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Canis lupus

Canis lupus:

Wolf, Raubtier, das sehr stark einem deutschen Schäferhund ähnelt, aber einen dickeren Kopf und stets aufrecht stehende Ohren besitzt. Lebt im Sommer einzeln oder höchstens zu zweit, im Herbst und Winter in Rudeln, die Wild- und Haustiere reißen.
Obwohl in zahlreichen Schauermärchen immer wieder beschrieben wird, wie Wolfsrudel grausam Menschen überfallen und töten, steht heute fest, dass Wölfe normalerweise keine Menschen angreifen. Die Seltenheit solcher Vorfälle beruht wahrscheinlich auf der Tatsache, dass Menschen nicht die Reizmuster auslösen, die einen Wolf angreifen lassen.

Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll.

Vielleicht damit, dass mir diese Geschichte ohnehin keiner glauben wird. Zumindest das, was hinter den Ereignissen steht, ist so phantastisch, dass es mir niemand glauben wird. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es mir heute selbst noch glaube.

Damals, vor fast fünf Jahren, schien mir alles wirklich, absolut glaubhaft und – grauenvoll.

Heute, so habe ich beschlossen, werde ich mich auf die Darstellung der Ereignisse beschränken. Mag jeder aus dem Beschriebenen seine eigenen Schlüsse ziehen.

I

Die Geschichte begann mit dem Cover einer Schallplatte, die mir ein Freund zum Überspielen ausgeliehen hatte. Weder an die Gruppe noch an den Titel der LP kann ich mich noch erinnern. Ich hatte mir die Platte noch nicht einmal überspielt. Ich gab sie irgendwann zurück und vergaß sie. Nur das Bild auf der Schallplatte blieb mir in Erinnerung. Eine Erinnerung, die allmählich so stark und gegenwärtig wurde, dass ich beschloss, mir das Cover noch einmal genauer anzusehen. Ich wollte heraus finden, was mich an diesem Bild so beeindruckt hatte, dass ich es, auch nach Monaten, noch ständig in Gedanken mit mir herum trug.

Wie gesagt, den Titel der LP hatte ich vergessen. Und der Freund, der mir die Platte ausgeliehen hatte, war seit Wochen in Indien unterwegs. Er hatte gerade sein Studium abgeschlossen und gönnte sich einen ganzjährigen Erholungs- und Erfahrungsurlaub.
Auch in den Schallplattenläden, die ich durchstöberte, konnte ich die Platte nicht finden. Sie war wohl schon älter und wurde nicht mehr im Programm geführt. Schließlich gab ich die Suche auf.

Aber die Erinnerung an das Bild blieb. Ich sah dieses Schallplattencover so deutlich vor mir, dass ich eines Tages beschloss, das Bild zu malen.
Eigentlich konnte ich gar nicht malen. Zumindest hatte ich es noch nie versucht. Und so war ich überrascht, als die Skizze, die ich da mit Bleistift auf ein loses Blatt Papier strichelte, dem Bild, das ich vor Augen hatte, immer ähnlicher wurde. Es war fast unheimlich, wie sehr die fertige Zeichnung dem Bild auf dem Schallplattencover glich und wie lebendig der Wolf wirkte.

Ja, es war das Bild eines Wolfes, das mich in seinen Bann gezogen hatte. Ein großer, grau-schwarzer Wolf war es. Unter einem nächtlichen, wolkenverhangenen Himmel stand der Wolf mit den Vorderbeinen reglos auf einem Felsblock. Der Wolf schien auf etwas, das unmittelbar vor ihm sein musste, zu lauern. Ich hatte das Düstere und Unheimliche dieser Szene in meiner Zeichnung so eindrucksvoll wiedergegeben, dass mich Freunde, denen ich mein Bild zeigte, erstaunt fragten, welchen finsteren Gedanken ich wohl zeitweilig nachhing, die mich zu solchen Bildern veranlassen würden.
Objektiv wusste ich, dass dieses Bild bedrohlich wirkte.
Jeder würde eine solche Szene als gespenstisch beschreiben.
Und doch – meine Empfindung dieser Zeichnung gegenüber war eine andere: Es war ein Wiederfinden, als hätte ich mit dieser Zeichnung etwas seit langer Zeit Verlorenes, aber immer noch Vertrautes, wiedergefunden.

Ich war zufrieden mit meiner Zeichnung. Und es verging wohl kein Tag, an dem ich sie nicht hervor holte und betrachtete.
Der Wolf wurde mein ständiger Begleiter, ein immer gegenwärtiger Teil meiner Gedanken.

II

Trotzdem war ich überrascht, als ich ihn eines Tages tatsächlich sah. Eigentlich war das, was ich da sah, überhaupt nicht möglich. Ein leibhaftiger Wolf, frei, in unserer Gegend ? Das konnte nicht sein. Wäre dieses Tier irgendwo ausgebrochen und liefe nun frei herum, hätte ich sicherlich davon gehört. Und doch, ich bin bis heute noch absolut sicher, dass das Tier, das ich damals auf dem Autobahndamm sah, ein Wolf war – der lebendig gewordene Wolf meiner Zeichnung.

Es dämmerte schon, als er plötzlich links von mir, weniger als hundert Meter entfernt, auf dem Damm auftauchte. Ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte, wie leicht dieses große, schwere Tier mit der Geschwindigkeit meines Wagens Schritt hielt.

Der Wolf begleitete mich fast einen Kilometer weit und verschwand dann.

Zugegeben – ich hatte mich lange und intensiv mit dem Wolf auf der Zeichnung beschäftigt. Wen würde es da wundern, wenn meine Phantasie aus einem ungewöhnlich großen, grauen Hund einen Wolf, meinen Wolf, machte. Aber ich wusste: Es war mein Wolf. Und welcher große Hund hält mühelos über eine längere Strecke mit einem schnell fahrenden PKW Schritt.

Die nächsten Tage las ich die Tageszeitung mit besonderem Interesse. Aber nirgendwo war ein Wolf entlaufen und niemand hatte einen Hund gesehen, der auffällig einem Wolf glich. Und doch war ich sicher, dass ich mir das Ganze nicht nur eingebildet hatte.

Einige Wochen vergingen.
Ich dachte noch immer an den Wolf meiner Zeichnung, als mir das Tier zum zweiten Mal begegnete.

Dieses Mal war es auf einer Landstraße. Es war spät geworden bei meiner Arbeit im Büro, und ich freute mich auf mein Bett und das lange Ausschlafen am nächsten Morgen. Dann sah ich ihn. Zuerst bemerkte ich nur die Augen. Große, starre Augen in denen das Licht meiner Autoscheinwerfer reflektierte..Es hätten ebenso gut die Augen irgendeines anderen Tieres sein können. Aber ich fühlte, dass er es war. Ich fuhr langsam auf ihn zu, bereit, anzuhalten. Es stand ganz ruhig am Straßenrand und blickte mir entgegen. Die ganze Szene erschien mir unwirklich, obwohl ich wusste, dass er da war.

Unwirklich, phantastisch – das war das Gefühl, das ich in diesem Moment empfand. Phantastisch – aber nicht unheimlich. Ich hatte überhaupt keine Angst. Ich wollte anhalten, aussteigen, den Wolf, meinen Wolf anfassen und mir so endgültig beweisen, dass es ihn gab, dass es mehr war als ein Traum, eine Phantasie. Ich wusste, der Wolf würde nicht davon laufen.
Ich hielt unmittelbar neben ihm an. Der Wolf ließ mich nicht aus den Augen. Reglos stand er da und blickte mich an. Und wieder hatte ich das Gefühl des Wiederfindens, des Vertraut seins, als würden er und ich uns schon lange Zeit kennen.

Es mussten Minuten vergangen sein, während denen ich mitten in der Nacht allein im Auto auf der Landstraße hielt. Unmittelbar neben dem Wolf. Minuten, während denen ich ihn genauso fixierte wie er mich.

Dann bemerkte ich die Scheinwerfer im Rückspiegel. Der Wolf hatte sie auch bemerkt. Er wendete den Kopf in Richtung des herankommenden Wagens, knurrte leise und verschwand lautlos.

Ich fuhr nach Hause. Dort nahm ich die Zeichnung heraus und betrachtete sie lange.
Ich wusste, es war nicht meine letzte Begegnung mit ihm gewesen.

III

Schneller als erwartet traf ich ihn ein drittes Mal.

Wieder war es spät, bereits Nacht, als ich das Büro verließ. Aber ich war nicht allein. Zusammen mit einem Kollegen hatte ich stundenlang am PC gesessen. Ich war müde, nervös und ärgerlich, dass diese Arbeit mich so lange aufgehalten hatte. Gemeinsam mit dem Kollegen ging ich zum Parkplatz, der um diese Zeit nicht mehr beleuchtet war. Ich erschrak, als ich den Wolf unmittelbar neben mir bemerkte. Bisher war er nur gekommen, wenn ich alleine war. Zugegeben, ich konnte ihn in der Dunkelheit nicht sehen, aber er war da, ganz sicher, ich spürte seine Nähe.

„Was hast du denn?“, fragte der Kollege, der mein Erschrecken bemerkt hatte.
„Ach, es war nichts“, erwiderte ich. „irgendein Vieh dort im Gebüsch. Wird wohl eine Hase oder so etwas gewesen sein.“

Ich wusste, ich konnte ihm nach mehr als 12 Stunden Arbeit am PC kaum klar machen, ich hätte einen Wolf gesehen. Eigentlich ging ihn mein Wolf auch überhaupt nichts an. Und – genau genommen – hatte ich den Wolf dieses Mal nicht gesehen – nur irgendwie geahnt.

Aber diese Ahnung war intensiver gewesen als die beiden letzten Begegnungen. Der Wolf war mir, für Sekunden nur, näher gewesen als jemals zuvor.

Zu Hause nahm ich erneut die Zeichnung hervor.
Sie war so realistisch, dass es schien, als könne der Wolf plötzlich das Bild verlassen und lebendig vor mir stehen.
Hatte ich dieses Bild wirklich gemalt?
Hatte ich es so gemalt?
Mir schien, als verändere sich das Bild. Als würde es mehr und mehr Wirklichkeit.
Jedes Mal, wenn ich es heraus nahm und betrachtete, schien es ein bisschen mehr wirklich.
Jedes Mal ein bisschen mehr.
Jedes Mal immer mehr – bis …

Ja … bis was eigentlich?

Was würde geschehen?

„Wer bist du?“ fragte ich den Wolf auf meiner Zeichnung.
„Wie soll das weiter gehen? Was willst du von mir? Was verbindet und beide? Dich und mich.“

Doch der Wolf auf meiner Zeichnung blieb stumm. Immer noch mit den Vorderbeinen auf dem Felsblock stehend, schien er auf etwas zu lauschen … und blickte mich an.

Erschrocken starrte ich in die Augen meines Wolfes. War die Zeichnung schon immer so gewesen? Hatte mich der Wolf schon immer angeblickt? Oder hatte sich die Zeichnung tatsächlich verändert?
Unmöglich!
Jetzt ging tatsächlich meine Phantasie mit mir durch!
Was sollte das Ganze eigentlich?
Eine Zeichnung, die sich veränderte. Ein Wolf mitten in einer dicht besiedelten Gegend, in der es schon seit Jahrzehnten keine Wölfe mehr gab. Ein Wolf, den zudem außer mir niemand sah.
Unsinn!

Entschlossen zog ich die Schublade auf, legte die Zeichnung unter einen Stapel Schmierpapier und schwor mir, sie nie mehr hervor zu nehmen.

Schön, das Bild des Wolfes hatte mich irgendwie fasziniert. Soweit gut. Aber ich würde ihm nicht mehr erlauben, weiter den größten Teil meiner Gedanken einzunehmen. Schluss damit !

So bemühte ich mich also, die Zeichnung und den Wolf aus meinen Gedanken zu verdrängen.

IV

Und es gelang mir ganz gut.

Nach einigen Wochen war der Wolf fast vergessen.
Ich hatte meine Stelle gekündigt und war gemeinsam mit meinem Mann in ein großes, altes Haus weit außerhalb der Stadt gezogen. Das Haus lag ziemlich einsam, und ich war oft alleine, da mein Mann erst spät abends von der Arbeit nach Hause kam.
Aber mir machte die Einsamkeit nichts aus. Ich hatte keine Angst vor dem Alleinsein und zudem sorgten das Haus, das immer noch nicht vollständig eingerichtet war, und der verwilderte Garten, den ich wieder in Ordnung bringen wollte, für genügend Zeitvertreib. Außerdem war ich nicht ganz alleine: Eine kleine, schwarz-weiße Katze, die uns wenige Tage nach dem Einzug zugelaufen war, leistete mir Gesellschaft.

Die Zeichnung mit dem Wolf hatte ich seit dem Umzug nur noch einmal in der Hand gehabt. Ich fand sie unter einem Stapel Papier als ich mein Arbeitszimmer einräumte.
Nichts hatte sich verändert. Da waren immer noch die gleiche Faszination und die gleiche Vertrautheit wie vor Wochen. Aber ich wollte das Spiel nicht wieder beginnen und legte sie deshalb gemeinsam mit dem Papier in die unterste Schublade meines Schreibtisches.

In den nächsten Tagen überlegte ich, ob wir uns nicht vielleicht einen Hund anschaffen sollten. Die Gegend war doch sehr einsam. Aber eigentlich mochte ich Katzen lieber.

Und dann geschah es.
Es war bereits Abend. Ich war alleine und ging gerade nach draußen um die Katze zu füttern, als der Mann plötzlich auftauchte.
Ich spürte sofort die Gefahr, obwohl er noch kein Wort zu mir gesagt hatte. Offensichtlich wusste er, dass außer mir niemand im Haus war, denn er bewegte sich selbstsicher und ohne jede Vorsicht auf mich zu.
‚Wahrscheinlich will er nur Geld’, ging es mir durch den Kopf, aber gleichzeitig bemerkte ich, dass er noch nicht einmal eine Maske trug.

„Wenn du dich ruhig verhältst, passiert dir nichts … fast nichts.“ Der Mann stand nun grinsend vor mir.
Mir kam das Ganze absolut unwirklich vor. Wie eine Szene aus einem zweitklassigen Kriminalfilm. Wie ein Zuschauer betrachtete ich alles. Ich wusste, dass der Mann log und erkannte die Gefahr, in der ich mich befand.
Aber diese Gefahr erschien mir so unwirklich, dass ich keine Angst hatte.

‚Das passiert gar nicht wirklich‘, ging es mir durch den Kopf. Gleichzeitig war ich fest entschlossen, den Mann, der immer noch unmittelbar vor mir stand, auf keinen Fall ins Haus zu lassen.

„Nun mach schon! Geh rein!“ schrie mich der Mann an und war im Begriff, mich grob zur Tür zu schieben.

In diesem Moment sprang ihn die kleine Katze, die zum Fressen gekommen war, mit einem wütenden Fauchen an. Fluchend packte der Mann die Katze und schleuderte sie gegen die Hauswand. Die Katze kreischte vor Schmerzen. Dieses entsetzliche Kreischen, das Kreischen der kleinen Katze, die so mutig ihr Zuhause verteidigt hatte, brachte mich in die Realität zurück.

Die Szene würde plötzlich wirklich und noch nie in meinem Leben hatte ich auf einen Menschen einen solchen Hass empfunden wie auf diesen Mann. Ich stand ihm gegenüber, bereit, ihn anzugreifen, ihn anzuspringen, genau, wie es meine Katze getan hatte. Ich wollte ihn töten und ich wusste, mein Hass würde ausreichen, ihn zu töten.

Ich spürte, wie sich meine Muskeln anspannten, wie ich Kraft sammelte, mich bereit machte … und dann … spürte ich noch etwas anderes. Er war wieder da, der Wolf. Unmittelbar neben mir, von den Sträuchern verdeckt, stand der Wolf. Ich wusste, er stand da, er lauerte, die Augen starr auf den Mann gerichtet und, genau wie ich, zum Angriff bereit. Ich konnte ihn spüren, ihn riechen und ich hörte sein leises, drohendes Knurren. Gespannt stand er da, genauso, wie ich ihn gezeichnet hatte, ich sah nicht zu ihm hin, aber ich wusste es und ich wusste auch, dass er seinen Kopf jetzt mir zu wandte, als erwarte er meinen Befehl.

In diesem Moment wich der Mann vor mir zurück. Er musste das Knurren also auch gehört haben. Sah er den Wolf? Nein, er konnte ihn gar nicht sehen, denn er starrte unentwegt nur mich an. Sein Gesicht war kreideweiß. Er stolperte rückwärts und hob abwehrend die Arme.

„Nein, das ist … das kann nicht sein .. bitte … nein …“ stammelte er. Noch nie hatte ich solches Entsetzen im Gesicht eines Menschen gesehen. Der Mann schien wahnsinnig vor Angst.
Endlich kam er zu sich und floh in panischem Schrecken.

Ich hatte ihn keinen Moment aus den Augen gelassen. Erst jetzt wandte ich mich den Sträuchern neben mir zu. Aber ich wusste es bereits, der Wolf war verschwunden.

Das Ganze hatte keine zehn Minuten gedauert und wäre nicht die Katze gewesen, die ich behutsam versorgte, ich hätte alles für einen Traum gehalten.

Jetzt stand es zweifelsfrei fest: den Wolf, meinen Wolf, gab es wirklich. Es war keineswegs ein Geschöpf meiner Phantasie. Denn warum sonst wäre der Mann so entsetzt davon gerannt?

Aber wenn es wirklich der Wolf gewesen war, der ihn so erschrocken hatte, warum hatte er dann nicht ein einziges Mal zu dem Gebüsch hinüber geblickt? Er musste doch das Knurren gehört haben. Warum starrte er die ganze Zeit nur mich in panischer Angst an? Wieso lief er vor mir davon? Wieso nicht vor dem Wolf?

Aber ich war zu müde, um weiter darüber nach zu denken. Ich vergewisserte mich noch, dass alle Türen und Fenster verschlossen waren und ging dann zu Bett.

Zwei Tage später las ich es in der Zeitung:

Spaziergänger hatten die Leiche eines unbekannten Mannes in unmittelbarer Nähe unseres Hauses gefunden. Der Mann war durch Bisse eines vermutlich sehr großen Hundes tödlich verletzt worden. Der Hund war bisher von niemandem gesehen worden. Die Polizei riet zur Vorsicht, da es sich, nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, um ein extrem bösartiges Tier handeln müsse.

Dem Bericht folgte ein Kommentar des hiesigen Tierschutzbundes, der den Hund verteidigte und erklärte, es sei immer die Schuld der Menschen, wenn ein Hund so bösartig würde und die, die Mitarbeiter des Tierschutzbundes, würden alles versuchen, das Tier vor der Polizei zu finden und einzufangen.

Nachdem ich diese Berichte gelesen hatte, ging ich in mein Arbeitszimmer, öffnete die Schublade, nahm die Zeichnung heraus und verbrannte das Bild ohne es mir noch einmal anzusehen.

Dann wusch ich mir die Hände. Irgendein roter Kuli oder rote Tinte mussten in der Schublade ausgelaufen sein.

Und ich wusste, sie würden den Wolf, meinen Wolf, niemals finden.

Dream evil

I

Ich sollte mich erst einmal richtig erholen, haben sie gesagt. Mir Zeit lassen, mich entspannen, spazieren gehen. Erst müsse ich den Schock überwinden, dann käme auch die Erinnerung wieder.
Es wäre Notwehr gewesen, ohne jeden Zweifel. Mich träfe keine Schuld. Allenfalls könne man mir Leichtsinn vorwerfen, dass ich einem Fremden die Wohnungstür geöffnet hätte. Denn ich müsste ihn hereingelassen haben. Nichts deute auf einen Einbruch hin. Eigentlich erstaunlich, meinten sei, dass ich diesen Mann überwältigen konnte. Er sei mir körperlich weit überlegen gewesen. Es sei ein Wunder, dass ich selbst fast unverletzt blieb.
Die tiefen Kratzer und die Bisse im Gesicht, an meinen Händen und Armen müssten wohl von der Katze stammen. Vermutlich hätte ich versucht, das verstörte Tier einzufangen, ehe es davon lief.
Eigenartig, überlegten sie, dass man immer noch nicht herausgefunden habe, wer der Fremde sei und weshalb er Kleidung aus dem letzten Jahrhundert getragen habe. Vielleicht sei diese Kleidung Teil eines Tricks gewesen, um in die Wohnung zu kommen.
Aber darüber sollte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Wichtig sei erst einmal, dass ich absolute Ruhe hätte.

Seit einer Woche bin ich nun hier. Seit einer Woche erzählen sie mir immer wieder das Gleiche.
Dass ich mich entspannen sollte.
Dass ich etwas Entsetzliches erlebt hätte und ich mich unbewusst weigern würde, daran zurück zu denken.
Dass mit der Zeit die Erinnerung wieder käme und sie mir dann helfen könnten das Entsetzen zu überwinden.
Dass man im Moment erst einmal abwarten müsse.

Sie werden vergebens abwarten.

Ich werde mein Gedächtnis nicht wieder finden; ich hatte es nie verloren.
Ich erinnere mich an alles.
Ich weiß, wer der Mann war.
Ich werde ihn niemals vergessen.
Die ganze Geschichte werde ich niemals vergessen können.
Aber ich kann ihnen diese Geschichte nicht erzählen.
Sie würden mir ohnehin nicht glauben.
Sie würden nur weiterhin versuchen, mir zu helfen und mich hier festhalten.

Aber sie können mir nicht helfen.

II

Es begann an einem Dienstag.
Ich hatte ein paar Tage frei und stöberte durch die Buchhandlungen.
Schließlich betrat ich einen kleinen Buchladen, der in einer Seitengasse, abseits der großen Geschäftsstraßen im Erdgeschoß eines alten Gebäudes untergebracht war.
Der Laden musste neu sein.
Ich war oft in diesem Teil der Stadt gewesen und kannte die Gassen und dieses Haus, das seit Jahren leer stand.
Der Besitzer war mir sofort sympathisch. Ich hatte Zeit, war die einzige Kundin und begann eine Unterhaltung mit dem etwa fünfzigjährigen Mann.
Warum er seinen Laden abseits des eigentlichen Geschäftsviertels eröffnet habe, wollte ich wissen. Hier käme doch kaum jemand vorbei und er könne schwerlich einen ausreichenden Umsatz machen.
Der Mann gab mir Recht. Aber dieser Laden sei nur der Anfang, meinte er. Er habe das Haus gekauft und plane, es wieder zu dem zu machen, was es ursprünglich gewesen war.
„In diesem Haus“, erklärte er, „ war einmal die größte und interessanteste Bibliothek der ganzen Stadt untergebracht. Was sie hier sehen ist nur ein kleiner Teil des gesamten Gebäudes, einer von vier Leseräumen im Erdgeschoss. Die eigentliche Bibliothek befand sich im ersten Stock: eine große, helle Halle mit hohen Regalen, die vielen hundert Büchern Platz boten.“
Und der Ladenbesitzer erzählte, er habe vor eines Tages wieder eine solche Bibliothek einzurichten.
Ich war neugierig geworden und fragte, ob ich mir diese ehemalige Bibliothek einmal ansehen dürfte.
„Warum nicht? Hier ist im Moment ohnehin nichts zu tun“, antwortete der Mann und kramte in der Schublade nach dem Schlüssel.
„Aber viel zu sehen gibt’s da nicht. Nur leere, staubige Regale, keine Bücher und überhaupt nichts Geheimnisvolles.“

Gemeinsam stiegen wir die schmale Wendeltreppe hinauf. Der Mann wollte gerade die Tür aufschließen, als ein Kunde den Laden betrat.
„Kundschaft. Ich muss nach unten. Schauen sie sich ruhig alles an. Und schließen sie nachher die Tür wieder ab.“
Mit diesen Worten drückte er mir den Schlüssel in die Hand und ging in den Laden zurück.
Gespannt öffnete ich die Tür und betrat eine große, sonnendurchflutete Halle.
Der Ladenbesitzer hatte die ehemalige Bibliothek treffend beschrieben: nichts weiter als hohe, schwere Regale aus dunklem Holz, allesamt leer und mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Ich war enttäuscht. Irgendwie hatte ich etwas Besonderes erwartet.
Aber hier gab es tatsächlich nichts Geheimnisvolles, abgesehen vielleicht von der bedrückenden Stille und fast unheimlichen Leere des Raumes. Eigenartig, dachte ich, dass nicht einmal Geräusche von der Straße zu hören waren.
Die Stille war so vollkommen und endgültig, dass ich heftig erschrak, als ein leises Miauen sie durchbrach.
Eine Katze? Hier oben? Wohl kaum.
Ein zweites Miauen folgte.
Lauter dieses Mal und eindringlicher.
Ich ging um die alten Regale herum. Das Miauen führte mich.
Dann sah ich sie:
Eine ausgewachsene, graue Katze, ganz oben auf einem hohen Wandbord.
Wie die da wohl hingekommen war, überlegte ich. Auf jeden Fall schien sie sich nicht wieder herunter zu trauen.
„Na‘ du arme Kleine, wie lange hockst du denn schon da oben? Los, trau dich!“
Mit ausgestreckten Armen lockte ich die Katze. Ich musste ihr nicht lange zureden. Sie sprang sofort, als hätte sie auf mich gewartet.

Mit der Katze im Arm verließ ich die Bibliothek. Seltsam, dachte ich beim Hinuntergehen, dass sie ausgerechnet neben dem einzigen Buch saß, das es in dieser Bibliothek noch zu geben schien.
Ich brachte dem Ladenbesitzer den Schlüssel zurück und wollte ihm auch seine Katze überreichen, doch er meinte, er habe das Tier noch nie gesehen und wisse nicht, wie sie da oben hingekommen sei.

Also nahm ich die Katze mit nach draußen, hockte sie auf den Bürgersteig und machte mich mit den Worten „Los, du Unglücksvieh, lauf nach Hause!“, selbst auf den Heimweg.
Doch die Katze dachte überhaupt nicht daran, nach Hause zu laufen. Stattdessen folgte sie mir und stand schließlich vor meiner Haustür.
Ich konnte noch nie jemandem etwas energisch genug abschlagen, und so kam es, dass die Katze bei mir einzog.

III

In der Nacht träumte ich von dem Buch, das als einziges in der Bibliothek gestanden hatte.
Ich erwachte mit der Katze im Bett und dem brennenden Wunsch, mir dieses Buch anzusehen.
Warum auch nicht? Ich hatte Urlaub und genügend Zeit. Also ging ich wieder zu dem Buchladen, erklärte dem Besitzer die Sache mit dem Buch und bat ihn, mich noch einmal in die Bibliothek zu lassen. Bereitwillig überließ er mir den Schlüssel zum zweiten Mal.

Eilig stieg ich die Wendeltreppe hinauf, schloss die Tür auf, betrat die Halle, fand das hohe Wandregal und sogar eine altmodische Trittleiter und hielt schließlich das Buch in der Hand.
Titel und Autor waren mir unbekannt, also schlug ich erwartungsvoll den alten Einband auf.
In diesem Moment wusste ich, warum man das Buch zurückgelassen hatte. Es war wertlos. Mäuse hatten den größten Teil der Seiten zerfressen. Nicht einen Satz konnte ich noch vollständig lesen. Enttäuscht brachte ich das Buch nach unten. Der Buchhändler verstand meine Enttäuschung und riet mir, das Buch mitzunehmen und in einem Antiquariat nach einem zweiten Exemplar zu fragen.

Ich ließ kein Antiquariat der Stadt aus.
Überall das Gleiche: weder Titel, noch Autor, ja nicht einmal der Verlag waren bekannt.
Eigentlich, sagte man mir, dürfte es dieses Buch gar nicht geben.
Als ich endlich müde mit dem wertlosen Buch die Wohnung betrat, wurde ich von der Katze erwartet. Schnurrend strich sie um meine Beine.
Sonderbar, überlegte ich, sie schien sich für das Buch zu interessieren. Sie konnte es doch nicht wiedererkannt haben. Ich warf das Buch auf das Sofa und ging in die Küche, um mir etwas zu Essen zu machen.
Als ich zurück kam, lag die Katze schnurrend auf dem Sofa neben dem Buch. Ihre gelben Augen blickten mir erwartungsvoll entgegen.

IV

In dieser Nacht begann der Albtraum.
Am Morgen erwachte ich zerschlagen. Neben mir lag die Katze, hellwach. Sie schien mich zu beobachten.
Wahrscheinlich hat sie darauf gewartet, dass ich aufwache, sie wird Hunger haben, überlegte ich.
Der Tag verlief ereignislos und ich vergaß den Traum.
Doch in der nächsten Nacht und in allen folgenden Nächten :
immer wieder der gleiche Traum, immer wieder dieser Mann, der mich immer wieder bat, ihm zu helfen. Er habe noch etwas zu erledigen, dazu müsse er zurück kommen, ich müsse dies für ihn vorbereiten, es wäre möglich, zurück zu kommen, ich solle doch das Buch lesen, da stände alles drin.

Nacht für Nacht dieser Traum.
Nacht für Nacht der Mann.
Nacht für Nacht sein Bitten,
das immer eindringlicher wurde.

Und Morgen für Morgen die Katze in meinem Bett, jeden Morgen hellwach und mich erwartungsvoll fixierend.

Es ist die Katze, dachte ich schließlich.
Irgendetwas verbinde ich mit diesem Tier und dieses Etwas schleicht sich dann als Albtraum in meinen Schlaf.

Am folgenden Abend ließ ich die Katze in den Keller.
Bevor ich zu Bett ging, prüfte ich sorgfältig, ob die Kellertür fest verschlossen war und versperrte sogar das Schlafzimmer.
Doch der Albtraum kam auch in dieser Nacht.
Immer fordernder und bedrohlicher wurde der Mann.
Ich solle dieses Buch lesen, ich müsse ihm helfen, er habe keine Zeit mehr, wenn ich ihm nicht freiwillig helfen würde, dann …

Mein eigenes Schreien musste mich geweckt haben.
Es war mitten in der Nacht.
Neben mir lag wieder die Katze und schaute mich mit gelben Augen an.
„Wie bist du hier herein gekommen?“ schrie ich.
„Was willst du von mir? Ich kann das Buch nicht lesen! Es gibt da nichts mehr zu lesen! Siehst du das nicht ein, du blödes Vieh! Ich kann ihm nicht helfen!“
Ich schrie, bis ich heiser war.
Die Katze lag nur bewegungslos da und starrte mich an.
Endlich ahnte ich, dass ich diese Katze und mit ihr den Mann und diesen Traum niemals loswerden würde.
Egal, wohin ich sie bringen würde, die Katze käme immer wieder zu mir zurück.
Und dieser Albtraum, dieser Mann – er würde mich höchstens noch einmal bitten und dann …

Plötzlich wusste ich, was zu tun war. Mir blieb gar keine andere Wahl.
Entschlossen packte ich die Katze. Sie ahnte, was ich vor hatte und wand sich in meinen Händen.
Sie kratzte und biss, doch ich ließ sie nicht los.
Halb wahnsinnig vor Angst, getrieben von der Drohung meines Traumes, rannte ich zur Küche.
Die sich sträubende Katze mir einer Hand fest an mich gepresst öffnete ich die Küchenschublade.
Hier irgendwo musste ein Brotmesser liegen.
Ich hatte noch nie ein Tier töten können. Noch nicht einmal eine Spinne konnte ich zertreten. Aber dieses Mal musste ich es tun.
Ich presste die Katze mit der linken Hand fest auf den Küchenboden.
Sie wand sich, fauchte, kratzte und biss.
Ich schloss die Augen und stach zu, so lange, bis sich die Katze nicht mehr rührte.

V

Meine Freundin, die einen Schlüssel zur Wohnung hatte und nur einmal vorbei schauen wollte, fand mich am Morgen am Küchentisch sitzend.
Das blutige Messer noch immer in der Hand.
Wortlos starrte sie erst mich, dann den toten Mann auf dem Küchenboden an.
Schließlich benachrichtigte sie die Polizei und brachte mich in diese Klinik.

Heute Nachmittag hat sie mich besucht.
Sie hatte mir etwas mitgebracht. Das arme Tier wäre wohl die ganze Woche in der Wohnung gewesen, meinte sie. Eigentlich seltsam, sie habe es doch an jenem Tag gesucht und nirgends gefunden. Es müsse sich aus Angst wohl irgendwo versteckt haben.

Die graue Katze hat also wieder zu mir gefunden.
Schnurrend liegt sie auf meinen Knien.

Wir beide wissen, was heute Nacht passieren wird.

Der schwarze Schimmel

I
Heute schütteln alle den Kopf. Wie konnte man auf so etwas herein fallen? Wie konnte man sich dermaßen für dumm verkaufen lassen?
Ein bisschen Lagerfeuerromantik, Kameradschaft, Fackelzüge und die Idee vom besseren Menschen – wie konnte man nur darauf herein fallen?
Aber ich war vierzehn und stolz, dabei zu sein. Ich war stolz, eine HJ- Uniform zu tragen und ich glaubte, was ich in der Wochenschau sah.
Und … vielleicht das Wichtigste: Ich war nicht allein. Es waren Tausende.
Da waren welche vor mir. Vorbilder. Wisst ihr noch, was Vorbilder sind? Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was es für einen Vierzehnjährigen bedeutet, endlich jemanden zu finden, der weiß, wo es lang geht und worauf es ankommt?
Und es waren welche neben mir. Freunde. Freunde, die schwuren, auf die Fahne, mit mir durch dick und dünn zu gehen. Wisst ihr, wie gut es einem Vierzehnjährigen tut, zu wissen, er ist nicht allein?
Und dann die hinter mir. Die Kleinen. Die vom Jungvolk. Für die war ich Vorbild. Es ist ein gutes Gefühl, bewundert zu werden.
Das alles gaben sie mir. Dazu klare, einfache Regeln, eine verständliche Ordnung: für mich selbst, mein Leben und die Welt. Könnt ihr euch vorstellen, wie sehr ein Vierzehnjähriger nach einer einfachen Ordnung sucht, nach Prinzipien, nach etwas, das einen Sinn in das Chaos „Welt“ bringt?
Alles das gaben sie mir – und jede Menge Abenteuer und Zeitvertreib noch dazu. Wundert ihr euch jetzt immer noch, dass ich begeistert mitmachte und gar nicht mitbekam, was eigentlich passierte?
Ich hatte das bis zum Schluss nicht begriffen. Man hat es mir erzählt. Ich habe darüber gelesen. Ich habe mir sogar hier und da etwas angeschaut … Dachau, zum Beispiel und später Buchenwald. Aber ich habe es bis heute nicht begriffen. Ich meine, so dass es überall gleichzeitig klar ist: im Kopf und im Bauch, mit dem Verstand und dem Gefühl. Wisst ihr, wie ich das meine? Ich habe immer noch das Gefühl, als hätte ich damit nichts zu tun gehabt. Natürlich bin ich mit marschiert und habe „Heil Hitler!“ geschrien und Scheiben eingeworfen.
Aber so, so wie in Buchenwald, habe ich das doch nie gemeint! Und jetzt sagen sie, zwischen mir und Buchenwald, da bestände eine Verbindung. Über mich und die vielen anderen führe ein Weg geradewegs nach Buchenwald und Dachau und Auschwitz und …
Wahrscheinlich muss man Soziologie oder Psychologie oder sonst etwas studiert haben, um diesen Weg zu sehen. Mein Gott! Ich war damals gerade vierzehn und ich habe es bis heute nicht begriffen!
Aber eines weiß ich: Es fängt wieder an. Sie sind wieder vierzehn und suchen nach Vorbildern, nach Kameradschaft, nach Sinn, nach einfachen Antworten, nach Spaß und Zeitvertreib.
Sie sind vierzehn und schmeißen Scheiben ein.
… Ob sie begreifen, dass sie am Anfang eines Weges stehen?
Für sie erzähle ich diese Geschichte. Nicht für die Studierten, nicht für die Historiker, die kennen die große Geschichte. Was sollte ihnen meine kleine Geschichte nutzen?
Nein, ich will versuchen wieder vierzehn zu sein und eine Geschichte erzählen. Meine Geschichte. Ein Stück Weg, der nicht in Auschwitz endete. Eine Geschichte, die unbedeutend scheint, gemessen an jener großen Historie. Eine Geschichte, die nur den Weg eines einzigen Menschen beschreibt. Einen Weg, der mich dennoch hundert Mal mehr betroffen macht, als der Weg der Hunderttausenden in die Konzentrationslager.
Vielleicht weil meine Geschichte ein Gesicht hat, Hände und Arme und Beine, eine Stimme, Augen und einen Namen.

II
Sie war eines Tages einfach da.
Mutter hatte sie mitgebracht und nur gesagt, wir müssten sie verstecken. Wie kamen wir dazu, eine Jüdin zu verstecken? Ihre Eltern seien abgeholt worden und dort, wo man sie bisher versteckt habe, könne sie nicht mehr bleiben. Und nun sei sie eben hier, sagte meine Mutter. Mit meiner Mutter über die Sache zu diskutieren, hatte keinen Sinn. Sie war gegen meine Mitgliedschaft in der HJ und ließ mich nur gehen, um nicht aufzufallen. Mein Vater kämpfte in Russland für den Führer und meine Mutter kämpfte in Berlin direkt vor der Nase der SS dagegen. Sie war eine Politische. Ich hasste sie dafür. Sie verriet die Sache meines Vaters. Manchmal kam mir der Gedanke, meine Mutter anzuzeigen. Ich habe es aber nie getan; sie war meine Mutter.
Nein, ich hätte sie nie verraten, auch nicht, als sie diese Jüdin ins Haus brachte.
Hannah heiß sie. Sie war sechs und stand einfach mit ihrem kleinen Koffer in unserer Küche.
Sie stand da und starrte hungrig auf den Tisch, den ich gerade zum Abendessen gedeckt hatte. Drei Teller: einen für mich, einen für meine Mutter und einen für die Alte, die über uns wohnte. Wir hatten Brot, etwas Butter und Äpfel, die ich organisiert hatte. Und … als besonderen Luxus: Tee. Es gab damals, gegen Ende des Krieges kaum noch etwas. Nicht einmal auf dem Schwarzmarkt war noch etwas zu haben. Wir hatten eigentlich noch Glück. Hier, ein paar Kilometer vor Berlin konnte man wenigstens ab und zu noch etwas Obst oder Gemüse von den Bauern bekommen. Doch viel gab es nicht mehr. Die meisten Felder waren zerbombt.
Aber ich war zufrieden mit Brot und Äpfeln. Für mich war es selbstverständlich, dass die Soldaten an der Front zuerst versorgt wurden. Ich glaubte fest an den Sieg, entgegen aller Versuche meiner Mutter, mich vom bereits verlorenen Krieg zu überzeugen. Ich hasste die linke Propaganda! Ich wollte mit für unseren Sieg kämpfen! Was hätte ich dafür gegeben, um wenigstens als Flakhelfer nach Berlin zu gehen!
Aber meine Mutter verbot es. Und deshalb blieb ich. Wütend, trotzig, voller Hass – aber ich blieb.
Und dann brachte sie auch noch Hannah mit. Sie zog ihr Schuhe und Mantel aus, rückte ihr einen Stuhl zum Tisch, bestrich eine Scheibe Brot dünn mit Butter, schnitt die Äpfel in Stücke und meinte, wir sollten essen und uns dabei kennen lernen. Sie würde inzwischen der Alten etwas bringen.
Und Hannah setzte sich und aß und erzählte. Dass ihre Eltern schon lange weg seien. Dass sie gar nicht mehr wissen, wie sie ausgesehen hätten. Dass sie das manchmal sehr traurig machen würde. Dass die ganze Zeit Monika und Franz ihre Eltern gewesen seien. Dass sie die aber jetzt verhaftet hätten. Sie erzählte, wie sie sich unter den Fußbodenbrettern versteckt hatte. Ganz klein habe sie sich gemacht und trotzdem sei es schrecklich eng gewesen. Und gefroren habe sie. Und sie habe fast keine Luft mehr gekriegt. Und jedes Mal habe sie große Angst gehabt, wenn jemand mit schweren Stiefeln direkt über ihr herumging. Und dann, beim letzten Mal, sei es irgendwann für ganz lange ganz still geworden. Aber sie habe sich nicht getraut, aus ihrem Versteck heraus zu kommen. Und dann seien noch einmal Schritte gekommen und jemand hätte die Dielen hochgeklappt. Sie hätte wieder Angst gehabt, aber es sei meine Mutter gewesen und die habe sie mitgenommen. Und dann wäre sie zum ersten Mal seit ganz langer Zeit wieder draußen im Freien gewesen. Und sie hätte lange laufen müssen. Und über die Felder hätte meine Mutter sie getragen. Und sie hätte wieder Angst gehabt. Angst davor, dass sie beide sich in der Dunkelheit verlaufen würden.
„Aber jetzt bin ich hier. Schön warm ist es hier. Hast du etwas zum Trinken für mich?“ schloss Hannah ihre Geschichte. Während sie erzählt hatte, saß ich am Tisch, kaute mein Brot und versuchte, gar nicht hinzuhören. Aber Hannah war eine gute Geschichtenerzählerin und irgendwann hörte ich doch zu. Ich glaube, ich war sogar ein bisschen neidisch auf die Abenteuer, die sie erlebt hatte.
„Du, ob du etwas zum Trinken für mich hast?“ wiederholte Hannah ihre Frage. Ich stand auf, goss Tee in die Tasse und stellte sie Hannah hin.
„Zucker gibt’s keinen.“
Aber Hannah war nicht verwöhnt. Sie trank den warmen Tee in großen Schlucken. Und dann kam meine Mutter zurück und setzte sich zu uns. Hannah kletterte auf ihren Schoß und begann, sie über die Frau auszufragen, der sie eben das Essen gebracht hatte.
Die Alte, jeder nannte sie so, lebte in der Dachkammer über uns. Sie war blind, uralt und wohl irgendwie mit uns verwandt. Mutter versorgte sie. Wusch für sie und brachte ihr das Essen. Immer, wenn ich zu ihr kam, saß sie in ihrem Schaukelstuhl. Tatsächlich schien sie diesen Schaukelstuhl nie zu verlassen. Selbst abends, wenn ich im Bett lag, begleitete mich das Knarren der Dielen unter dem Schaukelstuhl in den Schlaf. Von mir hielt die Alte vermutlich nicht besonders viel. Auf jeden Fall sprach sie nie ein Wort mit mir. Naja, eigentlich konnte ich sie auch nicht leiden und überließ es lieber meiner Mutter, ihr das Essen zu bringen.
Hannah wollte nun also wissen, wer die Alte war … und meine Mutter erzählte ihr von der alten Frau im Schaukelstuhl.
„Und morgen gehst du sie besuchen. Ich denke, ihr beide könntet Freunde werden. Aber jetzt müssen wir erst einmal überlegen, wo du heute Nacht schlafen wirst.“ Die beiden überlegten und beschlossen schließlich, dass Hannah im Bett meiner Mutter schlafen sollte. „Ein weiteres Bett wäre zu auffällig. Und jetzt gehen wir schlafen. Alles andere regeln wir morgen.“ Meine Mutter stand auf, um Hannah ins Bett zu bringen. „Morgen müssen wir auch ein gutes Versteck für dich finden. Falls sie kommen.“ „Aber nicht wieder unter dem Fußboden“, hörte ich Hannah noch sagen, als ich auf dem Weg in mein Zimmer war.
So zog also diese kleine Jüdin bei uns ein, aß unser Brot, trank unseren Tee, erzählte Abenteuergeschichten und schlief im Bett meiner Mutter.

III
Ich kann nur schwer beschreiben, was ich die ersten Wochen für Hannah empfand. Sie war die erste Jüdin, die ich kannte. Ich meine, richtig kannte. Natürlich hatte es da ein paar jüdische Geschäfte in unserer Gegend gegeben. Aber die waren schon lange von Deutschen übernommen worden.
Und dann gab es noch die Juden auf der Straße mit ihren komischen Hüten und Zöpfen und langen schwarzen Mänteln.
Ich war zehn oder elf, als ich zum ersten Mal erlebte, wie es war, Macht über Erwachsene zu haben. Wir standen einfach nur da, auf dem Bürgersteig, fünf oder sechs Jungen aus meiner Gruppe. Wir standen da und die Juden, drei erwachsenen Männer, verließen den Bürgersteig und gingen im Morast der Straße weiter. Ein tolles Gefühl war das. Und als einer aus unserer Gruppe sich bückte, aus dem Dreck einen Klumpen formte und nach den Juden warf, drehten sie sich nicht einmal um. Ich konnte ihre Angst spüren und irgendwie bestätigten sie durch dieses Verhalten, durch ihre Angst unsere These vom Herrenmenschen. Wie sonst konnte es passieren, dass diese drei erwachsenen Männer sich vor zehnjährigen Kindern fürchteten? Ich habe dann auch n mit Lehm geschmissen und meine Mutter hat es rausgekriegt und mir gedroht, sie würde mir die Gruppenabende streichen, wenn ich so etwas noch einmal täte. Aber ich war trotzdem immer wieder dabei.
Und später dann sind die Juden von der Straße verschwunden. Geflüchtet oder abtransportiert. Sie würden irgendwo im Osten in Sammellagern untergebracht, hieß es. Ich fand das damals gut. Auf diese Weise konnte man verhindern, dass sich die beiden Rassen noch stärker vermischten, dachte ich. Sie hatten uns damals nämlich von einer heimlichen Unterwanderung durch die Juden gewarnt. Außerdem konnten sie ihnen dort deutsche Werte, Fleiß und Ehrlichkeit beibringen. Man hatte uns erzählt, alle Juden seien faul und würden ihren Lebensunterhalt ausschließlich durch Lügen und Betrügen verdienen. Und tatsächlich konnte ich mich als Vierzehnjähriger nicht daran erinnern, jemals einen arbeitenden Juden gesehen zu haben, außer eben in den Wochenschauen in den Arbeitslagern. Die Juden, an die ich mich erinnerte, standen immer nur herum. Meine Mutter hatte mir damals erklärt, dass niemand mehr einem Juden Arbeit geben würde, aber ich wollte ihr nicht glauben.
Diese Vorstellung von Juden hatte ich also, als Hannah zu uns kam.
Äußerlich passte sie auch irgendwie in das Bild. Schwarzhaarig, dunkel, dürr … sie glich mehr einer streunenden Katze als dem Idealbild, das ich damals von Mädchen hatte.
Sie erzählten uns, alle Juden seien verlogen und hinterhältig. Aber das traf auf Hannah ganz bestimmt nicht zu. Sie war ein offenes Buch. Wenn sie von ihrem Leben, ihren Wünschen, Ideen und Phantasien plapperte, dann war da ganz bestimmt nichts gelogen und irgendeine hinterhältige Absicht hätte ich auch vergeblich gesucht. Bestenfalls noch den Versuch, mich mit ihren Geschichten etwas freundlicher zu stimmen, denn ich behandelte Hannah eigentlich immer noch ziemlich kühl. Sie war nun einmal Jüdin. Das wollte ich nicht vergessen. Immerhin war ich HJ-Gruppenführer, schon mir vierzehn, und ich war stolz darauf. Ich hatte Freunde, deutsche Freunde und legte auf die Freundschaft einer kleinen Jüdin keinen besonderen Wert. Damals überlegte ich auch, ob nicht alle jungen Juden so waren wie Hannah und ob sich die schlechten Charaktereigenschaften nicht vielleicht erst später bildeten. Aber ich fand darauf nirgendwo eine Antwort und fragen konnte ich erst recht keinen.
Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum Hannah so um meine Freundschaft bemüht war. Sie hatte doch meine Mutter und die Alte. Ja, Hannah hatte die Alte rumgekriegt. Sie beiden waren enge Vertraute. Aber von dieser Freundschaft werde ich später erzählen.
Vielleicht brauchte Hannah mich, weil sie gleichaltrige Freunde vermisste. Ich habe das damals einfach nicht sehen wollen. Wahrscheinlich war da für einen Vierzehnjährigen zu viel Gefühl dabei, denn Hannah war trotz meiner Mutter und der Alten einsam. Stundenlang erzählte sie mir, wie das sein würde, wenn sie sich nicht mehr verstecken müsste. Sie würde Freunde und Freundinnen habe, mit ihnen auf der Straße spielen und sie zu Puppengesellschaften einladen. Und alle ließe sie auf Arian reiten.
Ja. Von Arian muss ich auch noch erzählen. Ohne ihn wäre diese Geschichte ganz anderes ausgegangen. Oder vielleicht doch nicht, falls es so etwas wie ein voraus bestimmtes Schicksal gibt. Also Arian war Hannahs dritter Freund, wenn man von mir einmal absieht. Und Arian war ein alter Schimmel, der solange ich denken konnte, auf der Wiese gegenüber unserem Haus graste. Hannah konnte Arian vom Dachfenster aus sehen, und da es sonst nicht besonders viel zu sehen gab, stand sie ewig am Fenster und schaute dem Schimmel zu. Und wenn der Schimmel einmal den Kopf hob, winkte Hannah und behauptete, er habe ihr zugenickt.
Arian … Hannah hatte ihn so getauft, keine Ahnung wie sie auf den Namen kam, … Arian, glaube ich verkörperte für Hannah die Freiheit, die sie nur vom Erzählen kannte. Sie konnte sich hundert Geschichten ausdenken, was sie alles tun und erleben würde, wenn sie endlich hinaus und runter zu Arian gehen dürfte. Sie würde einfach auf ihm davon reiten und die tollsten Abenteuer erleben. Hannahs Geschichten waren so fesselnd, dass ich mich immer wieder dabei ertappte, wie ich gespannt zuhörte. Ich schämte mich dann jedes Mal, weil ich mich von den Phantasien eines kleinen Mädchens, noch dazu einer Jüdin, in den Bann ziehen ließ.

Hannahs Liebe zu Arian und ihr Wunsch, einfach auf ihm in die Freiheit zu reiten, wurden so stark, dass meine Mutter mir einschärfte, immer die Türen verschlossen zu halten. Sie fürchtete, Hannah könnte eines Tages einfach hinaus marschieren und versuchen, ihren Traum war zu machen.
„Dabei muss sie nur noch ein paar Wochen aushalten, dann wird sie wirklich frei sein.“
Ich werde diesen Satz meiner Mutter nie vergessen.
Es war März, als sie es sagte. Wir hatten einen langen, hungrigen Winter hinter uns und versteckten Hannah schon mehr als vier Monate. Meine Mutter meinte die bevorstehende Kapitulation. Damals hasste ich meine Mutter für diesen Satz. Und während sie im Untergrund heimlich die Übernahme Deutschlands durch die Kommunisten vorbereitete, plante ich heimlich weg zu laufen und mich den Volkssturm anzuschließen. Deutschland würde diesen Krieg niemals verlieren. Davon waren alle meine Freunde überzeugt und wir weigerten uns, irgendetwas anderes zur Kenntnis zu nehmen. Ich lief jedoch nicht heimlich weg. Dort war der Volkssturm und hier waren meine Mutter, die Alte und eben auch Hannah. Sie brauchten mich in diesem Hungerfrühling. Wer sonst sollte ihnen Lebensmittel organisieren? Ich kannte mich auf dem Schwarzmarkt aus und hatte genügend Beziehungen, um trotz allem immer noch irgendwoher etwas Essbares zu besorgen. Ich war es, de diese seltsame Familie durch den Winter gebracht hatte. Und ich war stolz darauf und ich konnte sie jetzt, im Frühjahr nicht sich selbst überlassen.
Also musste der Volkssturm warten.

IV
Und dann, völlig unerwartet für mich, war alles vorbei.
Aber zuerst muss ich noch von Hannahs Freundschaft mit der Alten erzählen.
Wir konnten Hannah natürlich nicht mir in den Luftschutzbunker nehmen. Und die Alte, vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht aus Gleichgültigkeit weigerte sich schon lange, bei jedem Luftangriff ihren Schaukelstuhl zu verlassen. So blieben die beiden also während der Luftangriffe gemeinsam in der Dachkammer. Hannah erzählte mir immer alles, was sie in unseren vier Zimmern erlebte. Aber sie hat niemals, bis auf eine Ausnahme, berichtet, was die Alte und sie während der vielen Luftangriffe in der Dachkammer taten. Ich wusste nicht einmal, ob sie da oben Angst hatte, ob sie zum Fenster hinaus schaute, sich irgendwo verkroch oder einfach so tat, als sei nichts, ob die beiden redeten, schwiegen oder zusammen beteten. Ich habe von Hannah auf diese Fragen nie eine Antwort bekommen und irgendwann habe ich aufgehört zu fragen.
Und dann kam Hannah nach einem Luftangriff ganz aufgeregt aus der Dachkammer und begann zu erzählen: „ Ich weiß jetzt, wann ich rausgehen darf. Wann das hier alles zu Ende ist. Wann ich meine Eltern und alle alten Freunde wieder treffen werde. Es wird gar nicht mehr lange dauern. Sie weiß es, die Alte, sie hat es mir gesagt.“
Ich war wütend auf die Alte, weil sie Hannah Hoffnung gemacht hatte.
„Was hat sie dir gesagt?“ wollte ich von Hannah wissen.
Und Hannah erzählte voller Freude:“ ‚Wann kann ich endlich da raus gehen? ‘ habe ich sie gefragt und die Alte hat geantwortet: ‚ Bald. Wenn du einen schwarzen Schimmel siehst, wirst du frei sein.“
Meine Wut auf die Alte wuchs. Warum musste sie sich über Hannahs Sehnsucht lustig machen?
„Die Alte hat das nicht ernst gemeint. Es gibt keine schwarzen Schimmel, Hannah.“
Aber Hannah ließ sich nicht beirren. Von diesem Tage an stand sie noch häufiger am Fenster. Sie winkte Arian zu und hielt Ausschau nach dem schwarzen Schimmel.
V
Es war in einer Nacht Anfang Mai. Selbst mir gelang es kaum noch etwas zum Essen aufzutreiben und wir waren alle mit leerem Magen zu Bett gegangen. Irgendwann muss ich trotz meines Hungers eingeschlafen sein, denn ich hatte nicht gemerkt, dass Hanna aufgestanden war und wieder einmal an meinem Fenster stand, um auf ihren schwarzen Schimmel zu warten. Ich wurde erst wach, als Hannah aufgeregt an die Fensterscheibe klopfte.
„Nein!“ schrie sie, „das dürfen sie nicht machen. Sie dürfen Arian nicht mitnehmen! Sie haben schon so viele mitgenommen! Nicht auch noch Arian!.“
Hannah wurde immer aufgeregter und plötzlich drehte sie sich um und rannte aus dem Zimmer.
In diesem Moment wurde mir klar, was da passierte und auch, dass sich vergessen hatte, die Haustür abzuschließen. Ich sprang aus dem Bett, warf einen kurzen Blick durch das Fenster auf den LKW des Abdeckers und rannte hinter Hannah die Treppe hinunter. Ich hoffte, sie noch aufzuhalten. Wenn sie da unten einen Aufruhr verursachen würde, wären wir alle dran. Und dann fiel die Tür ins Schloss und ich wusste, dass ich zu spät kam. Und ich hörte Motoren und dann Reifen quietschen und Leute durcheinander schreien. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Aber als ich die Haustür öffnete, sah ich die Straße und wusste, was sie meinten.
Ich ging zu Hannah und hockte mich neben sie. Sie strahlte mich an: „Siehst du, du wolltest mir nie glauben! Es gibt ihn doch, den schwarzen Schimmel! Ich habe ihn gesehen, eben, als er im Licht des Autos auf mich zukam. Die Alte hatte recht. Jetzt werde ich bald frei sein und auf Arian reiten.“
VI
Eigentlich ist dies das Ende meiner Geschichte.
Hannah ist überfahren worden.
Ausgerechnet von denen, die ihr die Freiheit bringen sollten. In jener Nacht sind die Russen in unser Dorf einmarschiert.
Eine unbedeutende Geschichte, meine Geschichte von Hannah. Was bedeutet schon eine tote Jüdin mehr, gemessen an den hunderttausenden, die in den KZs starben. Aber ich habe keinen dieser Juden gekannt, die sie in den KZs ermordeten. Hannah aber kannte ich. Sie hatte Augen, Hände, Arme, Beine und einen Namen. Und sie erzählte mir von ihren Ängsten, ihren Träumen und ihrer Hoffnung.
Vielleicht, wenn jene große Geschichte mit den vielen Toten auch von Gesichtern mit Namen handeln würde, könnte ich es begreifen.
Gott bewahre mich davor. Ich kann mit meiner Geschichte und meiner Schuld kaum leben.
Wie sollte ich die große Geschichte aushalten!

Weihnachten

Er hatte lange geschlafen. Es muss Nachmittag sein, überlegte er. Warum hatten sie ihn nicht zum Essen geweckt? Der Junge stand auf. Es war kalt im Zimmer. Jeans, T-Shirt und Pullover lagen noch am Boden, dort, wo er sie heute Morgen hingeworfen hatte. Schnell schlüpfte er in die Hose, zog das T-Shirt und den Pullover über. Dass die Kleider nach Rauch und Bier rochen, störte ihn nicht. Er hatte Hunger.
Der Junge stieg die Treppe hinunter. Zum ersten Mal bemerkte er die Spinnweben am Geländer. Die Treppe war schon lange nicht mehr geputzt worden. Sie lässt sich ganz schön hängen, dachte er. Seit dem Tod vom Alten war sie so. Zwei Monate ist das jetzt her. Mein Gott, war das ein Aufstand. Dabei wussten doch alle, was los war. Todgesoffen hat er sich. Leberkrebs. War ein Scheißtod. Eigentlich waren wir alle froh, als es endlich vorbei war. Sie hätte sich doch auch freuen müssen, so, wie der mit ihr umgesprungen war, die letzten Jahre.
Der Junge betrat die Küche. Heiß war es hier und stickig. Sie hatten sich nie eine Zentralheizung leisten können. Er hasste es, die Kohlen aus dem Keller hoch zutragen. Oft hatte er deshalb Streit mit dem Alten bekommen. Jetzt holte sie die Kohlen aus dem Keller. Er ging zum Radio. Mussten die denn von morgens bis abends Weihnachtslieder dudeln? Der Junge stellte den Sender mit Rockmusik ein und drehte die volle Lautstärke auf. Er setzte sich an den Küchentisch und schob das benutzte Geschirr beiseite. Während der Junge sich eine Zigarette anzündete, betrat die Mutter die Küche. Sie hatte die Katze herein gelassen. Wortlos ging sie um Radio und stellte es leiser. Die Katze war unterdessen zu dem Jungen auf die Bank gesprungen. Schnurrend reib sie ihren Kopf an seinem Arm.
„Na, wo kommst du denn her? Du bist ja ganz kalt und nass.“ Liebevoll strich er über das schwarze Fell.
„Was gibt’s denn zu essen?“ Die Mutter hatte begonnen, den Tisch zu decken: einen Teller, eine Gabel, die Schüssel mit Kartoffelsalat.
„Soll ich dir die Wurst warm machen?“ fragte sie.
„Nein, lass, ich hab‘ Hunger.“ Der Junge begann zu essen. Die Mutter setzte sich zu ihm und schaute ihm schweigend beim Essen zu.
„Weißt du“, begann sie endlich, „ich hab‘ gedacht, ich koch‘ erst heute Abend. Und danach die Bescherung. Nur die Familie, weißt du, genau so, wie es immer war – fast so.“ Sie verstummte.
Der Junge aß schweigend weiter. Das letzte Stückchen Wurst warf er der Katze zu. Er wusste genau, dass die Mutter das nicht mochte. Sie hat es genau gesehen, dachte er und sagt nichts. Sie sagt nie, wenn ihr etwas nicht gefällt. All die Jahre hat sie nie etwas gesagt.
„Soll ich dir noch eine Tasse Kaffee kochen? Zum Wachwerden?“
Die Mutter stand auf, um das Kaffeewasser aufzusetzen.
„Wo ist Eva?“ fragte er.
„Sie hat ihrem Chef versprochen, ihm im Laden zu helfen. Aber zum Abendessen wird sie da sein. Sie will Robert mitbringen. Es wird bestimmt ein gemütlicher Abend werden. Ich hab‘ Wein gekauft, von dem guten, den wir letztes Jahr zu Weihnachten hatten.“
Wieder verstummte sie, stand einfach nur da und wartete, bis das Kaffeewasser kochte. Also meine Schwester wird das Spielchen heute Abend wieder mitspielen, dachte er. Dabei ist doch keiner mehr da, der sie dazu zwingt. Immer, solange er zurückdenken konnte, hatte es Streit um den Heiligen Abend gegeben. Und immer wurde schließlich das getan, was der Alte wollte: Messe, Abendessen, Bescherung. Es blieb nicht bei den zwei Flaschen Wein und dann gab es wieder Streit, weil sie ihm nie alles recht machen konnten. Aber dieses Jahr würde er den Heiligen Abend anders verbringen. Noch nicht einmal Weihnachtsgeschenke hatte er gekauft. Die Mutter brachte ihm eine Tasse schwarzen Kaffee zum Tisch.
„Dein weißes Hemd und die gute Hose hab‘ ich gebügelt. Saubere Wäsche liegt auch schon oben.“
„Ich wird‘ mich nicht umziehen.“ Der Junge stand auf. Mit der Katze auf dem Arm ging er ins Wohnzimmer, streckte sich lang auf dem Sofa aus und stellte das Fernsehen an. Er gab sich Mühe, die Tanne in der Zimmerecke nicht zu bemerken. Die Mutter brachte ihm den Kaffee nach. Unschlüssig blieb sie neben dem Sofa stehen.
„Du willst dich nicht umziehen?“ fragte sie schließlich.
„Nein. Ich bin nicht da heute Abend. Ich geh‘ zu einem Kumpel. Wir machen eine Gegenveranstaltung. Alles Leute, denen Weihnachten aufn Geist geht.“ Lustlos spielte er mit der Fernbedienung. „Nicht mal ordentliche Filme bringen die zu Weihnachten. Lauter rührseligen Mist.“ Er schielte zur Mutter hinüber. Sie war zur Tanne gegangen und hatte begonnen, Lamettafäden über die Äste zu hängen. Sie muss heute Morgen schon früh aufgestanden sein, um die Schachteln mit den Kugeln vom Dachboden zu holen, überlegte er. Die schwarzen Kleider sehen schrecklich aus, die machen sie so dünn. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass die Mutter eine alte Frau war. Alt und krank sah sie aus. Sie ist noch nicht einmal fünfzig, dachte er. Und warum muss sie wegen dem die grässlichen Kleider anziehen! Missmutig wandte er sich ab, wieder dem Fernsehprogramm zu.

Die Katze weckte ihn auf. Der Junge ließ sie hinaus und ging dann zum Bad. Dort sah er die Mutter vor den Spiegel stehen. Sie hatte sich zur Christmette umgezogen. Ihr Gesicht war wie immer: alt, grau, ohne Make up. Sie kämmte sich die Haare. Dann suchte sie in ihrer Handtasche und heilt schließlich ein kleines Fläschchen in der Hand. Sorgsam drehte sie es auf, wollte einige Tropfen des Parfüms auf die Innenseite ihres Handgelenkes geben. Sie wartete lange auf einen einzigen Tropfen, doch das Fläschchen war leer. Der Junge sah das Gesicht der Mutter, als sie das Fläschchen wieder verschloss und zurück in die Handtasche tat. Als sie dann das Bad verließ, saß er schon wieder vor dem Fernsehen. Die Mutter nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken und kam noch einmal ins Wohnzimmer:“ Ich geh‘ dann jetzt. Eva wird bald kommen.“
Sie war gegangen. Zur Mette. Alleine. Sie hatte kein Wort zu seinem Vorhaben am Abend gesagt. Das war das Parfüm vom Alten, dachte der Junge. Jedes Jahr hatte er ihr das gleiche Parfüm geschenkt. Das ganze Jahr über nichts. Nichts zum Geburtstag, nichts zum Muttertag. Aber das Parfüm zu Weihnachten, so ein winziges Fläschchen, total vornehm verpackt. Das Parfüm hatte er nie vergessen. Sie hat’s immer ganz sparsam benutzt. Und es hatte gerade so gereicht, bis zum nächten Weihnachten.
Der Junge sah auf die Uhr. Fünf Uhr. In einer Stunde würden die Geschäfte schließen. In zwei Stunden würde die Mutter zurück sein. Wenn er sich beeilte, würde er es gerade noch schaffen. Schnell zog er seine Jeansjacke über, steckte den Haustürschlüssel ein und machte sich auf den Weg. Vierzig Euro hatte er noch, seinen Beitrag zur Party am Abend. Es machte sich bemerkbar, dass er jeden Abend mit seinen Freunden in der Kneipe saß, und was verdiente man schon als Malerlehrling im zweiten Jahr? Es war kurz vor sechs, als er endlich in der Kosmetikabteilung des Kaufhauses stand. Und es vergingen nochmals einige Minuten, bis er das richtige Parfüm gefunden hatte. Er wollte es gerade aus dem Regal nehmen, als er das Preisschild sah.
„Verdammt“, fluchte er leise. „Hätt‘ nie gedacht, dass der Alte so spendabel war. Dann lassen wir’s eben. War sowieso ne blöde Idee.“ Unschlüssig stand er vor dem Regal. Dann fiel ihm das Gesicht der Mutter ein, wie sie im Bad gestanden hatte. Und dann tat er etwas, was er schon öfter getan hatte, allerdings noch nie in der Kosmetikabteilung: Er öffnete seine Jacke, sah sich kurz um und schob dann schnell und geschickt die Packung unter seinen Pullover. Zwei Minuten später war er draußen und auf dem Weg nach Hause. Er wurde nicht erwischt. Sie hatten ihn hier noch nie erwischt. Wenn er sich beeilte, überlegte er, könnte er duschen und sich umziehen bevor die Mutter kam. Vielleicht würde er dann später, nach der Bescherung noch zu seinen Kumpels gehen, mal sehen.
Vor der Haustür wartete die Katze. Gemeinsam betraten sie das Haus. Die Mutter kam eine viertel Stunde später nach Hause. Sie hörte den Jungen unter der Dusche.
Er pfiff ein Weihnachtslied.

Stromausfall

Sie hatte gerade die Weihnachtsgans noch einmal mit der Beize bestrichen, als das Licht ausging. Auch der Backofen hatte sich ausgeschaltet und die Kontrollleuchte am Herd war dunkel geworden.
‚Sicherung rausgeflogen … ausgerechnet jetzt‘, dachte sie. ‚Wie sollte sie so das Weihnachtsessen pünktlich fertig bekommen? ‘
Im Keller traf sie ihren Mann.
Er hatte den Sicherungskasten geöffnet. Es war schon fast dunkel im Keller. Die Dämmerung hatte begonnen und ein graues Licht drang durch das Kellerfenster. Fast konnte man die Kippschalter der Sicherungen nicht mehr erkennen.
„Hast du wieder alle Lichterketten an eine Stromleiste angeschlossen?“ fragte sie ärgerlich ihren Mann. „ Du weißt doch, dass die altern Leitungen das nicht aushalten.“
Er wollte unbedingt ein altes Haus kaufen und renovieren. Weil alte Häuser so viel mehr Charme und Charakter hatten als ein Neubau. Gleich zu Beginn fand sie diese Idee auch reizend. Sich in einem alten Haus am Stadtrand ein gemütliches Heim schaffen mit Kindern, Hund und Garten. Aber irgendwie wurden sie in diesem Haus nie fertig – oder vielleicht fehlte ihr einfach das Talent, die Räume behaglich und stilvoll zu gestalten. Wenn sie ihre Freundinnen in ihren modernen Stadtwohnungen besuchte und dann zurück kam, fand sie das Haus einfach nur schäbig und alt. Keine Spur von Gemütlichkeit in einem idyllischen alten Haus. Die Räume waren zugestellt mit praktischen Möbeln und kitschigem Ramsch, überall standen und lagen Dinge herum.
„Das sind nun einmal Lebensräume und keine Ausstellungsräume. Dich hat das früher nicht gestört“, hatte ihr Mann einmal erwidert, als sie versuchte, mit ihm über die Unzufriedenheit zu sprechen. Und er hatte Recht, es hatte sie früher nie gestört. Früher hatte sie das als heimelig empfunden. Sie wusste: nicht das Haus hatte sich verändert, sie hatte sich verändert.
„Sind alle drin, das liegt nicht an unseren Leitungen“, unterbrach der Mann ihre Gedanken. „Schau mal raus… dort… die Straßenlampen sind auch aus. Es ist überall der Strom ausgefallen.“
„Stromausfall! Ausgerechnet jetzt, wo ich die Gans im Ofen habe, und das Gemüse und die Kartoffeln sind auch noch nicht fertig!“
„Reg dich nicht auf … die kriegen das bestimmt in wenigen Minuten hin. Unten in der Stadt werden wohl ein paar tausend ihre Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet haben, “ versuchte der Mann die Frau zu beruhigen.
Gemeinsam stiegen sie aus dem Keller nach oben.
„Was is’n los? Ist kein Strom da. Nirgends. Computer geht nicht. Fernseher geht nicht.“ Ihr Sohn hatte sich im Wohnzimmer eingefunden.
„Ich habe gerade mit Melanie telefoniert. Sie hat gesagt, bei ihnen ist auch kein Strom.“ Auch die älteste Tochter war aus ihrem Zimmer gekommen. Sie stand am Fenster und schaute hinaus: „Nirgends Licht! Das muss ja ein gewaltiger Stromausfall sein.“
„Stromausfall ist Stromausfall! Es gibt kein bisschen Stromausfall. Entweder ist er weg oder nicht. Du bist ja auch nicht nur ein bisschen schwanger, blöde Nuss!“
Der Junge stand nun neben seiner Schwester am Fenster.
„Ich bin überhaupt nicht schwanger, du Affe!“ wehrte sich die Schwester.
„Ja, hatte ich ganz vergessen; dazu muss jemand wie du ja erst mal einen abkriegen!“
„Schluss jetzt!“ mischte sich die Mutter ein. Wieso mussten sich die beiden immer streiten.
„Vielleicht sollten wir erst einmal eine Taschenlampe und ein paar Kerzen suchen, bevor es endgültig dunkel geworden ist“, meldete sich der Mann zu Wort.
„Vielleicht könntest du aber auch etwas Sinnvolles tun und irgendwo anrufen und fragen, wie lange das noch dauert, “ erwiderte die Frau. „Die können uns doch nicht ohne Strom sitzen lassen, ausgerechnet an Heilig Abend ! Ich habe die Gans im Backofen!“
„Ich denke, wir warten erst einmal ab. Da ruft doch jetzt jeder an.“ Der Mann hatte eine Taschenlampe gefunden und machte sich auf die Suche nach Kerzen.
Schließlich kam er mit einigen dicken weißen Kerzen zurück. Er zündete sie an und verteilte sie im Wohnzimmer.
Die Frau stellte unter jede Kerze einen Unterteller. Man sah ihr an, was sie von der Initiative ihres Mannes hielt.
„Sieht doch ganz gemütlich aus, richtig weihnachtlich“, meinte er.
„Bist du mit dem Baum eigentlich fertig geworden? Hast du die Krippe aufgestellt?“ fragte die Frau.
„Alles fertig. Ich wollte gerade die Lichterketten ausprobieren.“
„Und was machen wir nun?“ Der Sohn drücke ungeduldig auf der Fernbedienung herum. „Immer noch kein Strom. In 20 Minuten fangen die Simpsons an, das Weihnachtsspecial … aber das können wir ja jetzt vergessen.“
„Melanie meinte, sie hätte gerade Radio gehört und die hätten gesagt, dass der Stromausfall die ganze Gegend betreffen würde. Keiner wüsste, was passiert sei und sie meinten, dass man erst in ein paar Stunden wieder Strom hätte.“ Die Tochter stand noch immer am Fenster, das Handy am Ohr. „Was, wenn da etwas richtig Schlimmes passiert ist?“
„Was wenn da etwas richtig Schlimmes passiert ist?“ äffte der Junge seine Schwester nach. „Was soll denn schon passiert sein?“
„Stromausfälle kommen immer mal wieder vor. So schlimm ist das nicht, “ beruhigte der Mann die Tochter.
Unschlüssig standen alle im Wohnzimmer.
„Ich sollte nach der Kleinen sehen. Sie wird sich in der Dunkelheit fürchten, wenn sie aufwacht“, überlegte die Frau.
Mittlerweile war es draußen ganz dunkel geworden. Eine tiefschwarze Nacht. So dunkel war es hier, so nahe an der Stadt noch nie gewesen.
Es regnete.
‚Also wieder nichts mit weißen Weihnachten. Es wäre so schön gewesen: frisch gefallener Schnee draußen, der Baum mit den bunten Lichtern im Wohnzimmer, die erleuchtete Krippe, das festliche Essen bei stimmungsvoller Weihnachtsmusik und danach die Bescherung, ‘ dachte die Frau. ‚Und jetzt: Stromausfall.‘
„Ich geh nachher auf jeden Fall noch weg. Wie haben uns um 10 in der Stadt verabredet. Alternative Weihnachtsfeier. Muss ich jetzt bei Kerzenlicht duschen? Ist ja richtig romantisch.“ Die Tochter machte sich mit einer Kerze auf den Weg ins Badezimmer.
„Solange es keinen Strom gibt, kannst du nirgends hingehen. Überleg mal: die Straßen sind stockdunkel und dann: Was macht eine Disco ohne Strom? Und das mit dem Duschen geht auch nicht. Die Pume braucht Strom, es gibt jetzt kein heißes Wasser in der Dusche. Und die Heizung funktioniert ohne Strom auch nicht.“ Der Mann ging zur Tochter , nahm ihr die Kerze aus der Hand und stellte sie wieder auf den Tisch. „Es wird bald ziemlich kühl hier werden. Wir sollten auf jeden Fall ein paar warme Pullis und Decken bereit legen.“
„Wir können es auch lassen und gleich ins Bett gehen. Weihnachten können wir wohl vergessen … ohne Strom. Es gibt noch nicht einmal etwas zum Essen.“ Der Junge stand auf. „Ich geh ins Bett.“
„Aber wir können doch trotzdem Weihnachten feiern. Wir können uns Brote schmieren oder Plätzchen essen. Wir können zusammen sitzen, ein bisschen reden und uns mit den Geschenken überraschen.“ schlug der Mann vor.
„Bescherung ? Die könnt ihr harken … ohne Strom. Ich hatte mich echt auf die neuen Spiele gefreut. Aber was soll ich jetzt mit denen? Türmchen bauen?“
„Genau ! Ich kann mein neues Handy nicht einmal aufladen … ohne Strom“ unterstützte jetzt auch die Schwester ihren Bruder. „ Und mit was wollen wir uns denn überraschen? Jeder weiß doch sowieso, was er bekommt. Und mein neues Handy, die Playstation Spiele, die Digitalkamera, der elektronische Bilderrahmen … das sind echt alles tolle Geschenke … aber ohne Strom … und einfach nur zusammen sitzen und reden? Auf Befehl ? Das geht doch nicht. Ist doch albern!“
Unschlüssig standen die vier im Wohnzimmer.
‚Wenn wenigstens von irgendwoher ein bisschen Weihnachtsmusik zu hören wäre oder man den Fernseher einschalten könnte. Diese Stille ist nicht zu ertragen ‘ dachte die Frau.

„Kommt das Christkind jetzt bald? Ist es deshalb so dunkel?“, verschlafen stand die Kleine an der Wohnzimmertür. Sie war vom Mittagsschlaf aufgewacht und durch die Dunkelheit dem Lichtschein ins Wohnzimmer gefolgt.
„Das habt ihr aber schön gemacht!“ entzückt schaute die Kleine auf die Kerzen. „Und der Weihnachtsbaum sieht ganz geheimnisvoll aus, so dunkel und mit den Kerzenflammen in den Spiegelkugeln.“
Die Kleine lief zum Weihnachtsbaum.
„Ist jetzt Bescherung? War das Christkind schon da?“ „Oh! Guckt mal, da im Dunkeln, neben dem Baum, ich glaube, da liegen Geschenke! Ist da auch eines für mich dabei?“ Voller Vorfreude und ein bisschen ängstlich, weil es doch ziemlich dunkel in der Ecke war, ging die Kleine zu den Geschenken.
„Ja, das Christkind ist schon da gewesen.“ Die Mutter ging zu der Kleinen. Zum Glück hatte sie doch noch den weißen Plüschhund besorgt, in den sich die Kleine in der Spielzeugabteilung verliebt hatte. Eigentlich lagen mehr als genug Stofftiere im Kinderzimmer herum. Sie hatten beschlossen, einen Kinder-CD-Player und viele CDs für die Kleine zu kaufen. Aber ein Geschenk einfach nur zum Kuscheln, wollte die Mutter dem Kind dann doch noch schenken. Andächtig und mit strahlenden Augen nahm die Kleine ihr Geschenk in Empfang. Sie ging zum Tisch, kletterte auf den Stuhl und begann, das Päckchen im Kerzenlicht auszupacken.
Dann hielt sie inne. „Kriegt ihr keine Geschenke?“, fragte sie die Mutter.
„Ja, weißt du“, der Vater setzte sich zu der Kleinen an den Tisch. „Das Christkind hat irgendwie nicht gewusst, dass heute Stromausfall ist. Jetzt haben wir keinen Strom und unsere Geschenke brauchen alle Strom, um zu funktionieren. Das ist eigentlich ziemlich schade…“
Die Kleine zögerte. Man sah ihr an, dass sie überlegte, ob sie das jetzt wirklich den Erwachsenen anvertrauen sollte. Schließlich hatte sie eine Entscheidung getroffen. Entschlossen sagte sie: „ Aber das Christkind kann da doch nichts dafür. Ich weiß schon lange, wer die ganzen Geschenke kauft und verpackt. Ich habe das Geschenkpapier auf dem Küchentisch liegen sehen und die ganzen Pakete im Schlafzimmer. Das wart ihr. Das Christkind hat nichts verkehrt gemacht!“
Wütend schlug die Kleine mit der Hand auf den Tisch. Dann hielt sie inne. „Aber schade ist es trotzdem, das mit euren Geschenken “, meinte sie traurig. Und dann fiel ihr etwas ein. Sie flüsterte dem Vater ins Ohr und gemeinsam verschwanden die beiden mit der Taschenlampe Richtung Kinderzimmer.
Wenig später kamen sie zurück. Stolz überreichte die Kleine jedem ein Blatt Papier. Es war zusammen gerollt und ungeschickt mit einer roten Schleife umwickelt.
„Da. Ich habe für jeden ein Bild gemalt. Jedem habe ich drauf gemalt, was ich Schönes mit ihm gemacht habe. Wie mein Bruder Fußball mit mir gespielt hat und immer so getan hat, als könnte er nix und wie meine Schwester mich mal ganz vornehm mit ihrem teuren Schminkzeug geschminkt hat. Das war auch lustig! Packt doch mal aus, ich kann euch die Bilder dann erklären, ganz ohne Strom.“
Verlegen standen die vier im Wohnzimmer, jeder mit seinem Geschenk in der Hand.
„Jetzt macht schon!“ Die Kleine wurde ungeduldig. „oder … nein, zuerst stellen wir dem Christkind in der Krippe auch noch eine Kerze hin und singen ihm ein Geburtstagslied.“
„Also ich sing nix!“ protestierte die große Schwester.
„Ist mir viel zu blöd!“ stimmte ihr der Bruder ausnahmsweise zu.
„Ich kann mich eigentlich an gar kein Lied erinnern“, meinte die Mutter und der Vater sagte, er habe noch nie gesungen und könne auch eigentlich gar nicht singen.
„Macht nichts, dann singe ich eben alleine.“
Die Kleine nahm die Kerze vom Tisch und trug sie vorsichtig zur Krippe. Dann hielt sie den neuen Plüschhund liebevoll im Arm, stellte sich vor die Krippe und stimmte mit ihrem dünnen Stimmchen das Weihnachtslied an, das sie im Kindergarten gelernt hatte.
Die Mutter wurde traurig, als sie ihre kleine Tochter so alleine vor der Krippe stehen sah. Und gleichzeitig bewunderte sie den unbedingten Willen des Kindes, ein schönes Weihnachtsfest zu feiern.
Gerne hätte sie mit ihr gesungen, sie bei ihrem tapferen Kampf unterstützt, aber sie konnte es einfach nicht. Sie sah zum Vater hinüber, der damit beschäftigt war, die Kerzen auf dem Tisch neu zu ordnen. Sie blickte zu den beiden Großen, die ratlos auf die Bilder in ihren Händen blickten.
Ihnen allen kam dieses Weihnachtslied unendlich lange vor.
Aber als die Kleine verstummte, war die Stille unerträglich.
„Schön hast du gesungen“, meinte die Mutter schließlich. „Sollen wir jetzt Weihnachtsplätzchen essen?“
„Ja“, flüsterte die Kleine und schaute traurig zur Krippe.
„Kann das Christkind nicht machen, dass der Stromausfall aufhört und alles wieder so ist wie immer?“, fragte sie leise.
Doch dann schaute sie zum Fenster und wurde ganz aufgeregt.
„Es schneit“, rief sie. „Morgen können wir Schlitten fahren und einen Schneemann bauen!“
Tatsächlich. Der Regen hatte aufgehört.
Dicke weiße Flocken fielen am Fenster vorbei auf die Tannen im Garten.
„Guckt mal! Die Straßenlampen! “ Der Junge stand neben der Kleinen am Fenster als das Licht im Wohnzimmer anging. „Dann kann ich ja doch noch Simpsons gucken!“
„Ich geh duschen!“ Die Tochter machte sich auf den Weg zum Badezimmer.
„Und ich schau nach der Gans.“ Die Frau verschwand in der Küche.
„Sollen wir zwei jetzt ausprobieren, ob die Lichterkette am Weihnachtsbaum funktioniert?“ Der Vater hatte die Kleine auf den Arm genommen.
„Au ja!“ rief sie glücklich. „Aber die Kerze beim Christkind, die lassen wir da stehen. Die macht nämlich nicht nur hell, die macht auch warm .“

Die Insel

Plötzlich wachte sie auf. Sie hörte ihn in der Küche. Er war wieder betrunken. Vor vier Wochen war er mit dem Postschiff zur Insel gekommen. Hatte mit einem Koffer vor ihrer Tür gestanden. „Guten Tag, Mutter.“
Sie seufzte. Langsam stand sie auf. Im fahlen Licht der Dämmerung zog sie den alten Morgenmantel über und fischte mühsam mit den Füßen nach den Pantoffeln. Dann ging sie nach unten zur Küche. Es war kalt. Sie begann, ein Feuer im alten Ofen anzuzünden. Er saß am Küchentisch. Die Suche nach einer neuen Flasche Schnaps hatte ihn aus seinem Zimmer getrieben. Seit vier Wochen hatte er das Haus nicht verlassen. „Es ist kalt hier“, sagte sie. „In ein paar Tagen wird es zu schneien beginnen.“ Er antwortete nicht. „Möchtest du einen Kaffee? Soll ich dir Frühstück machen?“ Der Junge stand schwankend auf, gebückt wie ein alter Mann schlurfte er zum Fenster. Schwer stütze er sich auf das Fensterbrett und sah hinaus. Müde, gleichgültig wandte er den Blick dem Himmel zu:„ Wird wohl so sein. Wird bald schneien.“ Die Mutter trat neben ihn:“Wenn die Winterstürme kommen, fährt das Postboot die Insel nicht mehr an.“ „Ja, ich weiß,“ mürrisch wandte sich der Junge von der Mutter ab, setzte sich wieder an den Tisch und griff nach der Schnapsflasche. Die Mutter ging zu der alten Anrichte. Sie nahm zwei Scheiben Brot, bestrich sie mit Butter und belegte sie mit Salami. Dann trug sie den Teller zum Tisch. „Du musst etwas essen. Das“, sie zeigte auf die Flasche, „macht dich krank.“ „Das“, der Junge nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, „ist genau die Medizin, die ich im Moment brauche. Hilft vergessen. Der Alte hatte recht: Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt.“ Der Junge kramte in der Tasche seiner Jogginghose nach den Zigaretten. Mit zitternden Händen zündete es sich eine an. Gierig inhalierte er den Rauch und begann gleich darauf zu husten. Ein harter, schmerzhafter Husten. Die Mutter setzte sich neben ihn. Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt. Das Mantra ihres Mannes. Und er hatte dafür gesorgt, dass ihm der Vorrat nie ausging. Ein Vorrat, der ihn überlebte. „Wenn die Winterstürme kommen, fährt das Postboot die Insel nicht mehr an“, begann sie wieder. Sie legte ihre Hand auf den Arm des Jungen. „Es wird Zeit, dass du gehst. Du musst zurück. Du kannst dich hier nicht ewig verkriechen. Das ist nicht gesund.“ Der Junge zog den Arm zurück: „Was weißt denn du, was gesund für mich ist! Du weißt doch gar nicht, was da draußen vorgeht! Ihr habt doch immer nur hier in eurem behüteten Paradies gelebt!“ Wütend wandte er sich von der Mutter ab. „Die Menschen da draußen sind schlimmer als Raubtiere. Sie lauern nur darauf, dass ich etwas falsch mache. Und dann stellen sie mich bloß, erbarmungslos. Sie geben sich als meine Freunde aus, nur um mich auszunutzen, eiskalt. Ich verstehe nicht, was sie antreibt. Ich habe es versucht. Aber ich kann mit Menschen nicht leben. Warum sollte ich dort draußen sein wollen? Dort ist kein Platz für mich! Sollen die Winterstürme kommen! Gut ist das! Ich brauche das Postboot ganz bestimmt nicht!“ Die Tür schlug laut zu. Beim Aufstehen hatte der Junge den Stuhl umgestoßen. Die Mutter hob ihn auf. Sie hörte ihn, wie er sich im Zimmer über ihr schwer auf das Bett fallen ließ. Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt. Da wusste sie, er würde die Insel nicht freiwillig verlassen. Diese Angst. Sie war ihr vertraut. Die Angst vor dem Leben. Vor dem Miteinander. Die Flucht ins vermeintliche Paradies. Langsam ging sie nach oben.
Zwei Stunden später öffnete sie die Tür zu seinem Zimmer. Sie ließ den Koffer in der offenen Tür stehen. Der Junge war eingeschlafen. Leise betrat sie das Zimmer. Der Gestank nach Schweiß, Alkohol und Zigaretten nahm ihr fast den Atem. Du hättest sein Zimmer lüften müssen, ging es ihr durch den Kopf. Behutsam setzte sie sich auf den Bettrand. Sie strich ihm sanft über den Kopf und rüttelte ihn zart an der Schulter. „Was?“, der Junge wurde wach. Erstaunt sah er die Mutter an. Sie war in den letzten Wochen nie in seinem Zimmer gewesen. Er setzte sich auf. Dann sah er den Koffer. „Vergiss es!“ der Junge schüttelte den Kopf. „Du kannst mich nicht einfach rauswerfen! Du bist meine Mutter! Du musst mir helfen!“ Die Mutter nickte. „Ich weiß. Deshalb werde ich gehen. In zehn Minuten kommt das Postboot. Ich habe mit meiner Schwester telefoniert. Ich kann bei ihr wohnen. Ich wollte mich nur noch von dir verabschieden.“

Lisa

„Das ist das Martinshorn des Krankenwagens.“ Das Heulen der Polizeisirene hatte Karin wenige Minuten zuvor gehört. „Seltsam“, dachte sie, „ früher sind mir diese Geräusche nie aufgefallen.“ Sie nahm eine weitere Kartoffel, viertelte sie sorgfältig und legte sie zu den anderen in den Topf. Erst seit Lisa den Führerschein hatte und mit ihrem eigenen kleinen Auto unterwegs war, ist ihr bewusst geworden, wie allgegenwärtig die Polizeisirenen waren. Sie wusste, sie waren schon immer da gewesen. Sie wohnten in der Nähe eines Krankenhauses und nur wenige Kilometer vom Autobahnkreuz entfernt. Aber früher waren die Sirenen mit den anderen Hintergrundgeräuschen ihres Alltags verschmolzen.
Lisa hatte sich so gefreut, als sie ihr den roten Fiesta zum 18. Geburtstag schenkten. Ihr Mann hatte ihn gebraucht gekauft und ihn heimlich in der Garage seines Bruders instandgesetzt. Ungezählte Stunden verbrachten die beiden mit der Arbeit an dem Wagen. „Muss der wirklich so aufwendig neu lackiert werden?“ hatte Karin gefragt. „Ihr hängt schon seit Wochen jede freie Minute an den Wagen. Wichtig ist doch die Sicherheit, nicht das Aussehen.“ „Das erste eigene Auto, daran erinnert man sich ein Leben lang. Davon wird sie ihren Kindern noch erzählen. Das soll schon etwas hermachen, “ erwiderte Karl, als er wieder einmal am Samstagnachmittag zu seinem Bruder fuhr. Karin lächelte, als sie sich an den Eifer ihres Mannes erinnerte. Dies war seine Art, Lisa zu zeigen, wie stolz er auf sie war. Sie hatte dann eben wieder einmal das Rasenmähen übernommen. So hatten sie es immer gemacht: einer stand für den anderen ein. So hielten sie ihre kleine Familie zusammen. Die Kartoffeln waren fertig geschnitten. Sie goss Wasser darauf und stellte den Kochtopf auf die Herdplatte. Lisa war an ihren Geburtstag sofort mit ihrem roten Flitzer davon gebraust. Eigentlich hatten sie ja gehofft, dass sie diese erste Spitztour gemeinsam mit ihrer Tochter unternehmen würden. Ein bisschen enttäuscht war Karin damals schon. „Lass sie doch“, hatte Karl gemeint und ihr tröstend den Arm um die Schulter gelegt. So standen sie dann vor ihrem Haus und schauten dem kleinen roten Fiesta nach. An diesem Tag hatte Karin zum ersten Mal bewusst auf die Polizeisirenen gelauscht. Sie hatte Karl davon erzählt und von ihrer Angst. „Das machen alle Eltern durch“, beruhigte er sie. „Lisa ist vernünftig und besonnen. Du hast sie ein Jahr lang beim Fahren begleitet. Du weißt, dass sie sicher fährt, “ hatte er noch hinzugefügt. Karin begann, den Blumenkohl zu putzen. Sie löste die Röschen behutsam voneinander und spülte sie sorgfältig unter dem fließenden Wasser ab. „Eigentlich müsste sie schon da sein“, dachte sie. „Der Unterricht war schon seit fast einer Stunde beendet.“ Voller Stolz fuhr Lisa jeden Morgen mit ihrem roten Flitzer die sieben Kilometer zum Gymnasium. In ein paar Tagen würde das Abitur beginnen. Das Kleid für die Abiturfeier hatten sie gemeinsam gekauft. Lisa sah wunderschön darin aus und erwachsen. „Eine richtige junge Dame“, hatte Karl bewundernd gesagt. Karin stellte den Topf mit dem Blumenkohl auf eine Herdplatte. Sie freute sich auf das gemeinsame Mittagessen. Geschickt panierte sie die Schnitzel und legte sie in die Pfanne mit dem heißen Fett. Jetzt wurde es wirklich Zeit. Lisa kam eigentlich nie zu spät. Aber vielleicht besprach sie noch ihr Thema für das mündliche Abitur. Wenn nur die Sirenen nicht gewesen wären. Karin sah zu dem Handy, das auf dem Küchentisch lag. Ob sie doch anrufen sollte? Aber bestimmt war Lisa schon unterwegs. Das Klingeln des Handys würde sie dann nur unnötig ablenken. Sie seufzte. Lisa hätte ruhig anrufen können, sagen, dass es später werden würde. Karin wünschte sich etwas mehr von der heiteren Gelassenheit ihres Mannes. „ Keine Nachricht, gute Nachricht“, pflegte er zu sagen. „Die Jugend meldet sich bei den Alten nur, wenn es klemmt. Das war schon immer so. Wir waren nicht anders.“ Wenn nur die Polizeisirenen nicht gewesen wären und das Martinshorn des Krankenwagens. „Keine Nachricht, gute Nachricht.“ Karin merkte gar nicht, dass sie diese Worte wie ein Mantra immer wieder flüsterte. Dann ertönte der Westminsterklang der Türklingel. „Endlich“, dachte sie erleichtert. „Lisa hat wohl wieder ihren Haustürschlüssel vergessen.“ Die Frau eilte zur Tür. Sie öffnete und schaute in die ernsten Gesichter der beiden Polizisten. „Guten Tag Frau Thon“, begann einer der beiden. „Sind sie die Mutter von Lisa Thon? Können wir vielleicht hereinkommen?“ „Ja, sicher, kommen sie“, flüsterte Karin. Mit hölzernen Schritten ging sie den Polizisten voran ins Wohnzimmer. „Ich … mir ist kalt …. „ begann sie. „Setzen sie sich doch … ich mache Kaffee … nein … keinen Kaffee …. Ich muss ….“ Karin hastete in die Küche. Sie hatte das Gefühl, als würde sie jemand unter Wasser drücken. Als könne sie nicht mehr atmen. Die Stimme des Polizisten klang als wäre da Watte, durch die er sprach. „Was hatte er gemeint?“ Egal. Zuerst musste sie die Kartoffeln abgießen. Lisa hasste verkochte Kartoffeln. Dann würde sie die Schnitzel in Alufolie einschlagen, um sie warm zu halten. Karin wandte sich dem Polizisten zu: „Wir werden heute später essen, nicht wahr?“ flüsterte sie. Es war keine Frage, es war ein Flehen, das sie an den Polizisten richtete, der ihr sanft die Alufolie aus der Hand nahm. “Sie haben sie auch gehört, die Sirenen, nicht wahr? Aber Lisa müsste bald da sein. Sie hat nicht angerufen. Aber keine Nachricht, gute Nachricht. So ist es doch. Wenn nur die Sirenen nicht gewesen wären.“

Lemminge

Natürlich hätte sie die Kinder auch in den Zug nach Zürich setzen können. Die beiden waren alt genug. Ihre Freundin Nicole hatte recht. Von München nach Zürich gab es eine Direktverbindung und Thorsten hätte sie am Bahnhof abholen können.
Andrea atmete tief durch und versuchte ihre Schultern zu entspannen. Die dreieinhalbstündige Autofahrt von München nach Zürich könnte sie sich wirklich ersparen. Vielleicht würde sie es beim nächsten Mal so machen. Zu den Osterferien.

„Mama, das da rechts war der Bodensee! Stimmt’s? André will mir nicht glauben, dass wir jetzt schon durch drei Länder gefahren sind.“
Sophias Stimme durchbrach Andreas Gedanken.
„Ich habe das in der Schule gelernt. Und was man in der Schule lernt, ist immer richtig, “ wandte sich Sophia mit schulmeisterlichem Ton ihrem jüngeren Bruder zu.
„Du bist doch jetzt auch in der Schule. Da musst du solche Sachen doch auch lernen…“
„Und hat dir die doofe Schule auch beigebracht, wie lange wir noch fahren müssen, bis wir bei Papa sind?“, maulte André zurück.
„Das weiß ich nämlich. Ich kann nämlich aufs Navi gucken und da unten steht die Zeit, wie lange wir noch fahren müssen. Eine Stunde und 15 Minuten. Stimmt’s Mami?“
Manchmal hatte es André nicht leicht mit seiner großen Schwester. Die Neunjährige fühlte sich ihrem kleinen Bruder haushoch überlegen und liebte es, ihn herum zu kommandieren.
„Stimmt doch gar nicht, “ entgegnete Sophia ihrem Bruder, „weil das Navi nämlich die Pausen nicht mitrechnet. Und beim Autofahren ist es ganz wichtig, dass man regelmäßig Pausen macht, weil man sonst einen Unfall baut. Ich habe Recht. Stimmt’s Mami? Und du hast überhaupt keine Ahnung. Du wirst dich ganz schön anstrengen müssen, wenn du in deiner Schule nicht der Schlechteste sein willst. Du dummes Kleinkind.“
Das konnte André nicht auf sich sitzen lassen. Sophia fing sich einen heftigen

Ellbogencheck ein.
„Mami!“ brüllte sie los.
„Könnt ihr nicht noch ein paar Minuten Ruhe geben!“ Andrea wandte sich genervt ihren Kindern auf dem Rücksitz zu.
„Nur noch eine Viertelstunde, dann werden wir eine Pause machen. Und bitte, hört auf, da hinten herum zu turnen, ich muss mich auf den Straßenverkehr konzentrieren.“

Überrascht hatte Andrea festgestellt, dass sie anscheinend bereits seit einiger Zeit dem Geplänkel der beiden auf dem Rücksitz mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte als dem Verkehr. Gut. Sie kannte die Strecke. Sie war sie in den letzten drei Jahren oft genug gefahren. Zusätzlich hatte sie das Navi. Trotzdem war sie erschrocken, dass sie sich so hatte ablenken lassen. Irgendwo musste sie von der A1 abgefahren und auf eine andere Autobahn geraten sein. Seltsam. Sie erinnerte sich, dass sie von wenigen Kilometern noch ein Hinweisschild gesehen hätte. „A1 Zürich 90 km“ hatte da gestanden. Auch das Navi zeigte an, dass sie auf der A1 Richtung Zürich fuhren. Aber seit wann gab es auf diesem Teil der Strecke einen Autobahntunnel? Andrea wüsste ganz bestimmt, wenn hier ein Tunnel wäre. Sie hatte den Rosenbergtunnel bei St. Gallen umfahren und jetzt würde es bis Zürich keine Tunnel mehr geben. Sie fuhr diese Strecke oft genug. Andrea hasste Autobahntunnel. Nicole hatte sie ausgelacht, als sie ihr gestand, dass sie jedes Mal einen Umweg von mehreren Kilometern und den unausweichlichen Stau in Bregenz in Kauf nahm, nur um den Pfändertunnel zu umfahren.
„Dieser Tunnel wurde extra gebaut, um Bregenz zu umfahren. Und er ist nur etwas mehr als sechs Kilometer lang. Du traust dich doch sonst alles!“ Andrea hatte auf die rätselhaften Unfallserien, die sich regelmäßig im Pfändertunnel ereigneten, hingewiesen und gemeint, sie hätte kein gutes Gefühl bei diesem Tunnel.
„Eigentlich habe ich bei keinem Straßentunnel ein gutes Gefühl“, gestand sie damals ihrer Freundin.
„Niemand hat ein gutes Gefühl in einem Autobahntunnel. Aber die meisten Leute fahren trotzdem durch. Du solltest aufpassen, dass du nicht übertreibst mit deiner Angst.“ Dass sie den Rosenbergtunnel auch umfuhr, obwohl der nur 1,5 km lang war und dass sie auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit sogar längere Unterführungen mied, erzählte Andrea ihrer Freundin lieber nicht. Andrea wusste, dass Nicole recht hatte.
Seit einiger Zeit hatte Andrea begonnen, regelmäßig das Internet nach Meldungen über Verkehrsunfälle in Autobahntunnel zu durchsuchen und was sie da fand, trug nicht dazu bei, ihr Vertrauen in die Sicherheit der Tunnel zu stärken!

Und jetzt das! Das blaue Hinweisschild, das einen Tunnel ankündigte! Und die Aufforderung, das Licht einzuschalten!
Aber keine Information wie lang der Tunnel war.
Andrea wusste, dass vor jedem längeren Tunnel Parkmöglichkeiten waren, doch hier sah sie keinen Hinweis auf einen Parkplatz. Sie musste daran vorbei gefahren sein. Sie musste sie übersehen haben, als sie ihre Aufmerksamkeit durch die Kinder abgelenkt war.
Aber hier durfte überhaupt kein Tunnel sein! In den Sommerferien war hier noch kein Tunnel. So etwas baute man doch nicht in 3 Monaten! Sie musste sich verfahren haben. Andrea warf einen kurzen Blick auf die Straßenkarte des Navi. A1 Richtung Zürich. Laut Navi war sie auf der richtigen Autobahn.
Aber da war das blaue Hinweisschild gewesen. Und da vorne kam die Ankündigung, dass die Autobahn einspurig werden würde. Bald würde das schwarze Halbrund des Tunneleingangs auftauchen. Andrea spürte wie sich ihr Herzschlag beschleunigte und ihre Hände feucht wurden. Bald würde sie Mühe haben, mit diesen feuchten Händen das Lenkrad zu halten. Und keine Möglichkeit anzuhalten!
Der Verkehr hatte sich auf die rechte Spur eingefädelt. Die Geschwindigkeit war auf 100 km/h beschränkt. Unaufhaltsam rollte die Autolawine auf den Tunneleingang zu.
„Viel zu schnell!“ dachte Andrea.
„Ich kann unmöglich so schnell durch einen Tunnel fahren!“
Andrea bremste scharf ab. Sie beobachtete, wie der vorausfahrende Volvo sich rasch von ihr entfernte. Dann blickte sie in den Rückspiegel und sah den Sattelschlepper rasend schnell näher kommen. Der Fahrer fuhr viel zu dicht auf und hupte ununterbrochen.
„Mami!“,schrien André und Sophia gleichzeitig.
„Fahr weg! Mami! Schnell!“. Sophia hatte sich umgedreht und den riesigen Kühlergrill

des LKWs gesehen, der das gesamte Heckfenster einnahm.
Andrea gab Gas. Was sollte sie auch sonst machen? Und dann hatte sie das Halbrund des Tunneleingangs verschluckt.
Der Tunnel war einspurig. Kein Gegenverkehr. Der wurde durch eine zweite Röhre geleitet.
„Sieht sicher aus und modern“, versuchte sich Andrea sich Mut zu machen. Wenn nur nicht so viel Verkehr wäre. Der Tunnel war fast taghell beleuchtet. Das Licht warf einen matten Glanz auf die glatten Wände der Röhre, die metallisch schimmerten. Andrea konnte das Ende des Tunnels nicht sehen. Sie bemerkte, dass der Tunnel einer leichten Rechtkurve folgte.
Es war still geworden im Wagen. Das Radio hatte Andrea ausgeschaltet, schon beim ersten Hinweisschild. Sie wollte nicht vom Verkehr abgelenkt werden und im Tunnel würde es ohnehin keinen Empfang geben.
Auch die Kinder verspürten die Anspannung der Mutter und verhielten sich ganz ruhig.
„Wir sind überhaupt nicht mehr da, keiner von uns, der Tunnel hat uns verschluckt“, durchfuhr es Andrea und gleichzeitig ermahnte sie sich, sich zusammenzureißen.
Und dann drangen die Geräusche von außen wieder in ihr Bewusstsein. Das tiefe Dröhnen der Motoren, von den Tunnelwänden zurückgeworfen, das surrende Geräusch der Reifen auf dem glatten Asphalt und das metallische, bedrohliche Poltern des Sattelschleppers hinter ihnen, der immer noch zu dicht auffuhr.
„Vielleicht gibt das Navi einen Hinweis auf die Länge des Tunnels“, überlegte Andrea. Sie erschrak, als sie den Hinweis „Off Road“ auf dem beleuchteten Bildschirm las.
„Hier wird es wohl keinen Empfang geben“, versuchte sie sich zu beruhigen.
Wenn nur nicht so viel Verkehr wäre!
Mein Gott, wieso wird in einem Tunnel die Geschwindigkeit nicht auf 50 km/h beschränkt? Hundert sind viel zu schnell! So eng wie das hier ist! Wenn jetzt nur keiner einen Fehler macht!
Andrea sah auf den Tacho ihres Wagens. Die Nadel zeigte auf 110 km/h. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, als würden die riesigen Frischluftturbinen die Autos immer schneller und tiefer in den Tunnel hineinziehen.
„Wie der Todesmarsch der Lemminge. Moderne Lemminge in Blechkisten“, ging es ihr durch den Kopf.
„Jetzt reiß dich zusammen!“ Andrea atmete tief durch. „Es ist ganz normal, dass die Autos schneller werden, wenn es bergab geht.“ Sie hatte bemerkt, dass der Tunnel leicht bergab führte.

120 km/h !

Andrea bremste den Wagen, aber der Sattelschlepper hinter ihr kam sofort wieder bedrohlich nahe. Sie zuckte zusammen und hätte fast das Lenkrad verrissen, als das grelle Signalhorn ertönte.
„Mama“, weinte André, „kannst du nicht machen, dass der große LKW vorbei fährt?“
„Dauert der noch lange? Der Tunnel.“, schluchzte jetzt auch Sophia. „Warum sind wir denn in einen Tunnel gefahren? Wir sind noch nie auf dem Weg zu Papa in einen Tunnel gefahren.“
Andrea konnte die Panik in der Stimme ihrer Tochter hören.
„Du musst keine Angst haben. Schau: von uns und hinter uns sind ganz viele Menschen, die alle durch diesen Tunnel fahren. Sie haben alle keine Angst und sie kommen alle ganz sicher wieder aus dem Tunnel heraus. Wir fahren jetzt einfach mit denen mit.“
„Aber warum fahren sie alle so schnell?“, jammerte André.
„Das frage ich mich auch“, ging es Andrea durch den Kopf.
„Vielleicht, weil sie alle auch ganz schnell wieder aus dem Tunnel hinaus in die Sonne wollen“, versuchte sie ihre Kinder zu beruhigen. „Und wenn ihr jetzt noch ein bisschen ruhig bleibt, sind wir auch ganz schnell wieder aus dem Tunnel draußen und werden in der Sonne ein Eis essen. Versprochen.“
„Und wenn das weiter so bergab geht und die Röhre weiter nach rechts dreht, rast du in einer Spirale geradewegs in die Hölle“, flüsterte eine kleine, gemeine Stimme in Andreas Kopf.

130km/h !

Lange würde sie den Wagen nicht mehr in der Spur halten können! Nur eine kleine Unachtsamkeit, ein kleines bisschen zu viel einlenken und sie würde den Wagen mit 130 Stundenkilometer an der Tunnelwand entlang schrammen. Andrea spürte, wie sich ihre schweißnassen Hände um das Lenkrad krallten.
Wie lange fuhren sie eigentlich schon? Das waren doch schon mehr als fünfzehn Minuten! Und das bei dieser Geschwindigkeit! So lange Tunnel gab es in dieser Gegend überhaupt nicht.
Wieso konnte dieser verdammte Sattelschlepper das Tempo mithalten?
Wenigsten schien die ewige Rechtkurve endlich aufzuhören. Andrea konnte nun an dem grauen Volvo vorbei weit nach vorne schauen. Die Reihe der Wagen vor ihr schien kein Ende zu nehmen. Und im Rückspiegel versperrte der riesige Truck komplett die Sicht.
Dann sah sie die Warnschilder.
Bauarbeiten! Verengte Fahrbahn!
„Spinnen die?“ fluchte Andrea panisch. „Was sollen die da noch verengen!“
Aber offensichtlich nahm die Schilder ohnehin keiner ernst. Der Tross der Wagen raste unbeeindruckt weiter, bergab, tiefer und tiefer.
Plötzlich bemerkte Andrea, dass sich die Beleuchtung des Tunnels verändert hatte. Statt der durchgehenden Röhren gab es nur noch alle paar Meter eine Lampe in der Mitte der Tunneldecke. Ihr Licht war eigenartig gelb. Auch die Wände des Tunnels hatten sich verändert. Die glatten, metallisch glänzenden Röhren waren grob behauenem Fels gewichen, gerade so als hätte man eben erst diesen Tunnel in den Berg gesprengt. Das Gestein schluckte das Licht der Wagen anstatt es zu reflektieren.
Hier gab es kein Frischluftgebläse und keine Notausgänge mehr. Die Tunnelwände schienen so nah und die Tunneldecke so niedrig, dass Andrea sich wunderte, wie der Sattelschlepper hinter ihr da überhaupt noch durchfahren konnte.
„Das bildest du dir bestimmt alles nur ein. Das ist der Beginn einer Phobie. Ausgerechnet jetzt solltest du besser nicht durchdrehen.“ Andrea versuchte sich selbst zur Ordnung zu rufen, als sie Sophias zitternde Stimme von hinten hörte:
„Mama, wo fahren wir denn hin? Das ist doch gar kein richtiger Tunnel mehr. Wieso ist da so wenig Licht? Musst du so schnell fahren? Kannst du nicht anhalten? Mama!“
Also war es keine Einbildung! Sie fuhr mit 130 km/h durch einen Tunnel bergab, dessen Wände aus behauenem Fels nur noch wenige Meter links und rechts vom Wagen entfernt waren. Sie fuhr in diesem Höllentempo in einem Konvoi von Hunderten anderer Fahrzeuge. Ein Anhalten war unmöglich, der Sattelschlepper hinter ihnen würde sie unweigerlich überrollen.
Vielleicht könnte sie den Wagen auf dem Notstreifen, der immer noch rechts der Fahrbahn an der Tunnelwand entlang führte, anhalten; falls es ihr gelingen würde, bei diesem Tempo aus dem Konvoi auszuscheren und den Wagen unter Kontrolle zu behalten. Blitzschnell überdachte Andrea diese Alternative und verwarf sie wieder. Der Notstreifen war so schmal, dass sie den Wagen ganz eng an die Tunnelwand fahren müsste, um den Verkehr nicht zu behindern. Und was sollte sie dort tun? Aussteigen war ausgeschlossen. Auf der einen Seite war die Tunnelwand und auf der Fahrerseite brauste der Verkehr unerbittlich vorbei. Die Wagentür würde weggerissen werden, noch ehe sie sie ganz geöffnet hätte. Und Notausgänge gab es ohnehin keine.
Und plötzlich sah sie sie: Die Wagen, die auf dem Notstreifen hielten.
Warum waren sie ihr vorher nicht aufgefallen?
Einige davon sahen aus, als würden sie schon ewig da stehen. Autowracks mit zerbrochenen Fenstern und abgerissenen Türen. Bei manchen stand der Kofferraumdeckel auf, so als hätten die Insassen versucht, den Wagen durch den Kofferraum zu verlassen. Und dann sahen auch André und Sophia die Wagen. Und zum ersten Mal war Andrea dankbar dafür, dass sie mit 130km/h durch diesen Tunnel schossen. So schnell, dass die Kinder nur einen flüchtigen Blick auf die Wagen werfen konnten.
Trotzdem.
„Mama“, Andrea spürte, wie Sophia sich von hinten an ihrer Schulter festkrallte „die kaputten Wagen … hast du gesehen? Da sind Menschen drin, ich glaube, die …“
Andrea warf Sophia einen kurzen warnenden Blick im Rückspiegel zu. Aber es war zu spät. Auch André war auf die Wagen aufmerksam geworden.
„Tote Menschen. Da sind tote Menschen drin.“, ergänzte er fast ehrfurchtsvoll die Worte seiner Schwester.
„Müssen wir deshalb so schnell fahren? Dürfen wir deshalb nicht anhalten? Weil wir sterben, wenn wir anhalten?“ flüsterte er erschrocken.
„Vielleicht machen sie auch nur ein Pause und schlafen“, versuchte Andrea ihre Kinder zu beruhigen und merke, dass ihre Stimme bebte.
„Der Tunnel soll jetzt aufhören. Tunnel sind nicht so lang. Bitte Mami, “ flüsterte Sophia.
Dieser Tunnel würde niemals aufhören. Andrea wusste es, sie konnte zwischen zwei Alternativen wählen. Entweder sie würde jetzt auf dem Notstreifen anhalten oder sie würde weiter mit 130 km/h durch diesen verdammten engen Tunnel bergab rasen bis der Tank leer war … und dann auf dem Notstreifen anhalten.
„Wieso vermisst diese Leute keiner? Wieso macht da keiner etwas?“ verzweifelt suchte Andreas Verstand nach einer Erklärung als Sophia schrie:
“Da! Fahr links! Da ist Licht! Das ist die Ausfahrt!“
Ohne nachzudenken riss Andrea das Lenkrad herum. Der Wagen schoss auf den diffusen Lichtkreis zu. Er schlingerte und drohte auszubrechen. Jeden Augenblick erwartete Andrea das Kreischen von Metall, den explosiven Knall, wenn sich das Licht als Illusion entpuppen würde und der Wagen mit 130km/h auf die Tunnelwand knallen würde. Aber alles war besser als immer weiter und weiter dem rasenden endlosen Zug der Lemminge in den schwarzen Abgrund des Tunnels zu folgen. Andrea hielt den Atem an und schloss die Augen. Die Kinder kreischten.

Eine Sekunde später, als Andrea wieder die Augen öffnete, blendete sie die Sonne. Sie bremste den Wagen ab und lenkte ihn auf den Notstreifen der Autobahn. Unbeeindruckt von dem, was doch auch hinter ihnen liegen musste, rasten die anderen Wagen auf der Autobahn vorbei.
„Seid ihr okay?“ am ganzen Körper zitternd drehte sich Andrea nach André und Sophia um. Beide sahen sie an, die Augen vor Schreck noch immer weit aufgerissen.
„Die Leute in den Wagen“, stammelte André „die haben nicht geschlafen.“ Dann begann er zu weinen.
Liebevoll legte Sophia den Arm um die Schultern ihres kleinen Bruders. „Die haben ganz bestimmt geschlafen. Es war ja auch ein ganz langer Tunnel, da sind sie müde geworden. Das stimmt doch, Mami?“ versuchte Sophia ihren Bruder zu trösten, während ihr dicke Tränen über die Wangen liefen.
„Bitte weiter geradeaus fahren!“ schaltete sich in diesem Moment das Navi wieder ein.
Mit bebenden Händen startete Andrea den Wagen. Sie fuhr bis zur nächsten Autobahnraststätte. Dort spendierte sie den Kindern und sich ein großes Eis. Erst als sich Sophia und André etwas beruhig hatten, rief sie bei der Autobahnpolizei an.

„Ich möchte einige Vorfälle melden“ begann sie „in dem Autobahntunnel auf der A1 zwischen Gossau und Uzwil stehen mehrere Wagen auf dem Nothaltenstreifen, die Insassen…“
„Moment“, unterbrach sie der Polizist, „Sagten sie A1? Sie müssen sich irren. Sind sie ganz sicher, dass sie die A1 meinen? Auf diesem Teilstück gibt es keinen Autobahntunnel.“
„Das habe ich mir gedacht“, antwortete Andrea, „ich wollte es nur noch einmal bestätigt haben. Danke für die Auskunft.“
Andrea unterbrach die Verbindung und wendete sich wieder ihren Kindern zu.

„Was haltet ihr davon, wenn ihr das nächste Mal mit dem Zug nach Zürich fahrt?“

Aschenputtel – eine Wiener Geschichte

Aschenputtel – eine Wiener Geschichte
Es war einmal ein wunderschönes Wiener Mädchen, das Aschenputtel genannt wurde. Aschenputtel wuchs als einzige Tochter in einer angesehen, vermögenden Familie in einem vornehmen Wiener Vorort auf. Ihr Vater war als erfolgreicher Geschäftsmann selten zu Hause. Er bemühte sich aber die Wochenenden mit seiner Familie zu verbringen. Die Mutter, uralter Wiener Geldadel, hatte darauf bestanden, die Erziehung ihrer Tochter selbst in die Hand zu nehmen. Aschenputtel besuchte eine teure Privatschule. Sie bekam Reit-, Tennis-, Klavier – und Ballettunterricht und ihre Mutter brachte ihr bei, wie man sich in der gehobenen Wiener Gesellschaft benahm. Dabei achtete die Mutter darauf, dass Aschenputtel sich gegenüber allen Menschen stets respektvoll und zuvorkommend verhielt. „Den Wert eines Menschen machen nicht sein Geld und sein Besitz aus“, pflegte ihre Mutter zu sagen. „Den Wert eines Menschen erkennst du, wenn du beobachtest, wie er mit anderen Menschen, mit Tieren und der Natur umgeht.“ So wuchs das kleine Aschenputtel zu einem freundlichen und hilfsbereiten Mädchen heran. Man könnte einwenden, wo genügend Geld ist, wo sich niemand Gedanken um die nächste Miete oder die nächste Rate machen musste, wo der Vater einen gutbezahlten Job hat und keine Arbeitslosigkeit droht, ist es einfach, zu einem freundlichen, optimistischen Menschen heranzuwachsen. Eigentlich stimmt das. Aber seltsamerweise ist es nicht selbstverständlich, dass die Menschen freundlich und höflich miteinander umgehen, wenn sie keine finanziellen Sorgen haben. Auch unter den Menschen, die genügend Geld haben, gibt es erstaunlich viele Pessimisten, Geizhälse und ausgesprochen unangenehme Zeitgenossen, ganz zu schweigen von den arroganten, eingebildeten Exemplaren, die meinen, ihr Geld mache sie zu etwas Besonderem. Aber diese Gedanken gehören nicht in diese Geschichte und überhaupt, gehörten Aschenputtel und ihre Familie nicht zu dieser Sorte Menschen. Man gönnte der reichen, höflichen, gebildeten Familie wirklich nur das Beste. Und alle waren sich einig, dass das Schicksal dieses Mal ganz besonders unfair handelte, als Aschenputtels Mutter plötzlich ernsthaft erkrankte und kurz nach Aschenputtels siebzehnten Geburtstag starb. Nur die allgegenwärtigen Neidhammel meinten schadenfroh, dass man mit Geld eben nicht alles kaufen konnte. Aschenputtel war tottraurig über den Tod ihrer Mutter. Sooft sie konnte, ging sie zum Zentralfriedhof und besuchte ihr Grab. Der Vater indes fragte sich, wie es nun mit Aschenputtel weitergehen sollte. Jemand musste die Erziehung übernehmen, denn er war ja beruflich zu oft unterwegs, um sich selbst darum zu kümmern. Er zog ernsthaft in Erwägung, ihre Erziehung einem Schweizer Internat anzuvertrauen, als er zufällig auf eine Geschäftsreise in der Mittagpause seine künftige neue Frau traf. Kollegen, die das zufällige Treffen und was sich daraus ziemlich schnell entwickelte mit einigem Argwohn beobachtet hatten, meinten später, nichts daran sei zufällig gewesen; die Dame hätte dieses Treffen sehr genau und mit einer klaren Absicht geplant. Aber für den vom Leben überforderten Vater war es der Wink eines gutmeinenden Schicksals. Und wenig später heiratete er seine Zufallsbekanntschaft. Er glaubte tatsächlich, es wäre die beste Lösung für ihn und Aschenputtel. So wäre seine Tochter in der schwierigen Phase zum Erwachsenwerden nicht ohne Mutter und hätte darüber hinaus sogar die Geschwister, die sie sich immer gewünscht hatte. Ja, so war das. Man könnte daran zweifeln, ob dies wirklich die beste Lösung war, aber für den Vater war es zumindest die einfachste Lösung. Diese Dame brachte, wie gesagt, nun nicht nur sich selbst, sondern auch noch drei Töchter in die Ehe ein. Die Töchter waren 17, 19 und 21 Jahre alt und benahmen sich in ihrem neuen Zuhause wie die sprichwörtlichen Maden im Speck: unersättlich, dick, rücksichtslos und ausgesprochen unerfreulich anzusehen. Die Dame, nunmehr Aschenputtels Stiefmutter und ihre Töchter übernahmen Aschenputtels Heim wie eine Besatzungsmacht. Da jede der Töchter auf ein eigenes Zimmer bestand, musste Aschenputtel ihr Schlafzimmer, ihr Wohnzimmer und ihr Musik- und Bastelzimmer abgeben und schlief schließlich in einer klitzekleinen Abstellkammer. Der Vater hatte nie eine Hausangestellte beschäftigt. Das bisschen Haushalt hatte Aschenputtels Mutter gemacht, und der Vater meinte, jetzt, da gewissermaßen fünf Frauen im Haus wären, müsste der Haushalt geradezu ein Kinderspiel sein. Seine neue Ehefrau sah das nicht ganz so, wusste sich aber zu helfen. Sie meldete ihre Töchter beim Reit-, Tennis-, Klavier- und Ballettunterricht an und gleichzeitig Aschenputtel von all diesen Beschäftigungen ab. So hatte Aschenputtel mehr Zeit, sich um den Haushalt zu kümmern. Lediglich die Privatschule durfte Aschenputtel weiter besuchen. Sie dort abzumelden, wagte die Stiefmutter mit Hinblick auf den Vater nicht. Und Schule war auch nichts, was die Stiefschwestern ihr neideten. Den Einkauf, insbesondere das Einkaufen der Kleider und Delikatessen übernahm die Stiefmutter selbst gemeinsam mit ihren Töchtern. Aschenputtel musste das besorgen, was sie zur Zubereitung der Mahlzeiten und zur Reinigung brauchte. Wobei die Stiefmutter und ihre Töchter meistens außer Haus aßen. Eigentlich sollte man nun annehmen, dass Aschenputtel ziemlich bald der Stiefmutter den ganzen Kram hinwerfen würde oder sich zumindest bei ihrem Vater über die ungerechte, sprichwörtlich „stiefmütterliche“ Behandlung beschweren würde, aber seltsamerweise erledigte Aschenputtel freundlich und gewissenhaft die ihr auferlegten Aufgaben. Nach der Schule eilte sie heim und begann mit ihren Haushaltspflichten: Kochen, Aufräumen, Putzen, Waschen, Einkaufen. Bis spät in die Nacht bügelte die sie teuren Designerkleider ihrer Stiefschwestern, polierte Schuhe und räumte hinter den Schwestern und der Stiefmutter auf. Wenn der Vater zum Wochenende nach Hause kam, begrüßte Aschenputtel ihn stets gut gelaunt. Die Stiefmutter und die Stiefschwestern aber wurden immer zänkischer und mürrischer. Irgendwie machte Geld allein eben doch nicht glücklich. Und mit siebzehn oder zwanzig Jahren mit Ballett-, Tennis-, Klavier- und Reitstunden anzufangen, war anstrengend und wirklicher Erfolg wollte sich nicht einstellen. Es fehlte den Töchtern an Kondition, Konzentration, Begabung und Körperspannung. Auch die erhofften Einladungen in die feine Wiener Gesellschaft blieben aus. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass die neue Frau des Vaters und ihre Töchter nicht dem kulturellen und gesellschaftlichen Anspruch genügten. Geld allein war in diesen Kreisen nicht der Schlüssel zum Erfolg. Aschenputtel hingegen wurde häufig eingeladen, was ihre Stiefmutter wütend und ihre Stiefschwestern neidisch machte. Darum erfanden sie immer neue Aufgaben, die sie Aschenputtel übertrugen, damit ihr keine Zeit blieb, die Einladungen anzunehmen. Das machte Aschenputtel traurig und oft ging sie abends heimlich zum Grab ihrer Mutter und weinte dort. Aber sie beklagte sich nie und zweifelte auch nie an den Erziehungsgrundsätzen ihrer Mutter.
So vergingen die Wochen und es kam die Zeit des Wiener Opernballs. Wehmütig erinnerte sich Aschenputtel darin, dass ihre Mutter ihr versprochen hatte, dass sie in diesem Jahr zum ersten Mal würde zum Opernball gehen dürfen. Zum berühmten Debütantinnenball. Nicht als Debütantin, wie damals ihre Mutter, aber als Gast. Erst danach planten sie zu entscheiden, ob sie sich den hohen Anforderungen des Debütantinnenballs, den endlosen Proben und Vorbereitungen stellen wollte. Denn wenn man etwas begann, musste man es auch zu Ende bringen, egal wie anstrengend es wäre. Dies war einer der Erziehungsgrundsätze ihrer Mutter gewesen. Aschenputtel wusste, dass sie ihre Stiefmutter gar nicht erst nach dem Ball fragen musste, aber als der Vater dieses Wochenende nach Hause kam, erinnerte Aschenputtel ihn an den Opernball und an das Versprechen der Mutter. „Natürlich darfst du zu dem Ball gehen“, meinte der Vater. Und er machte sich sofort daran, für seine ganze Familie die Ballkarten zu besorgen. „Deiner Stiefmutter wird es bestimmt Freude machen, mit ihren vier hübschen Töchtern auf die Suche nach den schönsten Ballkleidern in der Stadt zu gehen“, fügte er noch hinzu. Wie gesagt, der Vater kam nur am Wochenende heim und bekam nicht viel von dem Leben zu Hause mit. Aschenputtel war klar, dass sie beim Kauf der Ballkleider leer ausgehen würde, aber sie erwähnte es gegenüber dem Vater nicht. Sie wollte ihm die gute Laune nicht verderben. Traurig ging sie an diesem Sonntagnachmittag wieder zum Grab ihrer Mutter. Aschenputtel wusste nicht, wo sie ein Ballkleid und die passenden Schuhe hernehmen sollte. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter von ihrem Debütantinnenball geschwärmt hatte. Sie war so stolz auf ihr Ballkleid gewesen. Sie hatte es niemals weggegeben. Aschenputtel kam eine Idee: Die Stiefmutter hatte kurz nach ihrem Einzug verlangt, dass alle Sachen ihrer Mutter weggeworfen werden sollten. Der Vater war damit nicht einverstanden gewesen und hatte schließlich eine Firma beauftragt, die Sachen in einem Storage am Stadtrand von Wien einzulagern. Aschenputtel hatte keine Mühe, in den Unterlagen ihres Vaters die Adresse und die Schlüssel des Storage zu finden. Gleich am nächsten Tag fuhr sie mit dem Bus hinaus. Schon in der zweiten Kleiderkiste fand sie das gesuchte Kleid und sogar die passenden Schuhe und eine zierliche kleine Tasche. Wie sie vermutet hatte, hatte ihre Mutter damals die gleiche Kleidergröße wie sie heute. Das Kleid war wunderschön, aber ziemlich altmodisch. Es war aus hellblauer Seide, mit enggeschnittener, geschnürter Taille und einem handgearbeiteten Spitzenbesatz an Dekolleté und Armen. Dazu gehörte ein weiter Reifrock. Aschenputtel zog den Reifrock an und streife das Kleid über. Sie drehte sich wie eine Prinzessin und machte einen sittsamen Knicks vor ihrem imaginären Prinzen, der sie zum Tanz aufforderte. Es war wirklich ein märchenhaft schönes Kleid. Und Aschenputtel wusste, dass sie darin traumhaft aussehen würde. Ihr war es egal, dass die Mode dieses Jahr eng anliegende bodenlange Kleider mit Schleppe vorschrieb. Sie würde im Kleid ihrer Mutter zum Ball gehen, und sie würde stolz darauf sein. Heimlich brachte Aschenputtel das Kleid zu einer Spezialreinigung. Sie ließ es gleich dort. Sie würde es erst am Tag des Balls abholen. Aschenputtel traute ihrer Stiefmutter nicht. Sie hatte ihre Stiefmutter gefragt, ob sie auch mit zu dem Ball gehen dürfte und ihre Stiefmutter hatte nur gemeint, natürlich dürfe sie mitkommen, aber ein Kleid müsse sie sich schon selber besorgen. Das Geld, das ihr Vater herausgerückt hätte, um Kleider zu kaufen, hätte gerade so für ihr Kleid und die Kleider ihrer Töchter ausgereicht. Die Zeit verging und es kam der Samstag des Debütantinnenballs. Seit den frühen Morgenstunden blockierten die Stiefmutter und ihre Töchter die Bäder, um sich hübsch zu machen für den Ball. So ein bisschen schadenfroh war das freundliche Aschenputtel dann doch, als ihre Stiefschwestern wie Presswürste in den engen langen Kleidern vor ihr standen und meinten, sie könnten kaum noch atmen. Aschenputtel war morgens ganz früh aufgestanden um ihre Hausarbeit zu erledigen. Gleich würde sie ihr Ballkleid aus der Reinigung holen. „ Und“, fragte ihre Stiefmutter genervt, „bist du mit dem Putzen fertig geworden? Du musst dich noch umziehen, wir fahren pünktlich um sieben Uhr.“ „ Geht klar“, antwortete Aschenputtel gut gelaunt, „ ich werde pünktlich fertig sein.“ Man sah der Stiefmutter an, dass es ihr überhaupt nicht gefiel, dass Aschenputtel tatsächlich mit zum Ball wollte. „Ach, Aschenputtel,“ sagte sie schließlich mit einem honigsüßen Lächeln „sicherlich werden wir heute auf dem Ball jede Menge interessanter Leute kennenlernen und uns morgen Nachmittag ganz bestimmt mit dem einen oder anderen zum Kaffee im Prater treffen. Du musst auf jeden Fall noch heute die neuen Cocktailkleider meiner Töchter aufbügeln.“ „Kein Problem, “ erwiderte Aschenputtel. Wer jetzt meint, Aschenputtel hätte mittlerweile gelernt, mit der Boshaftigkeit anderen Menschen umzugehen und hätte die Stiefmutter eiskalt angelogen, der irrt. Tatsächlich hatte sich Aschenputtel schon gedacht, dass dies der Stiefmutter noch einfallen würde und hatte die Cocktailkleider bereits am frühen Morgen aufgebügelt. So konnte Aschenputtel nun in aller Ruhe zu Reinigung fahren und ihr Ballkleid abholen. Als Aschenputtel zurückkam, waren die Stiefmutter, ihr Vater und die Stiefschwestern bereits zur Wiener Staatsoper gefahren. Obwohl es gerade erst sechs Uhr war. Aber irgendwie hatte Aschenputtel gewusst, dass ihre Stiefmutter sie auf keinen Fall mit zum Ball nehmen würde. Sie war nur ein bisschen traurig, wenn sie daran dachte, was die Stiefmutter wohl ihrem Vater erzählt hatte, warum sie nicht mit zum Ball kommen würde, und sie fand es sehr traurig, dass ihr Vater offensichtlich der Stiefmutter so einfach zugestimmt hatte, ohne zuerst mit seiner Tochter zu reden. Aber wie gesagt, der Vater war nur am Wochenende zu Hause und bekam ohnehin nicht alles mit. Eigentlich war es sogar besser, dass die Stiefmutter und ihre Töchter fort waren. So hatte Aschenputtel das Bad für sich alleine und konnte sich ohne die missbilligenden, neidischen Blicke ihrer Schwestern umziehen.
Aschenputtel sah wirklich wie eine Prinzessin aus im Ballkleid und mit den Schuhen ihrer Mutter. Sie hatte ein Taxi gerufen und grinste verlegen, als der Taxifahrer ausstieg und ihr mit einer übertrieben eleganten Verbeugung die Wagentür öffnete. Sie hatte ihren Vater angerufen und ihn gebeten, die Eintrittskarte am Eingang für sie zu hinterlegen. Als sie auf dem Weg zum Ballsaal an den großen Kristallspiegeln vorbeikam, hielt Aschenputtel kurz inne, um das hübsche, freundlichen Mädchen im Ballkleid ihrer Mutter zu bewundern. Sie lächelte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu. Dann betrat sie den Ballsaal und sah sich suchend nach dem Tisch ihres Vaters um. Der Vater erkannte seine Tochter kaum wieder, aber er erkannte das Ballkleid seiner verstorbenen Frau und er musste ein wenig um Fassung ringen. Und an diesem Abend sollte der Vater noch viel mehr erkennen. Es war das erste Mal, dass er nach dem Tod seiner Frau wieder mit einigen seiner Freunde zusammentraf. Die Hochzeit mit seiner zweiten Frau fand auf deren Wunsch in aller Eile und in aller Stille statt. Heute erkannte der Vater, dass sie dafür gute Gründe gehabt hatte. Seine Freunde und besonders die Gattinnen seiner Freunde wussten so einiges über seine neue Frau zu berichten. Aber auch ohne diese Berichte hätte der Vater die Stiefmutter und ihre Töchter plötzlich mit anderen Augen gesehen. Der Unterschied zum Verhalten der anderen Ballgäste war selbst für den Vater nicht zu übersehen. Und dann erst ihre Wort- und Themenwahl! Es war, als hätte ihm das Ballkleid seiner Frau die Augen geöffnet.
Schon am Tag darauf war der Vater beim Anwalt und reichte die Scheidung ein. Zum Glück hatte eben dieser Anwalt vor der Ehe zu einem Ehevertrag geraten, so dass der Vater nach dem Scheidungsjahr recht billig davon kam. Er verzichtete darauf, Aschenputtel in ein Internat in die Schweiz zu schicken. Aschenputtel wohnte weiterhin zu Hause und machte das Abitur mit einem hervorragenden Notendurchschnitt. Sie hatte auf dem Ball einen netten jungen Mann kennen gelernt. Seine Eltern waren mit Aschenputtels Vater befreundet. Der junge Mann wäre auch einer Heirat durchaus nicht abgeneigt gewesen, aber Aschenputtel wollte zuerst studieren.
„Da war doch noch etwas mit einem Schuh“, wird jetzt der eine oder andere einwenden. Also ich kann mich an keinen Schuh erinnern. Auf jeden Fall war ein Schuh für den Ausgang dieser Geschichte nicht wichtig. Ein anderer könnte einwenden, dies sei eine sehr märchenhafte und altmodische Geschichte. Naja. Ich bin ganz sicher, dass der altmodische, märchenhafte Wiener Debütantinnenball in der Wiener Gesellschaft sehr aktuell ist. Wie aktuell solche Väter, Töchter, Stiefmütter und Stiefschwestern sind, muss jeder für sich selbst entscheiden. Was mich beschäftigt, ist die Frage, wie dieses nette Wiener Mädchen zu dem seltsamen Namen „Aschenputtel“ gekommen ist und ob sie den auf dem Standesamt ändern lassen kann.

Cato – Besser geht’s nicht

„Ich liebe dich! Und ich werde dich nie mehr verlassen.“ Eves dunkelbraunes, langes Haar, das sie mit einem leuchtend gelben Band zurückgebunden hatte, flatterte im Fahrtwind. Der rote Ferrari fuhr in zügigem Tempo die schmale Küstenstraße hinunter. Ein tiefblaues Meer, glitzernd in der Nachmittags¬sonne, säumte die steil abfallenden Felsen. „Ich weiß“, lächelte er Eve zu. Ein perfekter Tag. Er trat das Gaspedal durch. 460 PS. In 3,8 Sekunden von Null auf Hundert. Die Straße machte eine scharfe Linkskurve. Der Ferrari durchbrach die Leitplanke. Eve schrie. Ihre roten Fingernägel krallten sich in seinen Unterarm. Er genoss das unbeschreibliche Gefühl der grenzenlosen Freiheit, als der Wagen über die weißen Klippen raste dem endlosen, blauen Meer entgegen.

„Was stehst du da und glotzt? Nimm deine dreckigen Finger von meinem Wagen und mach, dass du weiter kommst!“
Der Alte wird grob zur Seite gestoßen.
„Reg dich ab, junger Scheißer“, murmelt er. Vor ein paar Jahren hätte sich das keiner getraut. Sie kannten ihn und hatten Respekt. Dann kam der Tag, an dem er einen Kampf auf der Straße verlor. Krankenhaus, Rippen¬brüche, Gehirnerschütterung. Er hätte drauf gehen können. Er überlebte. Leider. Er verlor den Kampf und ihren Respekt. Wenn du einen Kampf verloren hast, lässt du dich besser auf keinen mehr ein. So wurde er zum alten Mann. Über Nacht. Weg von dem Kerl, den sie respektierten, hin zu den Pennern auf den Bänken am Getränkemarkt. So schnell ging das.
Langsam geht der Alte weiter.
Im Vorbeigehen fischt er eine Dose aus dem Mülleimer. Konsumgesellschaft. Überfluss. Sie haben es nicht nötig. Zehn Dosen. Das ergibt eine Flasche Wein vom Getränke¬markt. Der billige. Aber Wein ist Wein. Ein Päckchen Tabak. Eine Flasche Korn. Dafür reicht sein Geld gerade noch. Vielleicht Wein, wenn er genügend Pfand sammelt.
Eve. In einem roten Flitzer ist sie davon gefahren. Ist zu dem Kerl ins Auto gestiegen. Weg war sie. Sie nutzte ihn nur aus. Wie alle. Er traf sie in der Kneipe. Ihr Freund hatte sie vor die Tür gesetzt. Sie zog bei ihm ein. Sie schlief in seinem Bett. Sie rauchte seinen Tabak und leerte seinen Kühl¬schrank. Sie redeten. Aber sie ließ ihn nie ran. Eve nutzte ihn auch nur aus. Dann war sie weg. Danach ging er nicht mehr zum Arbeitsamt. Sie kürzten die Leistung. Er beschloss, für die Bruchbude keine Miete mehr zu zahlen. Er würde sich nicht mehr ausnutzen lassen. Sie schickten die Kündigung und setzten ihn auf die Straße. Pfänden konnten sie nichts. Er hatte alles zu Geld gemacht. Das Amt wies ihm ein Zimmer zu. Stuhl, Tisch, Schrank, Bett, Waschbecken, Kochplatte, Kühlschrank. Scheißhaus auf der Etage. Sie sagten, er verweigere die Arbeitsaufnahme. Das stimmte nicht. Er war bereit, gute Arbeit zu leisten. Für gutes Geld. Aber so etwas gab es nicht mehr. Zeitarbeiter im Schichtdienst. Ewig mit dem Bus unterwegs. Für ein paar Euros. Es hätte zum Leben sowieso nicht gereicht. Dann doch lieber Hartz IV. Das war einfacher. Eine Woche wohnte er in dem Zimmer. Danach wusste er: Er war endgültig auf der Seite der Verlierer angekommen. Er besorgte sich Tabletten und eine Flasche Korn. Er wollte einen Abschiedsbrief schreiben. Freiheit. Selbstbestimmtes Leben. Er fand noch nicht einmal ein ordentliches Stück Papier. Und an wen hätte er schreiben sollen? Dann halt ohne. Er machte die Flasche auf, um sich Mut anzutrinken.

Der Gestank weckte ihn. Dafür schämt er sich bis heute. Das Laken schmiss er weg. Das nächste Geld vom Amt investierte er in einen Fernseher. FünfzigZoll. HD. Er aß einen Monat lang Kartoffeln, trank bei den andern mit, rauchte was er am Boden aufsammelte. Jetzt teilt er sein Geld besser ein. Meistens reicht es für mehr als den halben Monat. Noch zehn Tage. Er wird zum Pfand¬sammeln in den Stadtpark gehen. Morgen. Vielleicht. Jetzt zum Getränkemarkt. Er braucht Tabak.
Der Alte biegt auf die Brücke ein.
Hier begann es. Besser: Hier sollte es enden. Sie hatten ihn nur ausgenutzt. Er hatte gute Arbeit geleistet. Aber er hatte das Maul zu weit aufgerissen. Sie haben ihn rausgeschmissen. Dann stand er dort: Auf der anderen Seite des Geländers. Sein Sprung in die Freiheit. Damals hatte er sein ganzes beschissenes Leben noch vor sich. Damals hätte er es zu Ende bringen sollen. Aber er bringt nie etwas zu Ende. Sein Leben ist falsch. Zur falschen Zeit geboren. Ehrlichkeit, Mut, Selbstbestimmung, Rechtschaffenheit. Das zählt nicht mehr. Cato brachte sich um, weil er lieber sterben wollte, als seine Freiheit zu opfern. Cato ging stolz und selbstbestimmt in den Tod. Cato konnte sein Leben einsetzen, um sich Ruhm und Anerkennung zu kaufen. Cato, ein Selbstmörder und trotzdem ein Held. Mit dem Aufsatz beeindruckte er sogar seinen Deutschlehrer.
Quatsch! Belüg dich nicht selbst, alter Mann! Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Aufsatz geschrieben! Du hast noch nie ein Gymnasium betreten. Du hättest es tun können, wenn sie dich gelassen hätten. Bestimmt! Fünfzig Zoll. HD. Der Bericht über Cato. Da wusste er: Er war zur falschen Zeit geboren. Cato, das war einer, der dachte wie er. Cato hatte Stolz und Ehre und starb lieber, als seine Freiheit aufzugeben. Aber er war nicht Cato. Er spürte den Sog der vorbeifahrenden LKWs. Die Brücke vibrierte unter seinen Füßen. Er klammerte sich am Brückengeländer fest. Zitternd kroch er auf die feige Seite des Geländers zurück, wischte sich Rotz und Tränen aus dem Gesicht und ging heim. „Dein Alter wird dich schon nicht totschlagen“, meinte sein Kumpel. Nein, den Gefallen tat sein Alter ihm nicht. Aber er selbst hätte es tun sollen, damals. Damals auf der Brücke hätte er es zu Ende bringen sollen. Voller Stolz aus eigener Entscheidung wie Cato.

Der Alte hat genügend Pfand gesammelt für eine Flasche Wein. Gemeinsam mit dem Tabak und dem Korn verstaut er den Wein in der mitgebrachten Plastiktüte. Er zahlt. Die Kassiererin lächelt ihm zu. Sie kennen sich. Sie arbeitet schon ewig hier. Wahrscheinlich ist sie verheiratet. „Du solltest es lassen. Den Schnaps, mein ich“, flüstert sie. „Das Zeug wird dich umbringen. Langsam, aber sicher.“
Der Alte beeilt sich nach draußen zu kommen. Hundert Meter. Ein kleiner dreckiger Park. Morgens ist er hier alleine. Die anderen würden nachmittags kommen, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen hatten und Nachschub brauchten. Dann würde er gehen. Meistens mag er ihre Gesellschaft nicht. Er ist nicht wie sie. Aber jetzt gönnt er sich eine Pause in der blassen Frühlingssonne. Eine Selbstgedrehte und ein paar Schlucke Wein. Ein bisschen selbstbestimmte Freiheit auf der Parkbank. Danach wird er nach Hause gehen. Den Fernseher einschalten. Fünfzig Zoll. HD. Den Korn trinken. Und die Zeit wird vergehen. Er ist nicht wie sie. Er trinkt den Schnaps nie in der Öffentlichkeit. Er hat ihnen von Cato erzählt. Der stolze Cato. Einer, der einfach ging, als sich das Leben um ihn herum veränderte. Der Schluss machte, als das Leben nicht mehr zu ihm passte. Cato, der sich weigerte, sich anzupassen und die Freiheit wählte. Seitdem nennen sie ihn Cato. Sie haben nichts verstanden.

„Das Zeug bringt dich noch um. Langsam, aber sicher“, hat sie gesagt. Fast hätte er geantwortet. „Ich weiß“, hätte er geantwortet.“ Es wird mich umbringen. Langsam. Unendlich langsam. Aber besser geht’s nicht.“ Fast hätte er so geantwortet.
Der Alte lehnt sich zurück. Nimmt einen Schluck Wein und spürt die Sonne auf den geschlossenen Augen.

„Ich liebe dich! Und ich werde dich nie mehr verlassen.“ Eves dunkelbraunes, langes Haar, das sie mit einem leuchtend gelben Band zurückgebunden hatte, flatterte im Fahrtwind. Der rote Ferrari fuhr in zügigem Tempo die schmale Küstenstraße hinunter. Ein tiefblaues Meer, glitzernd in der Nachmittags¬sonne, säumte die steil abfallenden Felsen. „Ich weiß“, lächelte er Eve zu. Ein perfekter Tag. Er trat das Gaspedal durch. 460 PS. In 3,8 Sekunden von Null auf Hundert. Die Straße machte eine scharfe Linkskurve. Der Ferrari durchbrach die Leitplanke. Eve schrie. Ihre roten Fingernägel krallten sich in seinen Unterarm. Er genoss das unbeschreibliche Gefühl der grenzenlosen Freiheit, als der Wagen über die weißen Klippen raste dem endlosen, blauen Meer entgegen.