Schlagwort-Archive: Mystery

Canis lupus

Canis lupus:

Wolf, Raubtier, das sehr stark einem deutschen Schäferhund ähnelt, aber einen dickeren Kopf und stets aufrecht stehende Ohren besitzt. Lebt im Sommer einzeln oder höchstens zu zweit, im Herbst und Winter in Rudeln, die Wild- und Haustiere reißen.
Obwohl in zahlreichen Schauermärchen immer wieder beschrieben wird, wie Wolfsrudel grausam Menschen überfallen und töten, steht heute fest, dass Wölfe normalerweise keine Menschen angreifen. Die Seltenheit solcher Vorfälle beruht wahrscheinlich auf der Tatsache, dass Menschen nicht die Reizmuster auslösen, die einen Wolf angreifen lassen.

Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll.

Vielleicht damit, dass mir diese Geschichte ohnehin keiner glauben wird. Zumindest das, was hinter den Ereignissen steht, ist so phantastisch, dass es mir niemand glauben wird. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es mir heute selbst noch glaube.

Damals, vor fast fünf Jahren, schien mir alles wirklich, absolut glaubhaft und – grauenvoll.

Heute, so habe ich beschlossen, werde ich mich auf die Darstellung der Ereignisse beschränken. Mag jeder aus dem Beschriebenen seine eigenen Schlüsse ziehen.

I

Die Geschichte begann mit dem Cover einer Schallplatte, die mir ein Freund zum Überspielen ausgeliehen hatte. Weder an die Gruppe noch an den Titel der LP kann ich mich noch erinnern. Ich hatte mir die Platte noch nicht einmal überspielt. Ich gab sie irgendwann zurück und vergaß sie. Nur das Bild auf der Schallplatte blieb mir in Erinnerung. Eine Erinnerung, die allmählich so stark und gegenwärtig wurde, dass ich beschloss, mir das Cover noch einmal genauer anzusehen. Ich wollte heraus finden, was mich an diesem Bild so beeindruckt hatte, dass ich es, auch nach Monaten, noch ständig in Gedanken mit mir herum trug.

Wie gesagt, den Titel der LP hatte ich vergessen. Und der Freund, der mir die Platte ausgeliehen hatte, war seit Wochen in Indien unterwegs. Er hatte gerade sein Studium abgeschlossen und gönnte sich einen ganzjährigen Erholungs- und Erfahrungsurlaub.
Auch in den Schallplattenläden, die ich durchstöberte, konnte ich die Platte nicht finden. Sie war wohl schon älter und wurde nicht mehr im Programm geführt. Schließlich gab ich die Suche auf.

Aber die Erinnerung an das Bild blieb. Ich sah dieses Schallplattencover so deutlich vor mir, dass ich eines Tages beschloss, das Bild zu malen.
Eigentlich konnte ich gar nicht malen. Zumindest hatte ich es noch nie versucht. Und so war ich überrascht, als die Skizze, die ich da mit Bleistift auf ein loses Blatt Papier strichelte, dem Bild, das ich vor Augen hatte, immer ähnlicher wurde. Es war fast unheimlich, wie sehr die fertige Zeichnung dem Bild auf dem Schallplattencover glich und wie lebendig der Wolf wirkte.

Ja, es war das Bild eines Wolfes, das mich in seinen Bann gezogen hatte. Ein großer, grau-schwarzer Wolf war es. Unter einem nächtlichen, wolkenverhangenen Himmel stand der Wolf mit den Vorderbeinen reglos auf einem Felsblock. Der Wolf schien auf etwas, das unmittelbar vor ihm sein musste, zu lauern. Ich hatte das Düstere und Unheimliche dieser Szene in meiner Zeichnung so eindrucksvoll wiedergegeben, dass mich Freunde, denen ich mein Bild zeigte, erstaunt fragten, welchen finsteren Gedanken ich wohl zeitweilig nachhing, die mich zu solchen Bildern veranlassen würden.
Objektiv wusste ich, dass dieses Bild bedrohlich wirkte.
Jeder würde eine solche Szene als gespenstisch beschreiben.
Und doch – meine Empfindung dieser Zeichnung gegenüber war eine andere: Es war ein Wiederfinden, als hätte ich mit dieser Zeichnung etwas seit langer Zeit Verlorenes, aber immer noch Vertrautes, wiedergefunden.

Ich war zufrieden mit meiner Zeichnung. Und es verging wohl kein Tag, an dem ich sie nicht hervor holte und betrachtete.
Der Wolf wurde mein ständiger Begleiter, ein immer gegenwärtiger Teil meiner Gedanken.

II

Trotzdem war ich überrascht, als ich ihn eines Tages tatsächlich sah. Eigentlich war das, was ich da sah, überhaupt nicht möglich. Ein leibhaftiger Wolf, frei, in unserer Gegend ? Das konnte nicht sein. Wäre dieses Tier irgendwo ausgebrochen und liefe nun frei herum, hätte ich sicherlich davon gehört. Und doch, ich bin bis heute noch absolut sicher, dass das Tier, das ich damals auf dem Autobahndamm sah, ein Wolf war – der lebendig gewordene Wolf meiner Zeichnung.

Es dämmerte schon, als er plötzlich links von mir, weniger als hundert Meter entfernt, auf dem Damm auftauchte. Ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte, wie leicht dieses große, schwere Tier mit der Geschwindigkeit meines Wagens Schritt hielt.

Der Wolf begleitete mich fast einen Kilometer weit und verschwand dann.

Zugegeben – ich hatte mich lange und intensiv mit dem Wolf auf der Zeichnung beschäftigt. Wen würde es da wundern, wenn meine Phantasie aus einem ungewöhnlich großen, grauen Hund einen Wolf, meinen Wolf, machte. Aber ich wusste: Es war mein Wolf. Und welcher große Hund hält mühelos über eine längere Strecke mit einem schnell fahrenden PKW Schritt.

Die nächsten Tage las ich die Tageszeitung mit besonderem Interesse. Aber nirgendwo war ein Wolf entlaufen und niemand hatte einen Hund gesehen, der auffällig einem Wolf glich. Und doch war ich sicher, dass ich mir das Ganze nicht nur eingebildet hatte.

Einige Wochen vergingen.
Ich dachte noch immer an den Wolf meiner Zeichnung, als mir das Tier zum zweiten Mal begegnete.

Dieses Mal war es auf einer Landstraße. Es war spät geworden bei meiner Arbeit im Büro, und ich freute mich auf mein Bett und das lange Ausschlafen am nächsten Morgen. Dann sah ich ihn. Zuerst bemerkte ich nur die Augen. Große, starre Augen in denen das Licht meiner Autoscheinwerfer reflektierte..Es hätten ebenso gut die Augen irgendeines anderen Tieres sein können. Aber ich fühlte, dass er es war. Ich fuhr langsam auf ihn zu, bereit, anzuhalten. Es stand ganz ruhig am Straßenrand und blickte mir entgegen. Die ganze Szene erschien mir unwirklich, obwohl ich wusste, dass er da war.

Unwirklich, phantastisch – das war das Gefühl, das ich in diesem Moment empfand. Phantastisch – aber nicht unheimlich. Ich hatte überhaupt keine Angst. Ich wollte anhalten, aussteigen, den Wolf, meinen Wolf anfassen und mir so endgültig beweisen, dass es ihn gab, dass es mehr war als ein Traum, eine Phantasie. Ich wusste, der Wolf würde nicht davon laufen.
Ich hielt unmittelbar neben ihm an. Der Wolf ließ mich nicht aus den Augen. Reglos stand er da und blickte mich an. Und wieder hatte ich das Gefühl des Wiederfindens, des Vertraut seins, als würden er und ich uns schon lange Zeit kennen.

Es mussten Minuten vergangen sein, während denen ich mitten in der Nacht allein im Auto auf der Landstraße hielt. Unmittelbar neben dem Wolf. Minuten, während denen ich ihn genauso fixierte wie er mich.

Dann bemerkte ich die Scheinwerfer im Rückspiegel. Der Wolf hatte sie auch bemerkt. Er wendete den Kopf in Richtung des herankommenden Wagens, knurrte leise und verschwand lautlos.

Ich fuhr nach Hause. Dort nahm ich die Zeichnung heraus und betrachtete sie lange.
Ich wusste, es war nicht meine letzte Begegnung mit ihm gewesen.

III

Schneller als erwartet traf ich ihn ein drittes Mal.

Wieder war es spät, bereits Nacht, als ich das Büro verließ. Aber ich war nicht allein. Zusammen mit einem Kollegen hatte ich stundenlang am PC gesessen. Ich war müde, nervös und ärgerlich, dass diese Arbeit mich so lange aufgehalten hatte. Gemeinsam mit dem Kollegen ging ich zum Parkplatz, der um diese Zeit nicht mehr beleuchtet war. Ich erschrak, als ich den Wolf unmittelbar neben mir bemerkte. Bisher war er nur gekommen, wenn ich alleine war. Zugegeben, ich konnte ihn in der Dunkelheit nicht sehen, aber er war da, ganz sicher, ich spürte seine Nähe.

„Was hast du denn?“, fragte der Kollege, der mein Erschrecken bemerkt hatte.
„Ach, es war nichts“, erwiderte ich. „irgendein Vieh dort im Gebüsch. Wird wohl eine Hase oder so etwas gewesen sein.“

Ich wusste, ich konnte ihm nach mehr als 12 Stunden Arbeit am PC kaum klar machen, ich hätte einen Wolf gesehen. Eigentlich ging ihn mein Wolf auch überhaupt nichts an. Und – genau genommen – hatte ich den Wolf dieses Mal nicht gesehen – nur irgendwie geahnt.

Aber diese Ahnung war intensiver gewesen als die beiden letzten Begegnungen. Der Wolf war mir, für Sekunden nur, näher gewesen als jemals zuvor.

Zu Hause nahm ich erneut die Zeichnung hervor.
Sie war so realistisch, dass es schien, als könne der Wolf plötzlich das Bild verlassen und lebendig vor mir stehen.
Hatte ich dieses Bild wirklich gemalt?
Hatte ich es so gemalt?
Mir schien, als verändere sich das Bild. Als würde es mehr und mehr Wirklichkeit.
Jedes Mal, wenn ich es heraus nahm und betrachtete, schien es ein bisschen mehr wirklich.
Jedes Mal ein bisschen mehr.
Jedes Mal immer mehr – bis …

Ja … bis was eigentlich?

Was würde geschehen?

„Wer bist du?“ fragte ich den Wolf auf meiner Zeichnung.
„Wie soll das weiter gehen? Was willst du von mir? Was verbindet und beide? Dich und mich.“

Doch der Wolf auf meiner Zeichnung blieb stumm. Immer noch mit den Vorderbeinen auf dem Felsblock stehend, schien er auf etwas zu lauschen … und blickte mich an.

Erschrocken starrte ich in die Augen meines Wolfes. War die Zeichnung schon immer so gewesen? Hatte mich der Wolf schon immer angeblickt? Oder hatte sich die Zeichnung tatsächlich verändert?
Unmöglich!
Jetzt ging tatsächlich meine Phantasie mit mir durch!
Was sollte das Ganze eigentlich?
Eine Zeichnung, die sich veränderte. Ein Wolf mitten in einer dicht besiedelten Gegend, in der es schon seit Jahrzehnten keine Wölfe mehr gab. Ein Wolf, den zudem außer mir niemand sah.
Unsinn!

Entschlossen zog ich die Schublade auf, legte die Zeichnung unter einen Stapel Schmierpapier und schwor mir, sie nie mehr hervor zu nehmen.

Schön, das Bild des Wolfes hatte mich irgendwie fasziniert. Soweit gut. Aber ich würde ihm nicht mehr erlauben, weiter den größten Teil meiner Gedanken einzunehmen. Schluss damit !

So bemühte ich mich also, die Zeichnung und den Wolf aus meinen Gedanken zu verdrängen.

IV

Und es gelang mir ganz gut.

Nach einigen Wochen war der Wolf fast vergessen.
Ich hatte meine Stelle gekündigt und war gemeinsam mit meinem Mann in ein großes, altes Haus weit außerhalb der Stadt gezogen. Das Haus lag ziemlich einsam, und ich war oft alleine, da mein Mann erst spät abends von der Arbeit nach Hause kam.
Aber mir machte die Einsamkeit nichts aus. Ich hatte keine Angst vor dem Alleinsein und zudem sorgten das Haus, das immer noch nicht vollständig eingerichtet war, und der verwilderte Garten, den ich wieder in Ordnung bringen wollte, für genügend Zeitvertreib. Außerdem war ich nicht ganz alleine: Eine kleine, schwarz-weiße Katze, die uns wenige Tage nach dem Einzug zugelaufen war, leistete mir Gesellschaft.

Die Zeichnung mit dem Wolf hatte ich seit dem Umzug nur noch einmal in der Hand gehabt. Ich fand sie unter einem Stapel Papier als ich mein Arbeitszimmer einräumte.
Nichts hatte sich verändert. Da waren immer noch die gleiche Faszination und die gleiche Vertrautheit wie vor Wochen. Aber ich wollte das Spiel nicht wieder beginnen und legte sie deshalb gemeinsam mit dem Papier in die unterste Schublade meines Schreibtisches.

In den nächsten Tagen überlegte ich, ob wir uns nicht vielleicht einen Hund anschaffen sollten. Die Gegend war doch sehr einsam. Aber eigentlich mochte ich Katzen lieber.

Und dann geschah es.
Es war bereits Abend. Ich war alleine und ging gerade nach draußen um die Katze zu füttern, als der Mann plötzlich auftauchte.
Ich spürte sofort die Gefahr, obwohl er noch kein Wort zu mir gesagt hatte. Offensichtlich wusste er, dass außer mir niemand im Haus war, denn er bewegte sich selbstsicher und ohne jede Vorsicht auf mich zu.
‚Wahrscheinlich will er nur Geld’, ging es mir durch den Kopf, aber gleichzeitig bemerkte ich, dass er noch nicht einmal eine Maske trug.

„Wenn du dich ruhig verhältst, passiert dir nichts … fast nichts.“ Der Mann stand nun grinsend vor mir.
Mir kam das Ganze absolut unwirklich vor. Wie eine Szene aus einem zweitklassigen Kriminalfilm. Wie ein Zuschauer betrachtete ich alles. Ich wusste, dass der Mann log und erkannte die Gefahr, in der ich mich befand.
Aber diese Gefahr erschien mir so unwirklich, dass ich keine Angst hatte.

‚Das passiert gar nicht wirklich‘, ging es mir durch den Kopf. Gleichzeitig war ich fest entschlossen, den Mann, der immer noch unmittelbar vor mir stand, auf keinen Fall ins Haus zu lassen.

„Nun mach schon! Geh rein!“ schrie mich der Mann an und war im Begriff, mich grob zur Tür zu schieben.

In diesem Moment sprang ihn die kleine Katze, die zum Fressen gekommen war, mit einem wütenden Fauchen an. Fluchend packte der Mann die Katze und schleuderte sie gegen die Hauswand. Die Katze kreischte vor Schmerzen. Dieses entsetzliche Kreischen, das Kreischen der kleinen Katze, die so mutig ihr Zuhause verteidigt hatte, brachte mich in die Realität zurück.

Die Szene würde plötzlich wirklich und noch nie in meinem Leben hatte ich auf einen Menschen einen solchen Hass empfunden wie auf diesen Mann. Ich stand ihm gegenüber, bereit, ihn anzugreifen, ihn anzuspringen, genau, wie es meine Katze getan hatte. Ich wollte ihn töten und ich wusste, mein Hass würde ausreichen, ihn zu töten.

Ich spürte, wie sich meine Muskeln anspannten, wie ich Kraft sammelte, mich bereit machte … und dann … spürte ich noch etwas anderes. Er war wieder da, der Wolf. Unmittelbar neben mir, von den Sträuchern verdeckt, stand der Wolf. Ich wusste, er stand da, er lauerte, die Augen starr auf den Mann gerichtet und, genau wie ich, zum Angriff bereit. Ich konnte ihn spüren, ihn riechen und ich hörte sein leises, drohendes Knurren. Gespannt stand er da, genauso, wie ich ihn gezeichnet hatte, ich sah nicht zu ihm hin, aber ich wusste es und ich wusste auch, dass er seinen Kopf jetzt mir zu wandte, als erwarte er meinen Befehl.

In diesem Moment wich der Mann vor mir zurück. Er musste das Knurren also auch gehört haben. Sah er den Wolf? Nein, er konnte ihn gar nicht sehen, denn er starrte unentwegt nur mich an. Sein Gesicht war kreideweiß. Er stolperte rückwärts und hob abwehrend die Arme.

„Nein, das ist … das kann nicht sein .. bitte … nein …“ stammelte er. Noch nie hatte ich solches Entsetzen im Gesicht eines Menschen gesehen. Der Mann schien wahnsinnig vor Angst.
Endlich kam er zu sich und floh in panischem Schrecken.

Ich hatte ihn keinen Moment aus den Augen gelassen. Erst jetzt wandte ich mich den Sträuchern neben mir zu. Aber ich wusste es bereits, der Wolf war verschwunden.

Das Ganze hatte keine zehn Minuten gedauert und wäre nicht die Katze gewesen, die ich behutsam versorgte, ich hätte alles für einen Traum gehalten.

Jetzt stand es zweifelsfrei fest: den Wolf, meinen Wolf, gab es wirklich. Es war keineswegs ein Geschöpf meiner Phantasie. Denn warum sonst wäre der Mann so entsetzt davon gerannt?

Aber wenn es wirklich der Wolf gewesen war, der ihn so erschrocken hatte, warum hatte er dann nicht ein einziges Mal zu dem Gebüsch hinüber geblickt? Er musste doch das Knurren gehört haben. Warum starrte er die ganze Zeit nur mich in panischer Angst an? Wieso lief er vor mir davon? Wieso nicht vor dem Wolf?

Aber ich war zu müde, um weiter darüber nach zu denken. Ich vergewisserte mich noch, dass alle Türen und Fenster verschlossen waren und ging dann zu Bett.

Zwei Tage später las ich es in der Zeitung:

Spaziergänger hatten die Leiche eines unbekannten Mannes in unmittelbarer Nähe unseres Hauses gefunden. Der Mann war durch Bisse eines vermutlich sehr großen Hundes tödlich verletzt worden. Der Hund war bisher von niemandem gesehen worden. Die Polizei riet zur Vorsicht, da es sich, nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, um ein extrem bösartiges Tier handeln müsse.

Dem Bericht folgte ein Kommentar des hiesigen Tierschutzbundes, der den Hund verteidigte und erklärte, es sei immer die Schuld der Menschen, wenn ein Hund so bösartig würde und die, die Mitarbeiter des Tierschutzbundes, würden alles versuchen, das Tier vor der Polizei zu finden und einzufangen.

Nachdem ich diese Berichte gelesen hatte, ging ich in mein Arbeitszimmer, öffnete die Schublade, nahm die Zeichnung heraus und verbrannte das Bild ohne es mir noch einmal anzusehen.

Dann wusch ich mir die Hände. Irgendein roter Kuli oder rote Tinte mussten in der Schublade ausgelaufen sein.

Und ich wusste, sie würden den Wolf, meinen Wolf, niemals finden.

Dream evil

I

Ich sollte mich erst einmal richtig erholen, haben sie gesagt. Mir Zeit lassen, mich entspannen, spazieren gehen. Erst müsse ich den Schock überwinden, dann käme auch die Erinnerung wieder.
Es wäre Notwehr gewesen, ohne jeden Zweifel. Mich träfe keine Schuld. Allenfalls könne man mir Leichtsinn vorwerfen, dass ich einem Fremden die Wohnungstür geöffnet hätte. Denn ich müsste ihn hereingelassen haben. Nichts deute auf einen Einbruch hin. Eigentlich erstaunlich, meinten sei, dass ich diesen Mann überwältigen konnte. Er sei mir körperlich weit überlegen gewesen. Es sei ein Wunder, dass ich selbst fast unverletzt blieb.
Die tiefen Kratzer und die Bisse im Gesicht, an meinen Händen und Armen müssten wohl von der Katze stammen. Vermutlich hätte ich versucht, das verstörte Tier einzufangen, ehe es davon lief.
Eigenartig, überlegten sie, dass man immer noch nicht herausgefunden habe, wer der Fremde sei und weshalb er Kleidung aus dem letzten Jahrhundert getragen habe. Vielleicht sei diese Kleidung Teil eines Tricks gewesen, um in die Wohnung zu kommen.
Aber darüber sollte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Wichtig sei erst einmal, dass ich absolute Ruhe hätte.

Seit einer Woche bin ich nun hier. Seit einer Woche erzählen sie mir immer wieder das Gleiche.
Dass ich mich entspannen sollte.
Dass ich etwas Entsetzliches erlebt hätte und ich mich unbewusst weigern würde, daran zurück zu denken.
Dass mit der Zeit die Erinnerung wieder käme und sie mir dann helfen könnten das Entsetzen zu überwinden.
Dass man im Moment erst einmal abwarten müsse.

Sie werden vergebens abwarten.

Ich werde mein Gedächtnis nicht wieder finden; ich hatte es nie verloren.
Ich erinnere mich an alles.
Ich weiß, wer der Mann war.
Ich werde ihn niemals vergessen.
Die ganze Geschichte werde ich niemals vergessen können.
Aber ich kann ihnen diese Geschichte nicht erzählen.
Sie würden mir ohnehin nicht glauben.
Sie würden nur weiterhin versuchen, mir zu helfen und mich hier festhalten.

Aber sie können mir nicht helfen.

II

Es begann an einem Dienstag.
Ich hatte ein paar Tage frei und stöberte durch die Buchhandlungen.
Schließlich betrat ich einen kleinen Buchladen, der in einer Seitengasse, abseits der großen Geschäftsstraßen im Erdgeschoß eines alten Gebäudes untergebracht war.
Der Laden musste neu sein.
Ich war oft in diesem Teil der Stadt gewesen und kannte die Gassen und dieses Haus, das seit Jahren leer stand.
Der Besitzer war mir sofort sympathisch. Ich hatte Zeit, war die einzige Kundin und begann eine Unterhaltung mit dem etwa fünfzigjährigen Mann.
Warum er seinen Laden abseits des eigentlichen Geschäftsviertels eröffnet habe, wollte ich wissen. Hier käme doch kaum jemand vorbei und er könne schwerlich einen ausreichenden Umsatz machen.
Der Mann gab mir Recht. Aber dieser Laden sei nur der Anfang, meinte er. Er habe das Haus gekauft und plane, es wieder zu dem zu machen, was es ursprünglich gewesen war.
„In diesem Haus“, erklärte er, „ war einmal die größte und interessanteste Bibliothek der ganzen Stadt untergebracht. Was sie hier sehen ist nur ein kleiner Teil des gesamten Gebäudes, einer von vier Leseräumen im Erdgeschoss. Die eigentliche Bibliothek befand sich im ersten Stock: eine große, helle Halle mit hohen Regalen, die vielen hundert Büchern Platz boten.“
Und der Ladenbesitzer erzählte, er habe vor eines Tages wieder eine solche Bibliothek einzurichten.
Ich war neugierig geworden und fragte, ob ich mir diese ehemalige Bibliothek einmal ansehen dürfte.
„Warum nicht? Hier ist im Moment ohnehin nichts zu tun“, antwortete der Mann und kramte in der Schublade nach dem Schlüssel.
„Aber viel zu sehen gibt’s da nicht. Nur leere, staubige Regale, keine Bücher und überhaupt nichts Geheimnisvolles.“

Gemeinsam stiegen wir die schmale Wendeltreppe hinauf. Der Mann wollte gerade die Tür aufschließen, als ein Kunde den Laden betrat.
„Kundschaft. Ich muss nach unten. Schauen sie sich ruhig alles an. Und schließen sie nachher die Tür wieder ab.“
Mit diesen Worten drückte er mir den Schlüssel in die Hand und ging in den Laden zurück.
Gespannt öffnete ich die Tür und betrat eine große, sonnendurchflutete Halle.
Der Ladenbesitzer hatte die ehemalige Bibliothek treffend beschrieben: nichts weiter als hohe, schwere Regale aus dunklem Holz, allesamt leer und mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Ich war enttäuscht. Irgendwie hatte ich etwas Besonderes erwartet.
Aber hier gab es tatsächlich nichts Geheimnisvolles, abgesehen vielleicht von der bedrückenden Stille und fast unheimlichen Leere des Raumes. Eigenartig, dachte ich, dass nicht einmal Geräusche von der Straße zu hören waren.
Die Stille war so vollkommen und endgültig, dass ich heftig erschrak, als ein leises Miauen sie durchbrach.
Eine Katze? Hier oben? Wohl kaum.
Ein zweites Miauen folgte.
Lauter dieses Mal und eindringlicher.
Ich ging um die alten Regale herum. Das Miauen führte mich.
Dann sah ich sie:
Eine ausgewachsene, graue Katze, ganz oben auf einem hohen Wandbord.
Wie die da wohl hingekommen war, überlegte ich. Auf jeden Fall schien sie sich nicht wieder herunter zu trauen.
„Na‘ du arme Kleine, wie lange hockst du denn schon da oben? Los, trau dich!“
Mit ausgestreckten Armen lockte ich die Katze. Ich musste ihr nicht lange zureden. Sie sprang sofort, als hätte sie auf mich gewartet.

Mit der Katze im Arm verließ ich die Bibliothek. Seltsam, dachte ich beim Hinuntergehen, dass sie ausgerechnet neben dem einzigen Buch saß, das es in dieser Bibliothek noch zu geben schien.
Ich brachte dem Ladenbesitzer den Schlüssel zurück und wollte ihm auch seine Katze überreichen, doch er meinte, er habe das Tier noch nie gesehen und wisse nicht, wie sie da oben hingekommen sei.

Also nahm ich die Katze mit nach draußen, hockte sie auf den Bürgersteig und machte mich mit den Worten „Los, du Unglücksvieh, lauf nach Hause!“, selbst auf den Heimweg.
Doch die Katze dachte überhaupt nicht daran, nach Hause zu laufen. Stattdessen folgte sie mir und stand schließlich vor meiner Haustür.
Ich konnte noch nie jemandem etwas energisch genug abschlagen, und so kam es, dass die Katze bei mir einzog.

III

In der Nacht träumte ich von dem Buch, das als einziges in der Bibliothek gestanden hatte.
Ich erwachte mit der Katze im Bett und dem brennenden Wunsch, mir dieses Buch anzusehen.
Warum auch nicht? Ich hatte Urlaub und genügend Zeit. Also ging ich wieder zu dem Buchladen, erklärte dem Besitzer die Sache mit dem Buch und bat ihn, mich noch einmal in die Bibliothek zu lassen. Bereitwillig überließ er mir den Schlüssel zum zweiten Mal.

Eilig stieg ich die Wendeltreppe hinauf, schloss die Tür auf, betrat die Halle, fand das hohe Wandregal und sogar eine altmodische Trittleiter und hielt schließlich das Buch in der Hand.
Titel und Autor waren mir unbekannt, also schlug ich erwartungsvoll den alten Einband auf.
In diesem Moment wusste ich, warum man das Buch zurückgelassen hatte. Es war wertlos. Mäuse hatten den größten Teil der Seiten zerfressen. Nicht einen Satz konnte ich noch vollständig lesen. Enttäuscht brachte ich das Buch nach unten. Der Buchhändler verstand meine Enttäuschung und riet mir, das Buch mitzunehmen und in einem Antiquariat nach einem zweiten Exemplar zu fragen.

Ich ließ kein Antiquariat der Stadt aus.
Überall das Gleiche: weder Titel, noch Autor, ja nicht einmal der Verlag waren bekannt.
Eigentlich, sagte man mir, dürfte es dieses Buch gar nicht geben.
Als ich endlich müde mit dem wertlosen Buch die Wohnung betrat, wurde ich von der Katze erwartet. Schnurrend strich sie um meine Beine.
Sonderbar, überlegte ich, sie schien sich für das Buch zu interessieren. Sie konnte es doch nicht wiedererkannt haben. Ich warf das Buch auf das Sofa und ging in die Küche, um mir etwas zu Essen zu machen.
Als ich zurück kam, lag die Katze schnurrend auf dem Sofa neben dem Buch. Ihre gelben Augen blickten mir erwartungsvoll entgegen.

IV

In dieser Nacht begann der Albtraum.
Am Morgen erwachte ich zerschlagen. Neben mir lag die Katze, hellwach. Sie schien mich zu beobachten.
Wahrscheinlich hat sie darauf gewartet, dass ich aufwache, sie wird Hunger haben, überlegte ich.
Der Tag verlief ereignislos und ich vergaß den Traum.
Doch in der nächsten Nacht und in allen folgenden Nächten :
immer wieder der gleiche Traum, immer wieder dieser Mann, der mich immer wieder bat, ihm zu helfen. Er habe noch etwas zu erledigen, dazu müsse er zurück kommen, ich müsse dies für ihn vorbereiten, es wäre möglich, zurück zu kommen, ich solle doch das Buch lesen, da stände alles drin.

Nacht für Nacht dieser Traum.
Nacht für Nacht der Mann.
Nacht für Nacht sein Bitten,
das immer eindringlicher wurde.

Und Morgen für Morgen die Katze in meinem Bett, jeden Morgen hellwach und mich erwartungsvoll fixierend.

Es ist die Katze, dachte ich schließlich.
Irgendetwas verbinde ich mit diesem Tier und dieses Etwas schleicht sich dann als Albtraum in meinen Schlaf.

Am folgenden Abend ließ ich die Katze in den Keller.
Bevor ich zu Bett ging, prüfte ich sorgfältig, ob die Kellertür fest verschlossen war und versperrte sogar das Schlafzimmer.
Doch der Albtraum kam auch in dieser Nacht.
Immer fordernder und bedrohlicher wurde der Mann.
Ich solle dieses Buch lesen, ich müsse ihm helfen, er habe keine Zeit mehr, wenn ich ihm nicht freiwillig helfen würde, dann …

Mein eigenes Schreien musste mich geweckt haben.
Es war mitten in der Nacht.
Neben mir lag wieder die Katze und schaute mich mit gelben Augen an.
„Wie bist du hier herein gekommen?“ schrie ich.
„Was willst du von mir? Ich kann das Buch nicht lesen! Es gibt da nichts mehr zu lesen! Siehst du das nicht ein, du blödes Vieh! Ich kann ihm nicht helfen!“
Ich schrie, bis ich heiser war.
Die Katze lag nur bewegungslos da und starrte mich an.
Endlich ahnte ich, dass ich diese Katze und mit ihr den Mann und diesen Traum niemals loswerden würde.
Egal, wohin ich sie bringen würde, die Katze käme immer wieder zu mir zurück.
Und dieser Albtraum, dieser Mann – er würde mich höchstens noch einmal bitten und dann …

Plötzlich wusste ich, was zu tun war. Mir blieb gar keine andere Wahl.
Entschlossen packte ich die Katze. Sie ahnte, was ich vor hatte und wand sich in meinen Händen.
Sie kratzte und biss, doch ich ließ sie nicht los.
Halb wahnsinnig vor Angst, getrieben von der Drohung meines Traumes, rannte ich zur Küche.
Die sich sträubende Katze mir einer Hand fest an mich gepresst öffnete ich die Küchenschublade.
Hier irgendwo musste ein Brotmesser liegen.
Ich hatte noch nie ein Tier töten können. Noch nicht einmal eine Spinne konnte ich zertreten. Aber dieses Mal musste ich es tun.
Ich presste die Katze mit der linken Hand fest auf den Küchenboden.
Sie wand sich, fauchte, kratzte und biss.
Ich schloss die Augen und stach zu, so lange, bis sich die Katze nicht mehr rührte.

V

Meine Freundin, die einen Schlüssel zur Wohnung hatte und nur einmal vorbei schauen wollte, fand mich am Morgen am Küchentisch sitzend.
Das blutige Messer noch immer in der Hand.
Wortlos starrte sie erst mich, dann den toten Mann auf dem Küchenboden an.
Schließlich benachrichtigte sie die Polizei und brachte mich in diese Klinik.

Heute Nachmittag hat sie mich besucht.
Sie hatte mir etwas mitgebracht. Das arme Tier wäre wohl die ganze Woche in der Wohnung gewesen, meinte sie. Eigentlich seltsam, sie habe es doch an jenem Tag gesucht und nirgends gefunden. Es müsse sich aus Angst wohl irgendwo versteckt haben.

Die graue Katze hat also wieder zu mir gefunden.
Schnurrend liegt sie auf meinen Knien.

Wir beide wissen, was heute Nacht passieren wird.

Der Todesfall in der Rue Dauphin – Eine Hommage an Edgar Allan Poe

Ein geheimer Auftrag führte mich wieder einmal nach Paris, und natürlich wollte ich es mir nicht nehmen lassen, während meines Aufenthaltes meinem geschätzten Freunde Charles Dupin einen Besuch abzustatten. Das alte Anwesen in Faubourg St. Germain hatte nichts von seiner bizarren Düsterkeit verloren. Die schweren Fensterläden waren bereits geschlossen, als ich am späten Nachmittag an die imposante Pforte der Villa klopfte. Ich hatte meinen Besuch telegrafisch angekündigt, und mein Freund selbst öffnete mir die Tür und begrüßte mich auf das Herzlichste. Nach einem einfachen Mahl, währenddessen der eine dem anderen die neuesten Begebenheiten der vergangenen Wochen und Monate, die seit unserer letzten Zusammenkunft verstrichen waren, mitteilte, zogen wir uns in das kleine Studierzimmer meines Freundes zurück. Ich genoss den starken Kaffee zu der erlesenen Zigarre, welche mir Dupin großzügig angeboten hatte. Nach der lebhaften Plauderei beim Abendmahl war nun jeder in ein schweigendes entspanntes Nachsinnen versunken. Mein Blick ruhte lange Zeit auf dem eindrucksvollen Porträt des M. Auguste Dupin, dem Bildnis des ehrenwerten Vaters meines lieben Freundes, das, solange ich zurückdenken konnte, den Ehrenplatz über dem Kamin schmückte. Unsere Väter hatte vor langer Zeit eine tiefe, besondere Freundschaft verbunden. Sie bewohnten dieses düstere Haus gemeinsam und lebten in diesen Räumen ihre Sonderbarkeiten und seltsamen Extravaganzen aus. C. Auguste Dupin war ein Mann von ganz außergewöhnlicher geistiger Brillanz gewesen, der seine besonderen Fähigkeiten von Zeit zu Zeit in den Dienst der Pariser Polizei stellte. Und mein Vater, ein treuer Gefährte und zuverlässiger Chronist der Ereignisse, war zugegen, wenn er einige der verworrensten Kriminalfälle der Stadt einzig durch die Gabe seines analytischen Verstandes löste. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, und so wuchs ich mit den spannendsten Erzählungen über den berühmten Detektiv Auguste Dupin auf. Ich bewunderte diesen bemerkenswerten Detektiv, ohne ihm jemals von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden zu haben. Irgendwann erwähnte mein Vater, dass auch sein Freund Dupin Vater eines Knaben geworden sei, wohl in etwa zu der Zeit, als auch ich das Licht der Welt erblickte. Man kann sich meine fieberhafte Erregung vorstellen: ein Knabe in meinem Alter, der Sohn jenes berühmten Auguste Dupin! Sobald mir mein Vater die Erlaubnis und die nötige finanzielle Unterstützung gab, reiste ich nach Paris, um den Sohn dieses besonderen Freundes meines Vaters kennenzulernen.
Charles Dupin empfing mich damals, genauso wie danach an allen Tagen unserer nunmehr fast zwanzigjährigen Freundschaft, persönlich und auf das Warmherzigste. Es schien, als hätten zwei Seelen, die in einer anderen jenseitigen Welt schon längst verbunden waren, nun endlich auch in dieser Gegenwart zueinandergefunden. Da war eine natürliche Vertrautheit und eine Selbstverständlichkeit im gegenseitigen Umgang, die den mühsamen Prozess des vorsichtigen Kennenlernens überflüssig machte. Das unauflösbare Band der Freundschaft hatte uns umschlungen, noch bevor das Abendmahl beendet war. Und seit jener ersten erfreulichen Stunde bin ich immer wieder mit Entzücken in das Haus meines Freundes zurückgekehrt.
Charles Dupin hatte die hervorragenden analytischen Fähigkeiten seines Vaters geerbt, und auch er stellte sich mit dieser außergewöhnlichen Gabe immer dann in den unentgeltlichen Dienst der Pariser Polizeipräfektur, wenn ein besonders verworrener Kriminalfall sein Interesse erregte. Jedes Mal, wenn ich meinen Freund in Paris besuchte, hegte ich den geheimen Wunsch, endlich einmal Augenzeuge seiner brillanten Detektivarbeit zu werden. „Na, mein lieber, treuer Freund, hofft Ihr wieder einmal, dass gerade in diesem Augenblicke der Herr Polizeipräfekt vorsprechen möge mit der dringenden Bitte, ihm bei der Lösung eines ganz eigenartigen Kriminalfalles zu helfen?“, unterbrach Dupin mein schweigsames Sinnen. „Nun, lieber Freund,“ entgegnete ich schmunzelnd, „ist er denn so vermessen, dieser Wunsch, nur ein einziges Male als Chronist der brillanten Arbeitsweise eines außergewöhnlichen Detektivs zu agieren, ähnlich wie vor langer Zeit mein Vater bei Eurem Vater? Voller Stolz würde ich meinem Sohne in künftiger Zeit darüber berichten!“ Als hätte ein wohlwollendes Schicksal meinen Herzenswunsch erhört, klopfte es in diesem Augenblick an der Eingangspforte. Charles Dupin ging hinaus, um dem späten Besucher zu öffnen und kam wenig später mit dem Kutscher des Polizeipräfekten zurück in das Studierzimmer. Mein Freund wäre kein aufmerksamer Gastgeber, wenn er ihm nicht sogleich einen bequemen Sessel und eine Tasse Kaffee angeboten hätte, doch der Mann lehnte beides mit offensichtlichem Bedauern ab. „Der Herr Polizeipräfekt trug mir auf, M. Dupin zu bitten, sich mit mir unverzüglich in die Rue du Dauphin zu begeben. Es habe sich dort nämlich ein Todesfall ereignet, der für M. Dupin von ganz besonderem Interesse sei.“ Angenehm erregt erhob ich mich aus meinem Sessel. „Ein Mord! Und ich werde Euch bei Eurer wunderbaren Arbeit erleben! Wenn das kein glücklicher Zufall ist!“ Zu spät wurde mir bewusst, wie schändlich und pietätlos diese unbeherrschte Äußerung in den Ohren des Überbringers dieser Nachricht klingen musste. Beschämt wandte ich mich ab. „Nur langsam, mein ungestümer Freund. Solch zügelloses Streben ist der Aufklärung eines Mordfalles nie zuträglich“, wies mich auch sogleich mein Freund zurecht. „Allerdings, und es tut mir leid, auf diese Weise Euren Eifer zu dämpfen, dürfte in diesem besonderen Falle auch kein Mord aufzuklären sein. Der Herr Polizeipräfekt ist sicherlich kein Mann von herausragenden geistigen Fähigkeiten, auch war es noch nie die Gabe zu außergewöhnlicher Fantasie, die seine Arbeit auszeichnete, aber eines muss ich ihm zugutehalten: Er pflegt sich sehr präzise auszudrücken. Und wenn er von einem Todesfalle spricht, so meint er zweifelsohne auch einen Todesfall. Hätte sich hingegen ein Mord ereignet, so hätte er dieses Ereignis ohne Zweifel auch als Mord bezeichnet. Aber wie dem auch sein, da der Herr Polizeipräfekt der Überzeugung ist, dass dieser Todesfall von besonderem Interesse für mich wäre, hat er zumindest meine Neugierde geweckt. Wenn ich außerdem noch den Umstand bedenke, dass er zu dieser späten Stunde einen Boten schickt, um mich zu einem Todesfall zu bitten, meine ich, dass wir dieser Aufforderung zweifelsohne eiligst nachkommen sollten. Zumal die Kutsche des Präfekten von meinem Hause wartet, um uns, wie ich annehme, unverzüglich in die Rue du Dauphin zu befördern.“ So kam es also, dass ich zum ersten Male die glückliche Gelegenheit hatte, meinen Freund zu einem Kriminalfall zu begleiten. Dass es sich um einen solchen handeln musste, davon war ich immer noch überzeugt. Weshalb sonst sollte der Pariser Polizeipräfekt nach Mitternacht ein Gespann schicken, um Dupin zum Schauplatz eines Todesfalles zu bringen?
In der Rue de Dauphin hielt der Wagen vor einem imposanten Gebäude. Der Name einer bedeutenden französischen Tageszeitung, der in prunkvollen Lettern die Eingangspforte schmückte, ließ mich vermuten, dass es sich dabei um das Verlagsgebäude eben dieser Gazette handeln müsse. Ein Gendarm geleitete uns unverzüglich in ein stilvoll eingerichtetes Arbeitszimmer. Ohne Zweifel war dies das Arbeits- und Empfangszimmer des Herausgebers dieser bedeutenden Tageszeitung. Da ich mir einige Kenntnisse über den Handel mit Antiquitäten erworben hatte, erkannte ich, dass allein der Wert des barocken Schreibtisches den Wert des gesamten Mobiliars im Hause meines Freundes um ein Vielfaches überstieg. Wer immer hier wohnte und arbeitete, schien über ein stattliches Vermögen zu verfügen. Der Pariser Polizeipräfekt erwartete uns bereits und begrüßte meinen Freund mit überraschender Herzlichkeit. Dieser stellte mich als einen alten Vertrauten vor, der zufällig in seinem Hause zugegen war, als ihn, Dupin, die dringende Botschaft des Präfekten erreichte. „Nun, mein lieber Herr Präfekt“, fuhr Dupin dann fort, „erlaubt mir die ungeduldige Frage, welche Sonderbarkeit des vorliegenden Falles Euch veranlasst hat, zu so ungewöhnlicher Stunde nach mir zu schicken.“
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle vermerken, dass die beiden in ihrer Vorgehensweise ausgesprochen unterschiedlichen Detektive in einer etwas eigentümlichen Beziehung zueinanderstanden. Dupin bezeichnete das Denken des Polizeipräfekten in meiner Gegenwart des Öfteren als ausgesprochen fantasielos. Ihm fehle der nötige Scharfsinn, um verworrene Kriminalfälle aufzuklären. Allerdings sei er ein Mann von beeindruckender Tüchtigkeit, weshalb er trotz seiner durchschnittlichen Begabung die gewöhnlichen Kriminalfälle zuverlässig löse und daher das Amt des Polizeipräfekten völlig zu Recht innehabe. Der Polizeipräfekt hingegen betrachtete die Lebensweise und das kriminalistische Vorgehen meines Freundes als höchst ungewöhnlich und exzentrisch. Tatsächlich sah er ihn ihm keinen gleichwertigen Kriminalisten, sondern einen sonderbaren Kauz, der seine Mußestunden vorzugsweise mit dem Lösen kriminalistischer Rätsel zubrachte. Aber der Präfekt schätzte Dupins Mithilfe bei der Aufklärung der eher ungewöhnlichen Fälle, und er schätze darüber hinaus Dupins vorzüglichen Portwein und die erstklassigen Zigarren, weshalb er die schon fast süchtige Begierde meines Freundes nach bizarren Kriminalfällen gerne bediente. So zogen demnach beide einen befriedigenden Nutzen aus dieser Bekanntschaft.
„Mein geschätzter M. Dupin“, begann der Polizeipräfekt, „zunächst muss ich vorausschicken, dass sich in diesem Hause kein Mord ereignet hat, den es durch Euren bizarren Scharfsinn aufzuklären gilt. Das bedauernswerte Opfer, bei dem es sich übrigens um den Besitzer und Herausgeber der Gazette Parisienne handelt, hat sich zweifelsohne von eigener Hand aus dem Leben zum Tode befördert. Die Umstände der Tat waren so eindeutig, dass ich den Leichnam bereits vom Leichenbeschauer abholen ließ. Auch fanden wir ein Glas mit einer noch näher zu bestimmenden Flüssigkeit auf dem Schreibtisch des Verstorbenen. Der Umstand, dass das Zimmer von innen verschlossen war, ein ausgesprochen ungewöhnlicher Umstand, wie mir die Gattin des Verstorbenen bei einer ersten Befragung glaubhaft versicherte, deutet auf einen Freitod hin. Dies unterstreicht auch die Tatsache, dass der Tote den Eintritt des Todes anscheinend sitzend an seinem Schreibtisch erwartete und keinerlei Bemühungen unternommen hatte, Hilfe herbeizurufen, was unzweifelhaft der Fall gewesen wäre, wenn eine fremde Hand ihm das Gift verabreicht hätte. Und ein Beweisstück, das ohne jeden Zweifel auf eine Selbsttötung hinweist, ist dieser Brief, der in der Hand des Toten gefunden wurde.“ Mit diesen Worten überreichte der Polizeipräfekt Dupin einen versiegelten Briefumschlag, der den Namen meines Freundes als Adressant trug. „Die Witwe des Verstorbenen versicherte mir, dass dieser Brief eindeutig die Handschrift ihres Gatten trägt. Nun, mein lieber M. Dupin, es scheint, als könntet Ihr ein weiteres Mal das Rätsel um einen sonderbaren Todesfall lösen. Gewiss handelt es sich bei diesem Schreiben um den Abschiedsbrief des Verstorbenen. Ich erhoffe mir, dass die Lektüre dieser letzten Worte uns Aufschlüsse darüber geben möge, warum dieser angesehe Geschäftsmann, dem das Schicksal während der letzten Jahre in allen Bereichen seines Lebens ausgesprochen wohl gesonnen war, und den weder körperliche Gebrechen plagten, noch düstere Gedanken das Gemüt zu belasten schienen, aus sprichwörtlich heiterem Himmel beschlossen hat, aus seinem sorgenfreien Leben zu scheiden.“ Dieser Abschiedsbrief, den Dupin nun in Händen hielt, war also der Grund, weshalb der Polizeipräfekt meinen Freund zu diesem Todesfalle hatte rufen lassen. Nun kannte ich meinen Freund schon viele Jahre und daher war mir die fieberhafte Erregung, die Dupin bereits beim Betreten des Verlagsgebäudes ergriffen hatte, nicht entgangen. Zweifelsohne kannte er den Geschäftsmann, und die Art und Weise, wie Dupin sich im Foyer des Hauses bewegte und zielstrebig das Arbeitszimmer des Verstorbenen betrat, bedeutete mir, dass er auch mit den Räumlichkeiten bestens vertraut war. Jedoch hatte er mir gegenüber den Herausgeber der Gazette Parisienne nie erwähnt und so war mir fremd, welcher Art die Verbindung meines Freundes mit diesem Herrn war. Die stets äußerst diskrete Arbeitsweise Dupins und die Tatsache, dass er bisher alle rätselhaften Begebenheiten, die im zugetragen wurden, auf das Vortrefflichste gelöst hatte, öffneten ihm die Türen zu tatsächlich allen Kreisen der Pariser Gesellschaft, sodass mich Dupins Bekanntschaft mit diesem offensichtlich angesehenen und vermögenden Herren in keinerlei Weise in Staunen versetzte. Allerdings befremdete mich die unbesonnene, fast wütende Manier, mit der mein Freund den Brief entgegennahm und das Siegel erbrach. Ungeduldig trat er in das Licht der kostbaren Petroleumlampe, die den Schreibtisch schmückte. Und ich musste mit ansehen, wie mein sonst so ruhiger, besonnener Freund bereits nach der Lektüre der ersten Zeilen um Beherrschung rang. Dupin atmete schwer, mehrere Male schüttelte er fast widerstrebend sein Haupt, es schien, als weigere er sich, das Gelesene als Gewissheit anzunehmen. Als Dupin endlich die ihm ganz offensichtlich zutiefst widerwärtige Lektüre beendet hatte, ging er zum Kamin und ließ sich erschöpft in einen der Biedermeier Sessel sinken. Den schockierenden Brief hielt er immer noch in Händen, während sein Blick ausdruckslos auf dem kleinen Häufchen Asche in der Feuerstelle des Kamins ruhte. „Nun, mein lieber Dupin“, unterbrach der Präfekt das lastende Schweigen. “Ob Ihr wohl die Güte hättet, mir mitzuteilen, mit welcher Angelegenheit sich dieser Brief befasst? Die Lektüre scheint Euch ausgesprochen mitgenommen zu haben.“ Ich war unterdessen an den Sessel, in dem Dupin saß, herangetreten, um meinem Freunde in seiner offensichtlichen Erschöpfung beizustehen. Dupin schien sich langsam von seiner Bestürzung zu erholen. „Auch wenn es mir fast unerträglich ist, mir die Widerwärtigkeiten, die dieses Schriftstück schildert, ein zweites Mal vor Augen zu führen, möchte ich Euch als meinen lieben Freund bitten, dem Herrn Präfekten den Inhalt dieses Briefes vorzutragen.“ Mit diesen Worten übergab mir Dupin das Schreiben. Ich nahm es fast furchtvoll entgegen und trat nun meinerseits in das Licht der Schreibtischlampe und begann laut zu lesen:
„Diese Zeilen schreibe ich, Jean Batiste G … , eine Stunde vor meine Tode, den ich durch die Einnahme eines langsam wirkenden Giftes, das mich wenige Minuten nach Mitternacht in einen sanften, schmerzlosen Todesschlaf versetzen wird, von eigener Hand herbei geführt habe. Diese Zeilen richte ich an meinen geschätzten Freund Charles Dupin. Lieber Dupin, ich darf Euch sicherlich einen Freund nennen, da uns doch das lebhafteste Interesse an den Phänomen des Bösen, an dem Sündhaften und Schändlichen der menschlichen Seele seit vielen Jahren verbindet. Ihr, M. Dupin, wisst, dass es mir ein Leichtes wäre, mich als ehrbarer, tugendhafter Bürger aus dieser Welt zu verabschieden. Meine Hinterlassenschaft, dieses imposante Zeitungsimperium, das ich erschaffen und zur Blüte gebracht habe, wäre mir ein Denkmal, das noch lange im Erbe meiner Nachfahren meinen Namen tragen würde. Auch wäre es mir möglich, einen Teil meines beachtlichen Vermögens in eine wohltätige Stiftung zu überführen, um so über die Grenzen der Stadt Paris hinaus eine ruhmvolle Unsterblichkeit zu erlangen. Aber Ihr, mein lieber Dupin, wisst, dass dies alles meinen unersättlichen Hunger nach Ruhm und Anerkennung nicht stillen kann. Ihr habt es immer vermutet, dass mein wahrer Ruhm und meine wahre Könnerschaft ursächlich auf das meisterlich Böse zurückzuführen sind, das meinem Wesen zugrunde liegt. Oder sollte ich treffender sagen: Dass Ihr es immer wusstet, ohne es jedoch beweisen zu können und ohne jemals eine Möglichkeit zu finden, mich deshalb einer öffentlichen Anklage zuzuführen. Ihr wisst, dass die Abwesenheit jeglicher christlicher Moral und das absolute Fehlen jeglichen ethischen Verantwortungsgefühles die eigentlichen Grundpfeiler meines Erfolges sind. Ja, mein lieber Freund, hier, in diesem Schreiben, gestehe ich es zum ersten und letzten Male: Ihr hattet mit der Einschätzung meines schändlichen, verwerflichen Charakters absolut recht, auch wenn Ihr mir niemals auch nur das geringste Vergehen nachweisen konntet. Grämt Euch nicht, mein lieber Dupin, dieses Versagen ist Euch nicht anzulasten. Selbst Euer exzellenter, analytischer Verstand kann sich nur der Tatsachen und Umstände bedienen, die ihm bekannt sind. Und ein ganz besonderer Umstand, der zur Aufklärung des Rätsels um meine Person zweifelsohne augenblicklich geführt hätte, habe ich vor Euch und der übrigen Gesellschaft bis heute geheim gehalten. Aber heute, an dem Tage, an dem widrige Gegebenheiten mich dazu bewogen haben, meinem Leben selbst ein Ende zu setzen, habe ich beschlossen, das Geheimnis zu lüften. Nicht, wie vielleicht einige Kleingeister vermuten könnten, um mein Gewissen zu erleichtern, sondern, wie vermutlich nur Ihr dies richtig werten und verstehen könnt, um meiner Person ein wirklich angemessenes Denkmal zu setzen. Denn, was die Menschheit tatsächlich zu allerhöchsten Leistungen antreibt, ist das Böse. Und darin habe ich es wahrlich zu meisterlichen Ehren gebracht. Und ich weiß, dass Ihr, Dupin, diese Meisterlichkeit zu erkennen imstande seid und mir deshalb Wertschätzung erweisen werdet. Ich weiß, Ihr werdet mein Andenken bewahren und von mir in äußerster Bewunderung reden. Ihr werdet mich den großartigen Jean Batiste G. … nennen, den Einzigen, dessen Rätsel der große Dupin nicht lösen konnte.
Aber die Zeit drängt. Wenige Minuten nach Mitternacht werde ich nicht mehr auf dieser Erde wandeln; lasst mich deshalb unverzüglich mit meiner Geschichte beginnen:
Es war vor fast zehn Jahren. Ich war damals der Herausgeber einer kleinen unbedeutenden Pariser Tageszeitung, als ein junger Bursche bei mir vorsprach. Er machte auf mich sogleich den Eindruck eines unbedeutenden Halunken, der mit Diebstählen und harmlosen Betrügereien seinen bescheidenen Lebensunterhalt bestritt. Und so war ich nicht verwundert, als er vorgab, einen Hinweis auf einen zukünftigen Wohnungsbrand in der Rue Volta zu haben, und als er anbot, mir den genauen Ort und Zeitpunkt des Brandes gegen ein bescheidenes Entgelt zu nennen. Ich riet ihm, sich für seine lausigen, kleinen Betrügereien jemand anderen zu suchen und drohte ihm mit dem Gendarmen, wenn er nicht unverzüglich mein Haus verlassen würde. Doch der Bursche wollte nicht gehen. Er hätte genaueste Angaben über den Brand, nicht nur Zeit und Ort des Brandes könne er benennen, er wisse darüber hinaus, dass eine junge Frau, um den Flammen zu entkommen, aus dem Fenster des 3. Stockwerkes in den Tod springen werde. Ich könne einen Fotografen frühzeitig zu dem betreffenden Ort schicken. Die Fotografie dieser bedauernswerten Frau auf der Titelseite meines Blattes müsse mir doch einige Francs wert sein. Natürlich schenkte ich den Einlassungen dieses Tagediebes immer noch keinen Glauben und warf ihn unverzüglich hinaus. Ihr könnt Euch meine Verwunderung sicherlich vorstellen, als meine Berichterstatter mir zwei Tage später von einem Wohnungsbrand erzählten, der sich in der Rue Volta ereignet hatte. Eine junge Frau sei zu Tode gekommen, als sie der Feuersbrunst mit einem Sprung aus dem Fenster des 3. Stockwerkes zu entkommen versuchte. Lieber Dupin, Ihr könnt Euch meinen Ärger bestimmt nachempfinden darüber, dass ich den Aussagen dieses Burschen keinen Glauben geschenkte und die paar Francs nicht in den Kauf dieser Information investierte. Ich nahm damals an, dass dieser Kerl den Mord an der jungen Frau geplant hatte, dass er sie aus dem Fenster stieß und das Feuer legte, um seine Tat zu verbergen. Das Schicksal der toten Frau kümmerte mich nicht, was mich hingegen verwunderte, war der Umstand, dass dieser Bursche für ein paar Francs das Risiko einging, mich zum Mitwisser seines schändlichen Plans zu machen. Noch überraschter war ich, als der Bursche am nächsten Tag ein zweites Mal bei mir vorsprach. „Na, glaubt der feine Herr mir jetzt?“, fragte er frech. „Und bereut er es nun, dass er nicht die paar Francs für eine einmalige Fotografie ausgegeben hat?“ Der Schurke wagte es tatsächlich, unaufgefordert in meinem Arbeitszimmer Platz zu nehmen. „Was fällt dir ein!“, herrschte ich ihn an. „Vielleicht sollte ich den Polizeipräfekten informieren und dieser könnte dich fragen, woher du von dem Brand und dem Tod der Frau so frühzeitig wissen konntest, wenn du beides nicht mit eigener Hand herbeigeführt hast.“ Die Androhung versetzte den kleinen Gauner in eine gewisse Unruhe. Es war offensichtlich, dass es mit dieser Entwicklung der Umstände nicht gerechnet hatte. „Ich hatte damit nichts zu schaffen“, beeilte er sich, mir zu versichern. Jetzt hatte ich ihn da, wo ich in haben wollte. „Nun, was denkst du, wessen Wort beim Präfekten mehr Gewicht haben wird? Die Aussage eines angesehenen Geschäftsmannes, der darüber hinaus noch einige Zeugen benennen kann oder das Gestammel eines kleinen Straßendiebes? Das Zuchthaus wird dir als künftige Wohnstätte gewiss sein.“ Ich verstellte dem kleinen Ganoven die Tür, als er sich zur Flucht wandte. „Nur langsam! Setz dich wieder hin! Wir beide sind von selber Manier. Ich werde dich nicht verraten und darüber hinaus noch großzügig entlohnen, wenn du mir eine weitere interessante Nachricht arrangierst. Ein hinterhältiger, brutaler Raub, bei dem das Opfer den Tod findet, würde als Abbildung auf der Titelseite die Auflage meines Blattes in die Höhe treiben und mich dazu veranlassen, über die näheren Umstände des Wohnungsbrandes auch weiterhin Stillschweigen zu bewahren.“ Diese Aussage hatte den naiven Tagedieb auf das Heftigste getroffen. Voller Angst berichtete er mir, wie er es mühelos mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, die Ungerechtigkeit des Schicksals bezüglich der Verteilung der materiellen Güter durch eigenes Zutun zu seinen Gunsten auszugleichen, dass er es aber niemals mit seinem Gewissen vereinbaren könne, jemandes Leben durch eigene Hand oder durch Intrigen zu beenden. Dies müsse ich ihm glauben, und er schwöre es bei dem Grab seiner Mutter, die ihn stets in Übereinstimmung mit dem fünften christlichen Gebot erzogen habe. Und in seiner Frucht vor dem Zuchthaus berichtete er mir nun von der seltsamen Zeitung, die ein gütiges Schicksal ihm eines Tages bei einem seiner Beutezüge zugespielt hatte. Vor einigen Wochen war er auf der Suche nach altem Lumpen, die er auf dem Marché aux puces verkaufen wollte, in den Keller jenes alten verfallenen Hauses hinabgestiegen, das vor vielen Jahren dem bekannten Verleger Henri H … gehört hatte. Sicherlich wäre mir dieser Mann bekannt, meinte der Bursche, da wir uns ja in demselben Gewerke bewegen würden. Tatsächlich kannte ich den Herrn. Sein Verlagshaus brannte damals bis auf die Grundmauern ab, während er selbst sich mit seiner Gattin auf einer Vergnügungsreise durch Italien befand. Im Keller jenes Hauses nun fand der kleine Dieb, wie er behauptete, ein reich mit Intarsien verzierte hölzerne Kästchen, das den Brand anscheinend fast unbeschadet überstanden hatte. In der Hoffnung, darin ein wertvolles Kleinod zu finden, dessen Verkauf ihm einige Francs einbringen würde, nahm er das Kästchen mit nach Hause und erbrach dort den eisernen Beschlag. Der Bursche beschrieb mir mit lebhaftesten Worten seine tiefe Enttäuschung, als ihm gewahr wurde, dass dieses verheißungsvolle Kassette lediglich eine alte Zeitung enthielt. Achtlos lies er die Zeitung auf dem Küchentische seiner schäbigen Behausung liegen und zog erst einmal los, um wenigstens die hölzerne Schatulle zu Geld zu machen. Den umständlichen und qualvoll langweiligen Einlassungen meines unstandesgemäßen Gastes immer ungeduldiger folgend, erfuhr ich schließlich das ausgesprochen interessante Ende dieser sonderbaren Geschichte.
Aber mir verbleiben nur noch wenige Minuten und daher erlaubt mir, hochgeschätzter M. Dupin, hier meine Erzählung ein wenig zu kürzen. Es wird Ihnen durch diesen Bericht nicht entgangen sein, dass die geistigen Fähigkeiten meines betrügerischen Gastes nicht eben von herausragender Qualität waren und so verwunderte es nicht, dass es eine geraume Zeit und vieler Irrungen bedurfte, bis dieser Bursche endlich die besondere Eigenschaft dieser Zeitung, die er zunächst so achtlos beiseite geworfen hatte, herausfand. Ihnen, Dupin, wird es indes zur endgültigen Aufklärung vieler Rätsel meine Person betreffend dienlich sein, wenn ich Ihnen nun mitteile, was diese besondere Zeitung so einzigartig machte. Wie der naive Strauchdieb mir am Ende seiner Ausführungen glaubhaft versicherte, könne tatsächlich jeder in dieser Zeitung die Tagesereignisse des übernächsten Tages nachlesen. Mit dem zwölften Glockenschlag um Mitternacht verändere sich das Erscheinungsbild der Zeitung und berichte exakt, was sich am übernächsten Tage in Paris zutragen würde. Natürlich gab ich vor, den Ausführungen des Ganoven keinerlei Glauben zu schenken, bevor er mir nicht zum Beweis diese sonderbare Zeitung vorlegen würde. Die geringen geistigen Fähigkeiten, mit denen dieser Kerl gesegnet war, wurden indes nur noch von einer fast unglaublichen Naivität übertroffen. Und so verabredeten wir eine erneute Zusammenkunft um mitternächtlicher Stunde. Und tatsächlich erschien der einfältige Tor kurz nach Mitternacht erneut an der Eingangspforte meines Hauses mit jener wundersamen Zeitung im Handgepäck. Ihr, lieber Dupin, kennt mich wie kein anderer und könnt Euch vorstellen, dass ich bereits besondere Vorkehrungen getroffen hatte. So war ich allein mit dem Burschen, als ich ihm eröffnete, dass er dieses Arbeitszimmer nicht lebend verlassen würde. Ja, dass er bereits in wenigen Minuten eines qualvollen Vergiftungstodes sterben würde, da er den präparierten Portwein, mit dem wir auf seinen wunderbaren Besitz angestoßen hatten, bereits ausgetrunken habe. Dieser dumme Tölpel lachte mich doch in der Tat aus! Ich könne mir meine leeren Drohungen ersparen, meinte er, schließlich habe er seine Zeitung kurz nach Mitternacht zurate gezogen, was übrigens der Grund seiner Verspätung gewesen sei, und in der Zeitung sei kein Hinweis auf einen Mord zu finden gewesen. Ihr seht, Dupin, es wäre ein Verbrechen gegen das Schicksal gewesen, wenn ich die wertvolle Zeitung noch länger im Besitze dieses dummen Menschen gelassen hätte. „Nun,“ entgegnete ich dem Toren, „auch die beste Zeitung kann nur von jenen Morden berichten, von denen die Welt Kenntnis erhält. Der Mord an dir indes wird ewig unberichtet bleiben, weil niemand deinen Leichnam finden wird.“ Wie gesagt, ich hatte bereits Vorkehrungen getroffen, und als die Morgendämmerung den Himmel über Paris rötlich färbte, war die Leiche eines unbekannten Tagediebes sorgfältig und unauffindbar beseitigt. Erspart mir an dieser Stelle die Einzelheiten einer Tat, die sich Ihr analytischer Verstand sicherlich ohne Mühe zusammenreimen kann, denn Ihr wisst, in welche Gewerbe ich vor langer Zeit tätig war und welche Chemikalien mir bei der Fotografie zur Verfügung standen. Ich war nun also im Besitz jener fantastischen Zeitung, und in den nächsten Jahren ist es mir auf das Hervorragendste gelungen, Kapital aus dem Vorsprung an Wissen, den mir diese Zeitung verschaffte, zu schlagen. Wie Ihr selbst, mein lieber Dupin, nur zu gut wisst, waren meine Fotografen und Berichterstatter immer dort als Erste, wo sich die sensationellsten und zudem oft grausamsten Schicksale ereigneten. Ihr habt mich oft genug verdächtigt, der Urheber der Gräuel zu sein, über die meine Zeitung stets als Erste berichtete. Jedoch konntet Ihr mir weder ein hinreichendes Motiv noch die Gelegenheit zur Tat nachweisen. Auch stand ich nie in irgendeinem Zusammenhang zu den Tätern, wenn sie im Anschluss ihrer Taten tatsächlich einmal überführt wurden. Darüber hinaus waren manche Ereignisse so schicksalshaft und von Menschenhand unmöglich herbeizuführen, dass unter keinen Umständen eine Beziehung zwischen mir und dem Ereignis hergestellt werden konnte. Es sei den, Ihr, M. Dupin, wollt behaupten, ich hätte das Schicksal selbst bestochen, um voyeuristisches Kapital daraus zu schlagen. Nun, glaubt mir, wenn mir etwas Derartiges möglich gewesen wäre, hätte ich es zweifelsohne getan. Aber auch so gelang es mir, meine außergewöhnlichen Augenzeugenberichte und meine unglaublichen Fotografien besonders tragischer Begebenheiten zu wahrhaft horrenden Preisen zu verkaufen. Meine finanzielle Lage verbesserte sich von Tag zu Tag, meine Zeitung war binnen weniger Wochen zu dem auflagenstärksten Blatt aufgestiegen, das jemals in Paris angeboten wurde. Da Ihr, Dupin, selber mein erfolgreiches Tun während der letzten Jahre mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt habt, was mir, wie ich heute zugeben möchte, immer ausgesprochen schmeichelte, wisst Ihr am besten, dass ich der Erste war, der eine Vermittlungsstelle für Nachrichten gründete, die exzellente Augenzeugenberichte und Fotografien an andere Zeitungen verkaufte.
Jede Nacht zur zwölften Stunde saß ich hier in diesem Arbeitszimmer und fieberte der Neuerscheinung meiner wunderbaren Tageszeitung entgegen. Katastrophen, die menschliche Schicksale betrafen, erfreuten mich am meisten. Ohne Zweifel erinnert Ihr Euch noch des Einsturzes des Waisenhauses in der Nähe des Hospital des Invalides. Mein Fotograf konnte ein paar ganz vortreffliche Fotografien der vor Schmerzen kreischenden Kinder anfertigen noch bevor irgendwelche Helfer vor Ort waren. Oder darf ich Eure Erinnerung zu dem Personenzug lenken, der auf der Strecke von Versailles nach Paris entgleiste. Die hölzernen Wagen des Zuges fuhren auf die Lokomotive auf und wurden von den glühenden Kohlen aus der Feuerbüchse in Brand gesetzt. Mehr als fünfzig Menschen verbrannten eingeklemmt in den Waggons. Damals war ich persönlich zugegen, um die Vorbereitungen und die Arbeit meiner Fotografen zu überwachen. Wir konnten ein paar ganz vorzügliche Fotografien herstellen, die sich auf das Hervorragendste verkauften. Ihr müsst es mir nachsehen, lieber Dupin, wenn ich ein wenig in Schwärmerei gerate, angesichts der zahlreichen wunderbaren, fesselnden und herzerweichenden Berichte, welche ich in den letzten Jahren als Augenzeuge dieser tragischen Ereignisse verfassen durfte. Tatsächlich ließ ich mir, wann immer es mir möglich war, die persönliche Anwesenheit bei allen diesen großen und kleinen Katastrophen nicht nehmen. Ja, ich muss sogar gestehen, dass mich mit den Jahren die persönlichen, sozusagen privaten Schicksalsschläge weitaus mehr zu fesseln vermochten als die großen anonymen Katastrophen. Ein kleines, süßes, unschuldiges Mädchen, das vor der Linse meines Fotografen von einem tollwütigen Hunde zu Tode gebissen wurde, hat mich weitaus mehr erregt als die große Flut der Seine, bei der lediglich die Leichen ein paar mitteloser Vagabunden angeschwemmt wurden. Wie Ihr seht, verehrter Dupin, habe ich das Böse meines Charakters auf das Vortrefflichste kultiviert. Wie ein Gourmet suchte ich mir schließlich die besonderen Häppchen aus dem entsetzlichen Elend, das sich unweigerlich an jedem neuen Tage in Paris ereignete, heraus. Und ich gestehe ohne Reue, dass ich, bis zu jener Stunde, als mir die mitternächtliche Lektüre mein eigenes Schicksal offenbarte, jedes abscheuliche Häppchen auf das Köstlichste genossen habe. Ich hatte immer eine ganz besondere Vorliebe für Feuerkatastrophen jeglicher Art. Die angstvollen, schmerzerfüllten Schreie der brennenden Leiber erregten mich auf ganz besondere Weise. Ich scheue mich nicht, zuzugeben, dass diese langsame, schmerzhafte Todesart immer eine ganz eigenartige, unbeschreibliche Faszination auf mich ausübte. Welche Ironie meines Schicksals, als ich nun las, dass mich selbst ein ebensolcher qualvoller Tod ereilen würde. Größter Zeitungsverleger von Paris ist das prominenteste Opfer bei dem verheerenden Brand in den Halles Centrales! stand in fetten Lettern auf der Titelseite meiner prophetischen Zeitung. Offenbar sei ich mit einer persönlichen Recherche befasst gewesen, als in den Markthallen das Feuer ausbrach. Ich erlag noch am Abend unter qualvollen Schmerzen meinen Verbrennungen, konnte ich der Meldung entnehmen. Ihr könnt euch mein Entsetzen sicherlich vorstellen, als ich den Bericht meines eigenen Todes las. Zu jener Zeit hatte ich noch keinerlei Veranlassung, mich am Morgen des übernächsten Tages zu den Halles Centrales zu begeben, aber ich zweifelte keinen Augenblick an der Richtigkeit des Berichtes. Und so, wie ich es bisher noch nie für notwendig gehalten hatte, mein Wissen über zukünftige schreckliche Ereignisse zu nutzen, um diese Ereignisse anzuwenden, um damit zahlreichen Menschen entsetzliches Leiden und Elend zu ersparen, kam mir auch jetzt nicht der Gedanke, einen Versuch zu unternehmen, meinen eigenen Tod zu verhindern. Ich wusste mit Gewissheit, dass ich meinem Tod nicht entfliehen konnte. Mein Tod war der gerechte Preis, den ich für meine Mitleidlosigkeit und Skrupellosigkeit zu zahlen hatte. Das Schicksal hatte mir vor langer Zeit diesen Handel angeboten, und ich hatte mich darauf eingelassen. Das Geschäft schien mir fair, und ich war bereit, den geforderten Preis zu zahlen. Aber ich war nicht einverstanden mit den schrecklichen Konditionen, zu denen dieser Handel durchgeführt werden sollte. Ich muss gestehen, mein lieber Dupin, obwohl mich das Leiden meiner Mitmenschen immer auf eine sonderbare Weise erheiterte und belebte, war ich selber nicht gewillt und nicht in der Lage, mein eigenes Leiden heldenhaft zu tragen. Ja, ich gestehe es in diesen letzen Worten ganz offen: Ich fürchte mich ganz außerordentlich vor körperlichen Schmerzen. Daher traf ich schon vor langer Zeit gewissenhafte Vorsorge, als ich mir nämlich ein wundervolles Pulver beschaffte, das mich, in einem guten Portwein genossen, langsam schläfrig machen und mich schließlich in einen sanften Tod entlassen würde und …
Gerade wurde ich, so kurz vor dem Abschluss dieses Briefes, durch ein eindringliches Klopfen in meinem Schreiben unterbrochen. Auch bereits dem Tode geweiht, bleibe ich ein Mensch, den äußerste Neugierde antreibt. Deshalb konnte ich es nicht lassen, nachzusehen, wer so kurz vor Mitternacht wagte, in dieser unverschämten Weise an meine Eingangspforte zu hämmern. Doch meine Neugierde wurde enttäuscht. Es war nur ein betrunkener Vagabund, der um ein paar Francs bettelte. Ich wollte diese Kreatur so schnell wie möglich loswerden und wieder zu meiner Niederschrift zurückkehren, daher übergab ich ihm meinen schweren, ledernen Reisemantel, der neben der Eingangstür hing. Der Landstreicher schlurfte erfreut mit seiner Beute davon. So habe ich, der ich nichts mehr hasse, als Weichherzigkeit und mitleidsvolle Gefühlsduselei, doch tatsächlich noch in den letzten verbleibenden Minuten meines irdischen Lebens eine gute Tat vollbracht. Nun, vielleicht wird mir diese Tat vor irgendeinem himmlischen Gericht gut geschrieben werden.
In wenigen Minuten wird die einschläfernde Wirkung meines Trankes einsetzen. Euch, lieber Dupin, wird dieser Bericht Aufschluss gegeben haben zur Klärung der vielen Rätsel, die Ihr stets mit meiner Person verbunden habt. Ihr werdet jetzt erkennen, dass ich, wie ich Ihnen immer wieder versicherte, im Sinne der weltlichen Rechtsprechung unschuldig war und bleibe. Kein Gericht dieser Welt kann mich wegen irgendwelcher Straftat anklagen, weil ich nie gegen die Buchstaben des Gesetzes verstoßen habe, wenn man einmal von der Beseitigung jenes dummen Burschen absieht. Aber die Vernichtung dieses wertlosen, vertanen Lebens rechtfertigt keine Anklage, da werdet Ihr, lieber Dupin, mir sicherlich zustimmen. Ich möchte mich nun für immer von Euch verabschieden. Dupin, mein liebster, treuester Freund, ich weiß, Ihr werdet mit dem, was ich Ihnen berichtet habe, in einer, meiner genialen Person angemessenen Weise umgehen und mir die herausragende Ehre zuteilwerden lassen, die mir zweifelsohne zusteht. Noch ein letztes Mal werde ich einen Blick auf die Ereignisse des übernächsten Tages werfen, jenem Tage, an dem ich bereits nicht mehr auf dieser Erde weilen werde. Ich gebe es freimütig zu, eine gewisse bizarre Neugierde treibt mich, zu erfahren, wie Ihr und letztendlich wie die Gesellschaft meinen Freitod darstellen und mein imposantes, erfolgreiches Leben würdigen werdet.
Lebt nun wohl, mein lieber, treuer Freund.

Postskriptum
Ich schreibe dies in höchster Eile und unter Aufbringung meiner letzten geistigen Kräfte. Ich habe die Zeitung soeben ins Feuer geworfen! Ich, der ich so viel Nutzen aus diesem Papier zog, wurde zuletzt doch schändlich von ihm betrogen!
Widerruf! Bei dem Brandopfer in den Halles Centrales handelte es sich nicht, wie am Tage zuvor berichtet, um den Verleger Jean Batiste G … Wie wir soeben erfahren haben, war das Opfer ein namenloser Landstreicher, der lediglich den extravaganten, auffälligen Mantel des begüterten Mannes trug. Wie der Vagabund indes in den Besitz dieses Mantels kam, war bei Drucklegung dieser Ausgabe noch nicht geklärt.
So hat mich diese Zeitung auf das Hinterhältigste betrogen! Und so habt Ihr, Charles Dupin, mich ebenfalls auf das Schändlichste hintergangen! Wieso habt Ihr geschwiegen? Wieso habt Ihr den Sachverhalt nicht aufgeklärt? Wieso wird mein Freitod mit keinem Worte erwähnt? Wieso erweist Ihr mir nicht die Ehre, die mir zusteht?
Ich verfluche Euch, M. Charles Dupin!
Und ich sterbe mit diesem Fluch auf meinen Lippen!