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Die Wirklichkeit ist nur ein Teil des Möglichen. Dürrenmatt

25.09.1926, Sonnabend aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

An der Polizeikonferenz anlässlich der großen Polizeiausstellung nahmen auch ehemalige Feindstaaten teil. Die Berliner debattierten erregt, ob es richtig war, sie einzuladen. Aber auf den Straßen blieb es ruhig.

Auguste ist mit den Jungen und der kleinen Hilde nach Berlin gekommen. Ich habe sie am Lehrter Bahnhof abgeholt. Sie wollen Mäxchen und Margarete ihre Aufwartung machen.

Mit Paul und Heinrich zur Polizeiausstellung. Besonders die Abteilung Hinrichtungsgeräte mit der Folterkammer hatte es ihnen angetan. Anschließend diskutierten sie beim Eisbecher im Adlon die Methoden der modernen Kriminalistik. Wer möchte als Kind nicht bei einer Mordermittlung vom Auffinden des Opfers bis zur Überführung des Täters dabei sein!

Der fünfzehnjährige Paul meinte:

„Eigentlich ist es schade, dass ich die Werke vom Vater übernehmen muss. So kann ich kein Kriminaler werden.“

Er beneidete Heinrich um die Freiheit seiner Berufswahl. Heinrich, der vor fünf Tagen seinen siebten Geburtstag feierte, meinte, er würde gerne das Erbe seines Vaters übernehmen, es mache bestimmt Spaß, über so viele Menschen zu bestimmen.

„Aber am liebsten wäre ich Verkehrspolizist und würde über den Verkehr der Automobile auf den Straßen wachen!“, setzte er hinzu.

Der Verkehrsturm mit den Lichtsignalen am geschäftigen Potsdamer Platz hat großen Eindruck auf den Jungen gemacht.

 

Heute erinnert eine Nachbildung am Potsdamer Platz an der alten Verkehrsturm.

17.09.1926, Freitag aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

Die BIZ berichtet, dass die Straßenbahnen für den Winter mit elektrischen Heizkörpern ausgestattet werden. Die Wagen sollen eine Temperatur von mindestens zehn Grad erhalten.

Wer ganz nebenbei etwas über die Geschichte der Berliner Verkehrsbetriebe erfahren möchte, dem sei der U-Bahnhof Klosterstraße empfohlen.

03.09.1926, Freitag aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

Ich habe Elsa als Dank für ihre freundschaftliche Hilfe zur Einweihung des Funkturms eingeladen. Ernst hatte mir seine Einladungskarten überlassen. Margarete hat ihn gebeten, die nächsten Tage in ihrer Nähe zu bleiben. Sie rechnet jederzeit mit ihrer Niederkunft.

Der 138 Meter hohe Turm ist der erste Sende- und Aus­sichts­turm im deutschen Reich. Es gab endlose Lobreden der Politiker, die alle gleich klangen und vergessen waren, sobald sie endeten. Nur das Weihegedicht wird vielleicht in Erinnerung bleiben. Vor vier Tagen hatte das Holzdach des Turmrestaurants gebrannt. Der Schwelbrand entstand durch Lötarbeiten. Ich hoffe, dass dies kein schlechtes Omen ist.

Der Berliner Funkturm ist eine Stahlfachwerkkonstruktion. Er steht im Berliner Ortsteil Westend und wurde 1926 anlässlich der 3. Großen Deutschen Funkausstellung in Betrieb genommen. Seit 1966 steht der Turm unter Denkmalschutz

10.01.1926, Sonntag aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

Von meiner Stube aus beobachtete ich, wie bereits am frühen Nachmittag Wagen vor dem Salon Cassirer vorfuhren. Auch Ernst, Radke, Elsa und ich besuchten die Trauerfeier für Paul Cassirer. Der Sarg war in der Mitte des großen Ausstellungssaals aufgebahrt. Überall rote Rosen. Als erster sprach Liebermann. Er benutzte die gleichen Worte wie schon im Nachruf. Danach sprach Graf von Kessler. Er muss Cassirer gut gekannt haben. Es gab Jahre, da sah ich ihn regelmäßig im Salon ein- und ausgehen. Danach hielt Flechtheim seine Trauerrede

Der Kunstsalon Paul Cassirer war von 1901 bis 1933 in der Viktoriastraße in der Nähe des Tiergartens. Neben Ausstellungen fanden dort auch immer wieder Lesungen und Diskussionsrunden zu gesellschaftlichen und politischen Themen statt. Nach dem Tod von Paul Cassirer 1926 übernahmen  seine Mitarbeiter Walter Feilchenfeldt und Grete Ring den Kunstsalon. Die Ausstellungen moderner Kunst im Kunstsalon wurden im Berlin der Weimarer Zeit immer kontrovers diskutiert.

Die Biografie der Familie Cassirer liest sich so spannend wie ein Roman.

13.06.1926, Sonntag aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

„Heute wurde das Revolutionsdenkmal auf dem Friedhof Friedrichsfelde enthüllt. Ich habe Frau Brauer eingeladen, mich zu begleiten. Gegeneinander versetzte, dunkle Steinquader, ein Sowjetstern und als Schrift die Worte Rosa Luxemburgs

Ich war. Ich bin. Ich werde sein.

Eine moderne, unkonventionelle Form, die Mies van der Rohe entworfen hat. Ich bezweifele, dass es dem Geschmack der einfachen Arbeiter entspricht. Der Abgeordnete Wilhelm Pieck, der selbst beim Spartakusaufstand 1919 dabei war, nutzte die Enthüllung, um zu Demonstrationen für die Fürstenenteignung aufzurufen.“

Der Zentralfriedhof Friedrichsfelde wird auch „Sozialistenfriedhof“ genannt. Hier wurden in der Zeit der Weimarer Republik viele Sozialdemokraten und Kommunisten begraben. Das Revolutuionsdenkmal von Mies van der Rohe wurde im Januar 1935 von Nationalsozialisten zerstört. 1941 wurde die meisten Gräber geschleift. Man wollte jede Erinnerung an diese Gedenkstätte ausmerzen. Das neue Denkmal mit zahlreichen Informationstafeln zur Zeit der Weimarer Republik wurde 1983 an gleicher Stelle errichtet.

25.11.1926, Donnerstag aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

Herbstausstellung der Akademie der Künste.

Gemälde von Ludwig Kirchner, Otto Dix und George Grosz sowie Zeichnungen von Käthe Kollwitz und Thomas Theodor Heine stehen im Mittelpunkt. Grosz scheint sich nun der Neu­sachlichkeit zuzuwenden. Ist der Dadaismus als Kunstform schon überholt?

 

Das Wohnhaus von George Grosz am Savignyplatz 5 .

Die Kunstwerke aller genannten Künstler galten in der Zeit des Nationalsozialismus als entartet und wurden zu Ausstellungen nicht mehr zugelassen.

 

03.09.1927, Sonnabend aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

Mit Ernst zur Eröffnung der Piscator-Bühne am Nollendorfplatz. Ernst Tollers Hoppla, wir leben! wurde aufgeführt.

„Ich will euch eine Geschichte erzählen …“

Und genau dies tut Toller. Er führt uns die Schattenseiten der Weimarer Republik vor Augen. Er zwingt uns zu einem Blick hinter die Fassade von Wohlstand und Vergnügen. Er erzählt von dem düsteren Radikalismus der rechten und linken Intellektuellen, dem politischen Opportunismus der Parteien, von der Unmoral und der wachsenden Armut und Resignation der Arbeiter. Wahrlich eine kritisch gesehene Geschichte der Zeit nach der Revolution. Ein Drama über die gesellschaftlichen Konflikte in der Republik in einer außergewöhnlichen Inszenierung. Eine höchst künstlerische Mischung aus Film und Bühne. Auch das ist Berlin: herausragendes modernes Theater. Auch hier der Gegensatz, der so allgegenwärtig ist in Berlin. Das ist so ganz anders als die Revuen und Tanzbälle.

Eine Gedenktafel am ehemaligen Neuen Schauspielhaus erinnert heute an Erwin Piscator.

01.01.1927, Sonnabend aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

Heute Abend dann ging es zum Neujahrs-Kostümball im Bankettsaal des Esplanades. Jazz, Charleston, Shimmy. Berlin im Tanzrausch. Jeder scheint alles daran zu setzen, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Die Lichtspielhäuser haben rund um die Uhr geöffnet. Über zwei Millionen Besucher täglich, heißt es. Dazu die Revue-Paläste, allen voran das Nelson-Theater mit den legendären Nelson-Revuen am Kurfürstendamm, dann die ungezählten Amüsierbetriebe und Clubs.

Das Hotel „Esplanade“ war ein beliebter Treffpunkt der wohlhabenden Berliner Gesellschaft. Es wurde im 2. Weltkrieg zum großen Teil zerstört. Der Potsdamer Platz ist heute mit dem Sony Center ein Wahrzeichen des modernen Berlin. Wer genau hinschaut, kann jedoch noch Reste des alten Hotel Esplanade entdecken. Überreste davon wurden in die Fassade des Sony Centers integriert. Wir durften sogar einen Blick ins Innere werfen.

14.07.1927, Donnerstag aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

Was soll ich zum fünfzigsten Geburtstag des Ullstein Verlages berichten? Wer das neue, große Verlagshaus mit dem imposanten Turm in Tempelhof am Teltowkanal betrachtet, wird schwerlich an dem enormen Einfluss, den Ullstein auf die gesamte Berliner Verlagsgesellschaft hat, zweifeln. Der Verlag hat sich selbst mit dem gelungen Werk 50 Jahre Ullstein ein angemessenes Geschenk gemacht. Ich habe das Buch gleich nach dem Erscheinen erworben, um es Ernst zu schenken. Aber natürlich hat Ernst bereits ein Exemplar vom Hans Ullstein persönlich bekommen. Ich vergesse immer wieder, mit wie vielen Menschen Ernst bekannt ist.

Das Ullsteinhaus in Tempelhof ist ein Baudenkmal des Backsteinexpressionismus. Mit einer Höhe von 77 m  galt es  lange Zeit als das höchste Hochhaus Deutschlands.  Heute beherbergt das Haus verschiedene Dienstleistungsunternehmen.

08.07.1927, Freitag aus „Heute keine Schüsse – Berlin in der Weimarer Republik“

Im Auftrag Radkes habe ich ein Schmucktelegramm mit Gratulationen für Käthe Kollwitz aufgegeben. Es wundert mich, dass die Künstlerin ihren sechzigsten Geburtstag nicht in der Akademie feiert. Immerhin war sie die erste Frau, die zur Mitgliedschaft in der Akademie aufgefordert wurde.

Käthe Kollwitz lebte bis 1943 in Berlin. 1919 wurde sie als erste Frau als Professorin an die Königliche Akademie der Künste in Berlin berufen. Sie war Mitglied der  Berliner Secession und  engagierte sich für die Arbeiterbewegung. 1933 wurde sie zum Austritt aus der Akademie gezwungen. Sie hatte gemeinsam mit anderen Künstlern u.a. Arnold Zweig, Ernst Toller, Erich Kästner den „Dringenden Appell“ gegen die Nationalsozialisten unterzeichnet. Kähte Kollwitz Werke wurden im Nationalsozialismus als „Entartete Kunst“ aus den Museen entfernt.

Das Käthe Kollwitz Museum in der Fasanenstraße 24 erinnert heute an die Künstlerin.