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Der Duft der Weihnacht

Karin hatte ihr ein gemütliches Plätzchen auf dem Sofa zurechtgemacht. Ben hatte eine Kiste von draußen hereingeholt, sie mit einem Kissen gepolstert und darauf bestanden, dass Regina die Beine hochlegte. Es war die gleiche Kiste, in der er die Holzscheite für den riesigen Kaminofen aufbewahrte. Sie roch herrlich nach frischem Holz. Als Karin in die Küche ging, um nach dem Braten zu sehen, sprang die kleine, schwarz-weiße Mischlingshündin Bella zu Regina auf das Sofa und rollte sich neben ihr zusammen. Regina streichelte das weiche Fell. Es war kalt und feucht. Bella war mit Ben draußen gewesen und brachte eine Brise Winter mit.
„Bella, mach mal Platz! Ich will neben der Oma aus Deutschland sitzen!“ Die vierjährige Claire stand vor dem Sofa. Mit beiden Händen hielt sie Regina eine Schale voller Weihnachtplätzchen hin.
„Kannst du sie mal halten? Mama hat mir die Plätzchen gegeben. Wir dürfen sie jetzt aufessen. Sogar vor dem Abendessen und vor der Bescherung! Riech mal! Die Zimtsterne haben ich und Mama gebacken!“ Mit leuchtenden Augen drückte Claire Regina die Schale in die Hand. Dann lief sie aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einem riesigen Bilderbuch zurück. Sie kletterte auf das Sofa und quetsche sich zwischen Regina und die Hündin.
“Rutsch doch mal, Bella! Ich zeige der Oma jetzt, wie man bei uns in Kanada Weihnachten feiert. Da schau!“ Claire zeigte auf das Bild eines kleinen Mädchens, das festlich gekleidet neben einem geschmückten Weihnachtsbaum stand.
„Das bin ich! Ich habe mich auch schön gemacht. Lisa hat mir heute Morgen die Haare gewaschen. Mit ihrem Duftshampoo!“ Claire streckte Regina den blonden Lockenkopf unter die Nase.
„Vanille! Lisa hat gesagt, das sei ein Weihnachtsduft.“
„Die Oma kriegt ja keine Luft mehr, wenn du deine Haare so fest an ihr Gesicht drückst.“ Lisa, Claires ältere Schwester, war hereingekommen. Sie legte Geschenke unter den Weihnachtsbaum, setzte sich neben Regina auf die Sofalehne und schaute in das Bilderbuch.
„Und wo bin ich?“ Gemeinsam blätterten die Geschwister in dem Buch, um ein Mädchen zu finden, das Lisa glich.
„Und? Seid ihr drei bereit zur Bescherung?“ Ben hatte sich umgezogen und den Adventskranz mit den großen, roten Kerzen aus dem Esszimmer mit ins Wohnzimmer gebracht. Claire lief zu ihm, um ihm beim Anzünden der Kerzen zu helfen. Ihr Gesicht strahlte.
„Und jetzt die Lichter am Weihnachtsbaum! Und die Musik! Einer muss die Musik anmachen! Und Mama muss kommen!“ Claire hüpfte aufgeregt durch das Wohnzimmer.
„Bin da!“ Karin hatte die Küchenschürze abgenommen. Sie ging zu Ben und legte ihm den Arm um die Hüfte.
„Schön habt ihr das gemacht!“
„Du riechst gut“, entgegnete Ben und schnupperte am Haar seiner Frau, „Herrlich! Nach Weihnachtsbraten!“
„Los jetzt!“, ungeduldig zog Claire ihren Vater von der Mutter fort, „Komm! Wir machen die Musik an! Wir machen jetzt Bescherung!“
Liebevoll betrachtete Regina das fröhliche Treiben der kleinen Familie. Und als die ersten Töne von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ erklangen, summte sie leise glücklich mit.

„Aber Frau Hansen! Sie haben ja Ihren Weihnachtstee gar nicht ausgetrunken! Jetzt ist er kalt geworden!“
Die Musik verstummte.
„Es ist so schade, dass Sie dieses Jahr nicht bei Ihrer Familie feiern können! Aber Sie wissen ja: die lange Reise! In Ihrem Alter!“
Regina lächelte.

Sie war dort gewesen. Sie hatte die lange Reise gemacht. Sie hatte mit ihrer Familie Weihnachten gefeiert.

Aber sie würde es niemandem verraten.