Die Insel

Plötzlich wachte sie auf. Sie hörte ihn in der Küche. Er war wieder betrunken. Vor vier Wochen war er mit dem Postschiff zur Insel gekommen. Hatte mit einem Koffer vor ihrer Tür gestanden. „Guten Tag, Mutter.“
Sie seufzte. Langsam stand sie auf. Im fahlen Licht der Dämmerung zog sie den alten Morgenmantel über und fischte mühsam mit den Füßen nach den Pantoffeln. Dann ging sie nach unten zur Küche. Es war kalt. Sie begann, ein Feuer im alten Ofen anzuzünden. Er saß am Küchentisch. Die Suche nach einer neuen Flasche Schnaps hatte ihn aus seinem Zimmer getrieben. Seit vier Wochen hatte er das Haus nicht verlassen. „Es ist kalt hier“, sagte sie. „In ein paar Tagen wird es zu schneien beginnen.“ Er antwortete nicht. „Möchtest du einen Kaffee? Soll ich dir Frühstück machen?“ Der Junge stand schwankend auf, gebückt wie ein alter Mann schlurfte er zum Fenster. Schwer stütze er sich auf das Fensterbrett und sah hinaus. Müde, gleichgültig wandte er den Blick dem Himmel zu:„ Wird wohl so sein. Wird bald schneien.“ Die Mutter trat neben ihn:“Wenn die Winterstürme kommen, fährt das Postboot die Insel nicht mehr an.“ „Ja, ich weiß,“ mürrisch wandte sich der Junge von der Mutter ab, setzte sich wieder an den Tisch und griff nach der Schnapsflasche. Die Mutter ging zu der alten Anrichte. Sie nahm zwei Scheiben Brot, bestrich sie mit Butter und belegte sie mit Salami. Dann trug sie den Teller zum Tisch. „Du musst etwas essen. Das“, sie zeigte auf die Flasche, „macht dich krank.“ „Das“, der Junge nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, „ist genau die Medizin, die ich im Moment brauche. Hilft vergessen. Der Alte hatte recht: Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt.“ Der Junge kramte in der Tasche seiner Jogginghose nach den Zigaretten. Mit zitternden Händen zündete es sich eine an. Gierig inhalierte er den Rauch und begann gleich darauf zu husten. Ein harter, schmerzhafter Husten. Die Mutter setzte sich neben ihn. Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt. Das Mantra ihres Mannes. Und er hatte dafür gesorgt, dass ihm der Vorrat nie ausging. Ein Vorrat, der ihn überlebte. „Wenn die Winterstürme kommen, fährt das Postboot die Insel nicht mehr an“, begann sie wieder. Sie legte ihre Hand auf den Arm des Jungen. „Es wird Zeit, dass du gehst. Du musst zurück. Du kannst dich hier nicht ewig verkriechen. Das ist nicht gesund.“ Der Junge zog den Arm zurück: „Was weißt denn du, was gesund für mich ist! Du weißt doch gar nicht, was da draußen vorgeht! Ihr habt doch immer nur hier in eurem behüteten Paradies gelebt!“ Wütend wandte er sich von der Mutter ab. „Die Menschen da draußen sind schlimmer als Raubtiere. Sie lauern nur darauf, dass ich etwas falsch mache. Und dann stellen sie mich bloß, erbarmungslos. Sie geben sich als meine Freunde aus, nur um mich auszunutzen, eiskalt. Ich verstehe nicht, was sie antreibt. Ich habe es versucht. Aber ich kann mit Menschen nicht leben. Warum sollte ich dort draußen sein wollen? Dort ist kein Platz für mich! Sollen die Winterstürme kommen! Gut ist das! Ich brauche das Postboot ganz bestimmt nicht!“ Die Tür schlug laut zu. Beim Aufstehen hatte der Junge den Stuhl umgestoßen. Die Mutter hob ihn auf. Sie hörte ihn, wie er sich im Zimmer über ihr schwer auf das Bett fallen ließ. Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt. Da wusste sie, er würde die Insel nicht freiwillig verlassen. Diese Angst. Sie war ihr vertraut. Die Angst vor dem Leben. Vor dem Miteinander. Die Flucht ins vermeintliche Paradies. Langsam ging sie nach oben.
Zwei Stunden später öffnete sie die Tür zu seinem Zimmer. Sie ließ den Koffer in der offenen Tür stehen. Der Junge war eingeschlafen. Leise betrat sie das Zimmer. Der Gestank nach Schweiß, Alkohol und Zigaretten nahm ihr fast den Atem. Du hättest sein Zimmer lüften müssen, ging es ihr durch den Kopf. Behutsam setzte sie sich auf den Bettrand. Sie strich ihm sanft über den Kopf und rüttelte ihn zart an der Schulter. „Was?“, der Junge wurde wach. Erstaunt sah er die Mutter an. Sie war in den letzten Wochen nie in seinem Zimmer gewesen. Er setzte sich auf. Dann sah er den Koffer. „Vergiss es!“ der Junge schüttelte den Kopf. „Du kannst mich nicht einfach rauswerfen! Du bist meine Mutter! Du musst mir helfen!“ Die Mutter nickte. „Ich weiß. Deshalb werde ich gehen. In zehn Minuten kommt das Postboot. Ich habe mit meiner Schwester telefoniert. Ich kann bei ihr wohnen. Ich wollte mich nur noch von dir verabschieden.“

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