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Die Mutter ( Warten )

Bevor er davon fuhr legte er kurz den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich: „Nicht weinen! Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt.“ Sie schaute zu ihm auf. Wie groß er geworden war! In der ersten Zeit rief er an. Manchmal. Am Wochenende. Viel zu tun. Der Job. Die neue Wohnung. Die Leute hier sind klasse. Geile Schnecken in den Kneipen. Ich komme vorbei, wenn sich alles eingespielt hat. Oder Weihnachten. Vielleicht. Mal sehen, was die anderen vorhaben.

Die Christmette hat sie zu Hause am Fernsehen angeschaut. Ihr war immer so kalt in der Kirche. Und was wäre, wenn er käme, während sie in der Kirche war. Niemand würde ihm öffnen.  Und seine Schlüssel hatte er hier gelassen.  Ihre Schwester lud sie am ersten Weihnachtstag zum Essen ein. Sie lehnte ab. Ginge leider nicht.  Könnte sein, dass Jens kommt, dann musste sie doch daheim sein. Rouladen hatte sie gekocht. Und Rotkohl. Sein Lieblingsessen. Er kam auch am zweiten Weihnachtstag nicht. Am Neujahrstag schickte er eine SMS. Der Sohn der Nachbarin hat sie ihr vorgelesen. „Der besten Mutter der Welt! Ein gutes, neues Jahr! Viele Grüße aus Paris!“ Ob man das ausdrucken kann, hat sie den Nachbarjungen gefragt.

Einmal hat sie ihn angerufen. Nur so. Auf seinem Handy. Er war wütend geworden. Was das solle? Er sei gerade in einem wichtigen Meeting. Sie solle ihm nicht immerzu nachspionieren.

Eine Woche später hat er sie angerufen. Sich entschuldigt. Ja. Ostern klingt gut. Vielleicht Ostern. Falls nicht Rita … Mal sehen.

Freunde hatten sie eingeladen in ihr Ferienhaus an der Nordsee. Ein nettes Angebot. Ja, sie würde gerne mitfahren. An Ostern? Nein, zu Ostern würde Jens kommen. Und er würde Rita mitbringen. Sie hat sich beeilt mit den Ostereinkäufen. Schließlich sollten die beiden nicht vor verschlossener Tür warten müssen. Die Sahnetorte warf sie am Dienstag in die Mülltonne. Den Osterzopf aß sie unter der Woche. Er war trocken, aber zum Kaffee. Bestimmt war ihm etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Sie prüfte, ob ihr Handy geladen war, falls er anrief. Oder hatte er nach Ostern gesagt? Am nächsten Freitag kaufte sie für drei ein und wartete. Samstag und Sonntag verließ sie nicht das Haus. Sie betrachtete die Fotos auf der Kommode. Wie groß er geworden war. Und so selbständig. Dienstag wählte sie mit zitternden Fingern seine Handynummer. „Diese Rufnummer ist nicht vergeben.“ „Nein“, sagte der Nachbarjunge, „dein Handy ist nicht kaputt. Vermutlich hat Jens eine neue Handynummer.“ Sie nickte. Er hatte wohl vergessen, ihr die neue Handynummer zu geben.

Ihre Freunde schüttelten den Kopf. „Du musst doch nicht jedes Wochenende zu Hause sitzen und auf den Kerl warten. Er kann anrufen, bevor er vorbei kommt.“ Sie verstanden nicht. Er hatte noch nie vorher angerufen. So war er nicht. Eines Tages würde er einfach vor der Tür stehen. Sie würde da sein und ihm öffnen. Er würde wieder seinen Arm um ihre Schulter legen und sie kurz an sich ziehen. „Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt“, hatte er gesagt. Sie würde zu ihm aufschauen und lächeln. Ihr Junge! So groß! So erwachsen! So selbständig! Nein, sie würde am Wochenende nicht mehr mit ihren Freunden weggehen. Die Freunde konnte sie auch unter der Woche treffen. Aber ihren Jungen …  Was wäre sie eine schlechte Mutter, wenn sie nicht daheim wäre, wenn der Junge käme.

Den Muttertag verbrachte sie zu Hause in der Nähe des Telefons. Sie hatte Kuchen gebacken und die Türklingel kontrolliert. Manchmal trat sie auf die Türschwelle und schaute die Straße hinunter. Dabei hatte sie so ein Gefühl. Als wenn er jeden Moment käme.

Vielleicht käme er auch gar nicht an einem Wochenende. Vielleicht war er schon da gewesen. Letzte Woche. Am Dienstag vielleicht. Während sie beim Frisör war. Er hatte sie überraschen wollen, aber sie war nicht da. Bestimmt hatte ihn das enttäuscht. Oder verärgert. Bestimmt hatte er deshalb zu Muttertag nicht angerufen. Was sollte er auch von einer Mutter halten, die lieber zum Frisör geht, anstatt nur dieses eine Mal für ihren Sohn zu Hause zu sein?

So fing es an, dass sie das Haus nicht mehr verließ. Noch nicht einmal zum Einkaufen. Den Nachbarjungen freute das zusätzliche Taschengeld. „Du musst Dir helfen lassen. Das ist nicht mehr normal“, sagten die Freunde. Sie schüttelte den Kopf. Was wussten sie schon von diesem besonderen Band zwischen Mutter und Sohn. Jeden Morgen nahm sie sein Foto von der Kommode, stellte es vor sich hin und sprach mit dem Sohn. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie die Verbindung spüren. Sie konnte fühlen, dass er an sie dachte. Sie fühlte seine Sehnsucht nach ihr. Sie fühlte wie sehr er unter der Trennung litt. Wie gerne er gekommen wäre. So erwachsen. So selbständig. Jeden Morgen versprach sie ihm, zu warten, da zu sein, wenn er an ihre Tür klopfen würde. Für ihn da zu sein. Immer.

Als die Schmerzen begannen, ließ sie sich vom Nachbarjungen Schmerzmittel aus der Apotheke besorgen. Als die Schmerzen heftiger wurden, überlegte sie, ob sie den Arzt ins Haus bestellen sollte. Der Nachbarjunge war rot geworden, als sie ihn zum ersten Mal bat, Binden zu kaufen, die größte Größe und eine Flasche Korn. Die blutdurchtränkte Unterwäsche hatte sie in den Müll geworfen. Sie kannte ihren Körper. Sie wusste, was die Schmerzen bedeuteten. Der Arzt würde sie ins Krankenjaus überweisen. Operation. Mehr als acht Tage nicht zu Hause. Deshalb rief sie keinen Arzt. Sie litt. Aber es war normal für eine Mutter, zu leiden. Das war das Los der Mutter. Sie hatte ihn unter Schmerzen geboren. Es hatte sie fast zerrissen. Wieder fühlte es sich an, als würde etwas in ihr zerreißen. Fast als würde sie ihn ein zweites Mal zur Welt bringen. Sie würde auch diese Schmerzen aushalten. Nur noch diese Schmerzen aushalten, und er wäre da. Wieder bei ihr.

Der Nachbarjunge hat sie gefunden und die Eltern gerufen. Der Arzt schüttelte bedauernd den Kopf:  „Ich kann nichts mehr tun.“ „Sie müssen loslassen“, sagte der Priester. „Nein“, stöhnte sie. „Warten. Er kommt. Bestimmt.“ Sie kämpfe verbissen. Schweißnass. Stöhnte. Weigerte sich zu gehen. Ihre Schwester war da, weinte, streichelte ihre Hand:“ Es ist in Ordnung. Mach es Dir nicht so schwer.“ Mühsam hob sie den Kopf. Das Foto. „Warten!“ Ihr Blick zur Tür. Die Schwester schüttelte den Kopf: „Nein! Er wird nicht kommen. Wir haben ihn nicht einmal erreicht!“

Sie schloss die Augen. Warten. Er wird kommen. Dieses besondere Band. Er würde ihr nie verzeihen, wenn sie jetzt ging. Wenn sie ihn verließ, ohne dass er sich verabschieden konnte. Er würde ihr das nie verzeihen.

Er war auch zur Beerdigung nicht gekommen. Den Verkauf des Hauses hatte er von Berlin aus abgewickelt. Er war großzügig: Die Schwester konnte sich aus dem Haushalt nehmen, was sie wollte. Es war ihm egal.

Der Makler stöhnte, als er das Haus schon wieder zum Verkauf anbieten sollte. „Ich kann in diesem Haus nicht glücklich werden“, sagten alle, die es bewohnten, „immer wenn ich es betrete, umfängt mich diese traurige Sehnsucht.“

„Es ist ihre Seele“, vertraute die Nachbarin der Schwester an. „Ihre Seele kann das Haus nicht verlassen, sie wartet immer noch.“

Weihnachten

Er hatte lange geschlafen. Es muss Nachmittag sein, überlegte er. Warum hatten sie ihn nicht zum Essen geweckt? Der Junge stand auf. Es war kalt im Zimmer. Jeans, T-Shirt und Pullover lagen noch am Boden, dort, wo er sie heute Morgen hingeworfen hatte. Schnell schlüpfte er in die Hose, zog das T-Shirt und den Pullover über. Dass die Kleider nach Rauch und Bier rochen, störte ihn nicht. Er hatte Hunger.
Der Junge stieg die Treppe hinunter. Zum ersten Mal bemerkte er die Spinnweben am Geländer. Die Treppe war schon lange nicht mehr geputzt worden. Sie lässt sich ganz schön hängen, dachte er. Seit dem Tod vom Alten war sie so. Zwei Monate ist das jetzt her. Mein Gott, war das ein Aufstand. Dabei wussten doch alle, was los war. Todgesoffen hat er sich. Leberkrebs. War ein Scheißtod. Eigentlich waren wir alle froh, als es endlich vorbei war. Sie hätte sich doch auch freuen müssen, so, wie der mit ihr umgesprungen war, die letzten Jahre.
Der Junge betrat die Küche. Heiß war es hier und stickig. Sie hatten sich nie eine Zentralheizung leisten können. Er hasste es, die Kohlen aus dem Keller hoch zutragen. Oft hatte er deshalb Streit mit dem Alten bekommen. Jetzt holte sie die Kohlen aus dem Keller. Er ging zum Radio. Mussten die denn von morgens bis abends Weihnachtslieder dudeln? Der Junge stellte den Sender mit Rockmusik ein und drehte die volle Lautstärke auf. Er setzte sich an den Küchentisch und schob das benutzte Geschirr beiseite. Während der Junge sich eine Zigarette anzündete, betrat die Mutter die Küche. Sie hatte die Katze herein gelassen. Wortlos ging sie um Radio und stellte es leiser. Die Katze war unterdessen zu dem Jungen auf die Bank gesprungen. Schnurrend reib sie ihren Kopf an seinem Arm.
„Na, wo kommst du denn her? Du bist ja ganz kalt und nass.“ Liebevoll strich er über das schwarze Fell.
„Was gibt’s denn zu essen?“ Die Mutter hatte begonnen, den Tisch zu decken: einen Teller, eine Gabel, die Schüssel mit Kartoffelsalat.
„Soll ich dir die Wurst warm machen?“ fragte sie.
„Nein, lass, ich hab‘ Hunger.“ Der Junge begann zu essen. Die Mutter setzte sich zu ihm und schaute ihm schweigend beim Essen zu.
„Weißt du“, begann sie endlich, „ich hab‘ gedacht, ich koch‘ erst heute Abend. Und danach die Bescherung. Nur die Familie, weißt du, genau so, wie es immer war – fast so.“ Sie verstummte.
Der Junge aß schweigend weiter. Das letzte Stückchen Wurst warf er der Katze zu. Er wusste genau, dass die Mutter das nicht mochte. Sie hat es genau gesehen, dachte er und sagt nichts. Sie sagt nie, wenn ihr etwas nicht gefällt. All die Jahre hat sie nie etwas gesagt.
„Soll ich dir noch eine Tasse Kaffee kochen? Zum Wachwerden?“
Die Mutter stand auf, um das Kaffeewasser aufzusetzen.
„Wo ist Eva?“ fragte er.
„Sie hat ihrem Chef versprochen, ihm im Laden zu helfen. Aber zum Abendessen wird sie da sein. Sie will Robert mitbringen. Es wird bestimmt ein gemütlicher Abend werden. Ich hab‘ Wein gekauft, von dem guten, den wir letztes Jahr zu Weihnachten hatten.“
Wieder verstummte sie, stand einfach nur da und wartete, bis das Kaffeewasser kochte. Also meine Schwester wird das Spielchen heute Abend wieder mitspielen, dachte er. Dabei ist doch keiner mehr da, der sie dazu zwingt. Immer, solange er zurückdenken konnte, hatte es Streit um den Heiligen Abend gegeben. Und immer wurde schließlich das getan, was der Alte wollte: Messe, Abendessen, Bescherung. Es blieb nicht bei den zwei Flaschen Wein und dann gab es wieder Streit, weil sie ihm nie alles recht machen konnten. Aber dieses Jahr würde er den Heiligen Abend anders verbringen. Noch nicht einmal Weihnachtsgeschenke hatte er gekauft. Die Mutter brachte ihm eine Tasse schwarzen Kaffee zum Tisch.
„Dein weißes Hemd und die gute Hose hab‘ ich gebügelt. Saubere Wäsche liegt auch schon oben.“
„Ich wird‘ mich nicht umziehen.“ Der Junge stand auf. Mit der Katze auf dem Arm ging er ins Wohnzimmer, streckte sich lang auf dem Sofa aus und stellte das Fernsehen an. Er gab sich Mühe, die Tanne in der Zimmerecke nicht zu bemerken. Die Mutter brachte ihm den Kaffee nach. Unschlüssig blieb sie neben dem Sofa stehen.
„Du willst dich nicht umziehen?“ fragte sie schließlich.
„Nein. Ich bin nicht da heute Abend. Ich geh‘ zu einem Kumpel. Wir machen eine Gegenveranstaltung. Alles Leute, denen Weihnachten aufn Geist geht.“ Lustlos spielte er mit der Fernbedienung. „Nicht mal ordentliche Filme bringen die zu Weihnachten. Lauter rührseligen Mist.“ Er schielte zur Mutter hinüber. Sie war zur Tanne gegangen und hatte begonnen, Lamettafäden über die Äste zu hängen. Sie muss heute Morgen schon früh aufgestanden sein, um die Schachteln mit den Kugeln vom Dachboden zu holen, überlegte er. Die schwarzen Kleider sehen schrecklich aus, die machen sie so dünn. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass die Mutter eine alte Frau war. Alt und krank sah sie aus. Sie ist noch nicht einmal fünfzig, dachte er. Und warum muss sie wegen dem die grässlichen Kleider anziehen! Missmutig wandte er sich ab, wieder dem Fernsehprogramm zu.

Die Katze weckte ihn auf. Der Junge ließ sie hinaus und ging dann zum Bad. Dort sah er die Mutter vor den Spiegel stehen. Sie hatte sich zur Christmette umgezogen. Ihr Gesicht war wie immer: alt, grau, ohne Make up. Sie kämmte sich die Haare. Dann suchte sie in ihrer Handtasche und heilt schließlich ein kleines Fläschchen in der Hand. Sorgsam drehte sie es auf, wollte einige Tropfen des Parfüms auf die Innenseite ihres Handgelenkes geben. Sie wartete lange auf einen einzigen Tropfen, doch das Fläschchen war leer. Der Junge sah das Gesicht der Mutter, als sie das Fläschchen wieder verschloss und zurück in die Handtasche tat. Als sie dann das Bad verließ, saß er schon wieder vor dem Fernsehen. Die Mutter nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken und kam noch einmal ins Wohnzimmer:“ Ich geh‘ dann jetzt. Eva wird bald kommen.“
Sie war gegangen. Zur Mette. Alleine. Sie hatte kein Wort zu seinem Vorhaben am Abend gesagt. Das war das Parfüm vom Alten, dachte der Junge. Jedes Jahr hatte er ihr das gleiche Parfüm geschenkt. Das ganze Jahr über nichts. Nichts zum Geburtstag, nichts zum Muttertag. Aber das Parfüm zu Weihnachten, so ein winziges Fläschchen, total vornehm verpackt. Das Parfüm hatte er nie vergessen. Sie hat’s immer ganz sparsam benutzt. Und es hatte gerade so gereicht, bis zum nächten Weihnachten.
Der Junge sah auf die Uhr. Fünf Uhr. In einer Stunde würden die Geschäfte schließen. In zwei Stunden würde die Mutter zurück sein. Wenn er sich beeilte, würde er es gerade noch schaffen. Schnell zog er seine Jeansjacke über, steckte den Haustürschlüssel ein und machte sich auf den Weg. Vierzig Euro hatte er noch, seinen Beitrag zur Party am Abend. Es machte sich bemerkbar, dass er jeden Abend mit seinen Freunden in der Kneipe saß, und was verdiente man schon als Malerlehrling im zweiten Jahr? Es war kurz vor sechs, als er endlich in der Kosmetikabteilung des Kaufhauses stand. Und es vergingen nochmals einige Minuten, bis er das richtige Parfüm gefunden hatte. Er wollte es gerade aus dem Regal nehmen, als er das Preisschild sah.
„Verdammt“, fluchte er leise. „Hätt‘ nie gedacht, dass der Alte so spendabel war. Dann lassen wir’s eben. War sowieso ne blöde Idee.“ Unschlüssig stand er vor dem Regal. Dann fiel ihm das Gesicht der Mutter ein, wie sie im Bad gestanden hatte. Und dann tat er etwas, was er schon öfter getan hatte, allerdings noch nie in der Kosmetikabteilung: Er öffnete seine Jacke, sah sich kurz um und schob dann schnell und geschickt die Packung unter seinen Pullover. Zwei Minuten später war er draußen und auf dem Weg nach Hause. Er wurde nicht erwischt. Sie hatten ihn hier noch nie erwischt. Wenn er sich beeilte, überlegte er, könnte er duschen und sich umziehen bevor die Mutter kam. Vielleicht würde er dann später, nach der Bescherung noch zu seinen Kumpels gehen, mal sehen.
Vor der Haustür wartete die Katze. Gemeinsam betraten sie das Haus. Die Mutter kam eine viertel Stunde später nach Hause. Sie hörte den Jungen unter der Dusche.
Er pfiff ein Weihnachtslied.

Die Insel

Plötzlich wachte sie auf. Sie hörte ihn in der Küche. Er war wieder betrunken. Vor vier Wochen war er mit dem Postschiff zur Insel gekommen. Hatte mit einem Koffer vor ihrer Tür gestanden. „Guten Tag, Mutter.“
Sie seufzte. Langsam stand sie auf. Im fahlen Licht der Dämmerung zog sie den alten Morgenmantel über und fischte mühsam mit den Füßen nach den Pantoffeln. Dann ging sie nach unten zur Küche. Es war kalt. Sie begann, ein Feuer im alten Ofen anzuzünden. Er saß am Küchentisch. Die Suche nach einer neuen Flasche Schnaps hatte ihn aus seinem Zimmer getrieben. Seit vier Wochen hatte er das Haus nicht verlassen. „Es ist kalt hier“, sagte sie. „In ein paar Tagen wird es zu schneien beginnen.“ Er antwortete nicht. „Möchtest du einen Kaffee? Soll ich dir Frühstück machen?“ Der Junge stand schwankend auf, gebückt wie ein alter Mann schlurfte er zum Fenster. Schwer stütze er sich auf das Fensterbrett und sah hinaus. Müde, gleichgültig wandte er den Blick dem Himmel zu:„ Wird wohl so sein. Wird bald schneien.“ Die Mutter trat neben ihn:“Wenn die Winterstürme kommen, fährt das Postboot die Insel nicht mehr an.“ „Ja, ich weiß,“ mürrisch wandte sich der Junge von der Mutter ab, setzte sich wieder an den Tisch und griff nach der Schnapsflasche. Die Mutter ging zu der alten Anrichte. Sie nahm zwei Scheiben Brot, bestrich sie mit Butter und belegte sie mit Salami. Dann trug sie den Teller zum Tisch. „Du musst etwas essen. Das“, sie zeigte auf die Flasche, „macht dich krank.“ „Das“, der Junge nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, „ist genau die Medizin, die ich im Moment brauche. Hilft vergessen. Der Alte hatte recht: Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt.“ Der Junge kramte in der Tasche seiner Jogginghose nach den Zigaretten. Mit zitternden Händen zündete es sich eine an. Gierig inhalierte er den Rauch und begann gleich darauf zu husten. Ein harter, schmerzhafter Husten. Die Mutter setzte sich neben ihn. Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt. Das Mantra ihres Mannes. Und er hatte dafür gesorgt, dass ihm der Vorrat nie ausging. Ein Vorrat, der ihn überlebte. „Wenn die Winterstürme kommen, fährt das Postboot die Insel nicht mehr an“, begann sie wieder. Sie legte ihre Hand auf den Arm des Jungen. „Es wird Zeit, dass du gehst. Du musst zurück. Du kannst dich hier nicht ewig verkriechen. Das ist nicht gesund.“ Der Junge zog den Arm zurück: „Was weißt denn du, was gesund für mich ist! Du weißt doch gar nicht, was da draußen vorgeht! Ihr habt doch immer nur hier in eurem behüteten Paradies gelebt!“ Wütend wandte er sich von der Mutter ab. „Die Menschen da draußen sind schlimmer als Raubtiere. Sie lauern nur darauf, dass ich etwas falsch mache. Und dann stellen sie mich bloß, erbarmungslos. Sie geben sich als meine Freunde aus, nur um mich auszunutzen, eiskalt. Ich verstehe nicht, was sie antreibt. Ich habe es versucht. Aber ich kann mit Menschen nicht leben. Warum sollte ich dort draußen sein wollen? Dort ist kein Platz für mich! Sollen die Winterstürme kommen! Gut ist das! Ich brauche das Postboot ganz bestimmt nicht!“ Die Tür schlug laut zu. Beim Aufstehen hatte der Junge den Stuhl umgestoßen. Die Mutter hob ihn auf. Sie hörte ihn, wie er sich im Zimmer über ihr schwer auf das Bett fallen ließ. Wer Schnaps im Haus hat, braucht keinen Arzt. Da wusste sie, er würde die Insel nicht freiwillig verlassen. Diese Angst. Sie war ihr vertraut. Die Angst vor dem Leben. Vor dem Miteinander. Die Flucht ins vermeintliche Paradies. Langsam ging sie nach oben.
Zwei Stunden später öffnete sie die Tür zu seinem Zimmer. Sie ließ den Koffer in der offenen Tür stehen. Der Junge war eingeschlafen. Leise betrat sie das Zimmer. Der Gestank nach Schweiß, Alkohol und Zigaretten nahm ihr fast den Atem. Du hättest sein Zimmer lüften müssen, ging es ihr durch den Kopf. Behutsam setzte sie sich auf den Bettrand. Sie strich ihm sanft über den Kopf und rüttelte ihn zart an der Schulter. „Was?“, der Junge wurde wach. Erstaunt sah er die Mutter an. Sie war in den letzten Wochen nie in seinem Zimmer gewesen. Er setzte sich auf. Dann sah er den Koffer. „Vergiss es!“ der Junge schüttelte den Kopf. „Du kannst mich nicht einfach rauswerfen! Du bist meine Mutter! Du musst mir helfen!“ Die Mutter nickte. „Ich weiß. Deshalb werde ich gehen. In zehn Minuten kommt das Postboot. Ich habe mit meiner Schwester telefoniert. Ich kann bei ihr wohnen. Ich wollte mich nur noch von dir verabschieden.“