. Sehr kalt. Die Kälte hatte ihn geweckt. Mühsam stand der Alte vom Boden auf, stieg unbeholfen über die fleckige Matratze und schlurfte ins Bad.
„Es wird schon wieder dunkel“, dachte er und ließ die Tür zum Flur auf. Die Glühbirne im Bad war schon lange kaputt. Aber eigentlich reichte ihm auch das wenige Licht, das vom Flur hereinfiel. „Ich bin ja keine Tussie, die stundenlang vorm Spiegel steht“, hatte er gestern in der Kneipe erklärt. Der Alte grinste bei der Erinnerung. War ein schöner Abend gewesen und lang. Eigentlich hatte er ins Aldi gewollt, noch etwas zu Essen kaufen, bevor das Geld wieder weg war. Dann hatte er spontan beschlossen, bei Anni rein zu schauen, nur auf ein Bier und ein paar Worte. ‚So was braucht der Mensch eben auch von Zeit zu Zeit‘ hatte er sich gesagt. Er hatte schon seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen. Und dann wurde es richtig gut. Er stand am Tresen und erzählte von seiner Glühbirne im Bad und wie er eine neue kaufen wollte und wie die Verkäuferin an der Kasse ihm 8 Euro fünfzig für eine einzige Birne abnehmen wollte. „Energiesparlampe – was soll ich mit so ‚nem teuren Ding?“ hatte er sie gefragt und die Verkäuferin erklärte ihm, dass solche Lampen 10 Jahre lang hielten und dann erzählte er seinen Kumpels was er der geantwortet hatte: „Was soll ich mit einer Birne, die mich am Ende noch überlebt!“ Und die Kumpels hatten gelacht und ihm auf die Schulter geklopft und ihm einen ausgegeben. War ja auch echt gut, die Antwort. Der Alte musste wieder grinsen. Richtig gut drauf gewesen war er gestern, hatte die halbe Kneipe unterhalten mit seiner Geschichte von der Glühbirne. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er sie erzählen musste. Erst als Anni meinte, es reiche nun, er solle die Gäste in Ruhe lassen, hatte er noch ein Bier und einen Kurzen bestellt und sich an den kleinen Tisch in der Ecke gehockt. Manchmal konnte Anni ganz schön zickig sein. Die Leute fanden die Geschichte doch gut. Aber er wollte es sich mit Anni nicht verderben. In der Kneipe war es warm und Anni ließ ihn in Ruhe, auch wenn er stundenlang vor einem Bier saß. Er war überzeugt, sie wusste, dass er den mitgebrachten Schnaps heimlich auf der Toilette trank. Sie war eben eine gute Seele. Sie ließ ihn da sitzen und gegen Ende des Monats stellte sie ihm manchmal ein Bier hin, das er h nicht bezahlen musste. Sie verstand ihn eben, solange er ihre Gäste in Ruhe ließ. Aber gestern war sie wirklich empfindlich gewesen. „Er solle sich mal waschen“, hatte sie noch gesagt. War wahrscheinlich der Weihnachtsstress, da wurden die Leute komisch.
Der Alte schlurfte vom Bad zurück in die Küche. Kalt war es. Er öffnete die Backofentür und drehte den Herd an. Den schäbigen Sessel rückte er ganz nah an den Backofen. Dann trank er einen Schluck aus der Flasche, die griffbereit auf dem Herd stand. „Das muss jetzt sein“, beschwichtigte er sich selbst, „ einen gegen die Kälte“ und zog seinen Mantel an. Er hatte in den Kleidern geschlafen. „Wenn’s noch kälter wird, wird’s eng. Dann schafft der Herd das nicht mehr,“ dachte der Alte. Aber die Heizung war kaputt, schon seit Monaten. Irgendetwas am Heizkörper musste es sein. Er hatte sich bei der Frau in der Wohnung nebenan erkundigt, da ging die Heizung. Er hätte dem Vermieter Bescheid sagen können, schließlich zahlt das Amt ja die Miete, da hatte er auch ein Recht auf eine funktionierende Heizung. Aber erst musste er aufräumen, bevor er einen Handwerker in die Wohnung ließ und irgendwie war er noch nicht dazu gekommen. Und jetzt war es Winter.
„Du könntest dich ruhig mal waschen“, hatte Anni gesagt.
Früher hatte er sogar manchmal gebadet und sich rasiert, aber ohne Heizung gibt es auch kein warmes Wasser und die Glühbirne im Bad war kaputt – so viel zum Rasieren. Wieder grinste der Alte vor sich hin „… und ich werde kein Geld ausgeben für eine Glühbirne, die mich überlebt.“ Der Witz war wirklich gut. Und wozu auch Baden, wenn er sowieso wieder die gleichen Kleider anzog. Selbst wenn die Waschmaschine wieder funktionieren würde, wie sollte er die Wäsche denn trocken kriegen in der kalten Wohnung?
Aber Hunger hatte er. Die eingetrockneten Suppenreste in dem Topf auf dem Herd sahen nicht besonders einladend aus. Er roch daran. „Besser nicht“, dachte er. „Als ich das das letzte Mal probiert habe, hat es mich fast zerrissen.“
Der Alte beschloss, sich erst einmal eine Zigarette zu drehen. Langsam wurde es auch etwas wärmer im Zimmer. „Scheiße“, fluchte er, als im Tabak und Papier durch die Finger rutschten. “ Ich zittere ja immer noch vor Kälte und die Finger sind auch ganz steif.“ Ein Kumpel hatte mal gesagt, das sei Gicht, das könne man an den kleinen Knötchen sehen und das käme vom Saufen. „Du musst es ja wissen“, hatte er ihm geantwortet, „das ist das Alter, sonst nix.“ Tatsächlich hatte sein Vater das auch gehabt, erinnerte er sich jetzt. Der Alte zündete sich endlich eine Zigarette an. Sein Vater konnte später gar nicht mehr drehen. Deshalb hatte er die kleine Maschine. Er erinnerte sich, wie sein Vater Samstagsnachmittags am Küchentisch saß und mit seiner Maschine Zigaretten drehte; sogar welche mit Filter. Als kleiner Junge hatte er fasziniert daneben gesessen und zugeschaut, wie schließlich ein kleiner Plastikvogel nach vorne kippte und dann mit einer Zigarette im Schnabel wieder hoch kam. Er hatte nie verstanden, wie es funktionierte, aber es hatte ihm gefallen. Vielleicht sollte er sich auch so eine Maschine besorgen. Der Vater hatte jeden Samstag seine Zigaretten für die kommende Woche gedreht. Er drehte sie und teilte sie dann in sieben Häufchen auf. Für die ganze Woche. Sieben Tage, sieben Häufchen. „Man muss lernen, sich einzuteilen“, hatte er dabei gesagt. „Recht hat er gehabt,“ dachte der Alte und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Er begann, sich eine zweite Zigarette zu drehen. „Jetzt wird mir langsam warm, er spürte es und das Zittern hörte auf. Aber er würde mir auch nicht erklären können, wie man so wenig noch einteilen soll. Wenn er am ersten sein Geld bekam, musste er erst einmal die Schulden zurück bezahlen. Nix Großes. Überall nur ein paar Euro, die er sich bei seinen Kumpels oder im Getränkemarkt geliehen hatte. Er war immer bemüht, die Schulden zurück zu zahlen, er war darauf angewiesen, dass sie ihm wieder etwas liehen, wenn es gegen Ende des Monats nicht reichte. „Der Typ im Fernsehen hat genau so geredet wie mein Vater“, überlegte er, „ nur dass mein Vater wusste wovon er redete.“ „ Und wenn die keine Bewerbung schreiben wollen, dann muss man denen eben die Leistungen kürzen“ „ Die wissen doch echt nicht, wovon sie reden,“„ grummelte der Alte vor sich hin. Er hatte die Leute auf dem Amt dann gefragt, wo er sich denn bewerben sollte. Aber das war denen egal, irgendwo eben, haben sie gesagt. Und es käme ja nur darauf an, dass ihnen Ende des Monats fünf Bewerbungen vorliegen würden. Er hatte dann noch gefragt, ob sie ihm noch eine Schreibmaschine und Papier leihen würden und dann meinten sie, er solle jetzt nicht noch frech werden. Der Alte merkte, wie alte Wut wieder in ihm hochkam. Er hatte keine Bewerbungen geschrieben. Wie denn ? Und warum auch ? Er hatte sich die 10 Euro Porto und so gespart, wäre doch sowieso rausgeschmissenes Geld gewesen. Und sie hatten ihm die Leistungen gekürzt.
Dem Alten knurrte der Magen. Er stand auf und griff nach seinem Rucksack. Es brachte nichts, über das alles nachzugrübeln. Er musste raus, heute würde er einkaufen gehen.
Auf dem Weg nach unten fiel ihm ein, dass Sonntag war. Als es vor die Tür trat, war es schon dunkel. Er hatte tatsächlich den ganzen Tag verschlafen. Er blieb stehen und hörte das Gedudel vom Weihnachtsmarkt. Ein Geruch von Glühwein, Zimt und Knoblauch wehte zu ihm herüber. „Warum nicht“, dachte er „schließlich musste er etwas essen.“
Unterwegs hielt er an einem Mülltonne an. Er hatte vor kurzem begonnen, im Vorbeigehen die Mülltonnen nach Pfandflaschen zu durchsuchen. Er nannte es „seinen Zuverdienst“ und ein oder zwei Euros kamen immer zusammen. Steuerfrei – immerhin. „Nein“, dachte er, „ heute nicht. Heute ist Sonntag und du gehst zum Weihnachtsmarkt und spendierst dir einen Glühwein und eine Wurst.“
Die Wurst war teuer, aber es gefiel ihm, sie wie alle anderen an der Bude zu essen und dabei das Treiben des Weihnachtsmarktes zu betrachten. Auf den Kauf des Glühweins verzichtete er. Der Alte hatte längst bemerkt, dass die meisten ihren Glühwein nicht ganz austranken, weil er kalt nicht mehr schmeckte. Sie stellten die Pappbecher mit den Resten auf den Stehtischen ab. Er hatte Übung. Schnell schüttete er ein paar Reste zusammen und schlenderte dann mit einem gefüllten Becher an den Buden vorbei. „Schmeckt gar nicht mal so schlecht“, dachte er, als er das Ganze wiederholte. Er kam langsam in Stimmung. „Wir Deutschen verstehen es schon, Weihnachten zu feiern“, der Alte war zufrieden und summte ein Weihnachtslied. „Mein Gott, ich werde ja richtig sentimental“.
Dann fiel ihm der Junge auf. Er stand alleine an einem der Stehtische und aß eine Wurst. „Niemand sollte heute alleine sein. Vielleicht hat er Streit mit der Freundin, “ überlegte der Alte und beschloss, sich zu ihm zu gesellen. Er würde ihn aufheitern, er würde ihm von seinen Frauengeschichten erzählen, vielleicht würde er ihm auch die Sache mit der Glühbirne erzählen und der Junge würde lachen und ihm auf die Schulter klopfen und wer weiß, vielleicht würde sie sich noch in eine Kneipe setzen und ein bisschen reden. So dachte der Alte und stellte sich zu dem Jungen. Er vergoss einen Teil seines Glühweins, als er ihn auf dem Tisch abstellte, und der Junge wich einen halben Schritt zurück als sich der Alte vertrauensvoll zu ihm hinüberbeugte. “na – hat dich deine Tussie hier stehen lassen und ist mit einem anderen abgezogen?“ Aufmunternd legte der Alte den Arm um die Schulter des Jungen. Der Junge wich noch einen Schritt zurück und schüttelte den Arm des Alten ab. „Was willst du von mir alter Mann? Hau ab! Du bist besoffen und stinkst!“ „ Wie redest du denn mit mir? Da will man mal freundlich sein und dann so was!“ Der Alte war empört und beleidigt. Er schwankte auf den Jungen zu, doch der drehte sich einfach um und ging davon. „Habt ihr das gesehen?“ rief der Alte den Umstehenden zu. „Benimmt man sich so? Geht man so mit dem Alter um? Die haben keinen Respekt mehr, die Jungen!“ Er sprach laut in die Menge, aber niemand beachtete ihn. Es schien ihm sogar, als würden sich die Leute absichtlich von ihm wegdrehen, ihn absichtlich nicht bemerken. Seine gute Stimmung war verflogen. „Dann eben nicht“, dachte er. „Alles Spießer! Kümmern sich nur um sich selbst! Was hab ich hier eigentlich verloren? Hätte ich ja auch wissen können!“ Er merkte gar nicht, dass er immer noch laut vor sich hin sprach. Und er redete sich so langsam in Wut. Aber die Leute wichen ihm aus, seine Wut fand kein Gegenüber.
Er beschloss, nach Hause zu gehen. Wenn er sich beeilte, konnte er noch an der Tankstelle vorbei gehen. Er hatte ja seinen Rucksack dabei und Geld. Genau, das würde er machen. Er würde seine Biervorräte auffüllen und sich eine gute Flasche Wodka gönnen. Es würde jetzt sogar warm sein in seinem Zimmer, er hatte ja den Backofen angelassen und dann würde er sich einen gemütlichen Fernsehabend machen und die Sache mit dem Jungen einfach vergessen. Warum sollte er sich über so einen Grünschnabel eigentlich aufregen, der wusste doch nichts vom Leben.
Aber der Alte dachte immer noch an den Jungen, als er beladen mit seinem Rucksack voller Bierflaschen und dem Wodka in der Manteltasche Richtung Wohnung torkelte. „Die sollen doch erst mal etwas leisten im Leben“ grummelte er vor sich hin.
Und dann sah er ihn, den Jungen vom Weihnachtsmarkt. Er ging nur zehn Meter vor ihm. Immer noch alleine. Und er spürte, wie die Wut wieder in ihm hoch kochte. „ Hey Junge!“ rief er, „ist deine Alte immer noch nicht zurück. Bist ja immer noch alleine unterwegs.“
Der Junge ging schneller, tat so, als hätte er nichts gehört.
„So ein arrogantes Arschloch“, dachte der Alte. Aber der würde sich schon noch umdrehen.
„Was denn ? Was rennst du denn so? Gib deiner Tussi doch Zeit, sich von ihrem Lover zu verabschieden bevor du nach Hause kommst.“ Der Junge war stehen geblieben und drehte sich zu dem Alten um. „ Halt endlich die Klappe alter Mann! Hör auf hier durch die Straße zu schreien.“
Aber der Alte dachte gar nicht daran, aufzuhören. Er hatte bemerkt, wie unangenehm die ganze Sache dem Jungen war und er fühlte sich stark und auch irgendwie im Recht. „Er hätte mich auf dem Weihnachtsmarkt nicht so stehen lassen dürfen, so geht man nicht mit Menschen um“, dachte er.
„ Ich denke gar nicht daran, aufzuhören!“ schrie er dem Jungen entgegen, als der auf ihn zu kam. „ Im Gegenteil, es können ruhig alle hören, womit deine Tussi eure Haushaltskasse aufbessert …!“
Der Alte wusste gar nicht so genau, was geschehen war, als er plötzlich am Boden lag. Leute waren dazu gekommen. Einer schlug vor, die Polizei zu rufen. Ein anderer zog den Jungen von ihm weg, ging mit ihm ein Stück die Straße entlang und achtete darauf, dass er nicht mehr umkehrte. Mühsam rappelte der Alte sich auf. Niemand half ihm. Fluchend hob er seinen Rucksack vom Pflaster und schüttelte die Glasscherben und Bierreste aus. „So weit ist es gekommen!“ schimpfte er „ da kann ein braver Bürger abends noch nicht mal mehr vor die Haustür gehen! Schaut euch die Sauerei an! Der gehört doch eingesperrt!“
„Lass gut sein, alter Mann“, sagten sie, „geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus.“
… ach ja … und der Schaum des ausgeflossenen Bieres hat im gelben Licht der Straßenbeleuchtung ein bisschen so ausgesehen wie trüber Schnee als wir darüber hinweg stiegen auf unserem Nachhauseweg vom Weihnachtsmarkt.
Ä
Dies ist keine wahre Geschichte, mit Ausnahme der letzten beiden Abschnitte. Aber es könnte so gewesen sein.