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Warum Wandschränke nachts geschlossen werden

Sie hätte ihm glauben sollen. Kleine Schwestern sollten großen Brüdern immer glauben. Er hatte sie gewarnt vor dem, was aus dem Wandschrank kriechen würde. Seine Großmutter hatte ihm erklärt, warum man Wandschränke nachts immer schließen sollte. Nachts, wenn es ganz dunkel ist, kommen sie hervor. Die lichtscheuen Ungeheuer. Kriechen heraus. Ihre milchig weißen Körper hinterlassen glitzerende Schleimspuren. Manche noch im Larvenstadium, durchscheinende Maden, blind, nur ihrem Geruchsinn folgend auf der Suche nach Futter. Würmer, unersättlich in ihrer Gier nach Fleisch. Menschenfleisch. Zartem, frischem Menschenfleisch. Andere, ausgewachsen, riesig, sich windend wie Aale. Hinter der Vertäfelung des Wandschrankes: Ein  unendlich großer, schwarzer, kalter, feuchter Raum. Ein Universum voller  Hass und  geifernder  Gefräßigkeit, das diese teuflischen Ungeziefer hervorbringt. Ausspuckt. Würde er den Wandschrank nachts unverschlossen lassen, kämen sie heraus. Muränen gleich. Große Augen ohne Lider. Riesige Mäuler mit spitzen Zähnen. Wie tollwütige Ratten würden sie nach seinen Gliedern schnappen. Sie fürchten nur eines: Licht. Licht tötet sie. Sein heller Schein durchdringt  ihre lidlosen Augen und verbrennt ihre aufgedunsenen Leiber. Deshalb scheuen sie das Licht. Deshalb sieht sie niemand am Tag. Deshalb kriechen sie nicht  hervor, wenn die Zimmerlampe brennt. Deshalb sehen sie sie nicht. Deshalb glauben sie ihm nicht, wenn er von ihnen erzählt. Von den schleifenden Geräuschen ihrer Schlangenkörper in dem geschlossenen Wandschrank. Von ihrer unablässigen nächtlichen Suche nach einer Öffnung, einem Weg zu ihm, um ihren Hunger nach seinem Fleisch zu stillen und von seinem Blut zu trinken. Niemand glaubt ihm. Nur die Großmutter.  Sie hat von ihnen erzählt, damals, als er sie besuchte und sie noch in diesem Zimmer wohnte. Sie sagen, die Alte sei verrückt gewesen. Sie war krank und alt, aber nicht verrückt.  Und sie hatten vergessen den Wandschrank zu schließen. Und dann war die Großmutter tot. Er hat die Spuren  gesehen. Auf ihrem Fleisch.  Er hat es ihnen erzählt. Sie haben ihm nicht geglaubt. Auch seiner kleinen Schwester hat er es erzählt. Er hat sie gewarnt. Auch in ihrem Zimmer war ein Wandschrank. Sie hat ihn ausgelacht. Kleine Schwestern sollten große Brüder niemals auslachen. Und dann ist sie gekommen. Aus Rache. Weil er sie nicht mit ins Schwimmbad genommen hatte. Sie schlich in sein Zimmer, während er schlief. Und sie hat die Wandschranktür geöffnet und das Licht gelöscht. Als sie die Zimmertür leise hinter sich ins Schloss zog, wurde er wach. Aber da war es schon zu spät. Er konnte sie hören. Unter seinem Bett. Ein Kriechen, ein Schleifen, als würde man mit Sandpapier über den Boden reiben. Er konnte den fauligen, moosigen Geruch ihrer Leiber riechen. Licht! Licht würde helfen! Aber bis zum Wandschalter waren es drei Meter. Er müsste durch sie hindurch waten. Drei Meter. Dreihundert Meter! Sie würden an seinen Beinen hochkriechen. Ihre spitzen Zähne in sein Fleisch schlagen. Er würde es niemals bis zum Lichtschalter schaffen. Sie hatten Witterung aufgenommen. Die Maden würden nach einer Körperöffnung suchen. Ohren. Nase. Augen. Po. Er zog die Decke über sein Gesicht. Machte sich ganz klein. Zog die Beine zum Bauch. Er versuchte, die Decke ganz fest um sich geschlossen zu halten. Ein Kribbeln an seiner Stirn. Nur Angstschweiß. Es war heiß unter der Decke. Es stank. Ihre Ausdünstungen nahmen ihm den Atem. Das Schaben ihrer Leiber. Das Schmatzen, Ausdruck ihres gierigen Verlangens, wurde immer lauter. Er spürte das Kriechen, ein Tasten neben sich. Er hielt den Atem an. Lag bewegungslos. Fühlte, wie sie sich über ihn hinweg schlängelten. Wie sie um ihn herum krochen, riechend, suchend, nach einem Weg unter die Decke, zu ihm. Es gab kein Entkommen. Die Hitze war unerträglich. Er schwitzte. Schweiß durchtränkte sein Bettlaken. Nur Schweiß? Blut? Hatten sie schließlich zu ihm gefunden? Er spürte keinen Schmerz. Fühlte fast so etwas wie Erleichterung. Morgen würden sie ihn finden. Kalt. Ausgeblutet. Zerfetzt. Sie würden in leere Augenhöhlen starren und sich fragen, ob das der Junge gewesen war, dem sie nicht glauben wollten. Warum hatten sie ihm nicht geglaubt? Eine Taschenlampe hätte schon genügt, um die Monster abzuwehren.

Es war nach sieben, als er aufwachte. Er hatte überlebt. Dieses Mal. Sie schimpften ihn aus. Sie glaubten ihm nicht. Grinsend hatte seine Schwester neben ihm gestanden. Sie hatte sich über ihn lustig gemacht, als er sein Bett neu beziehen musste. Kleine Schwestern sollten große Brüder nicht auslachen. Deshalb ist er in der nächsten Nacht zu ihr gegangen. Er hat den Wandschrank geöffnet und das Licht gelöscht. Als ihre grellenden Schmerzensschreie die Eltern herbei riefen, kroch er unter seine Decke. Er wusste: Es war zu spät. Das viele Blut. Überall. Er würde sein Bett neu beziehen müssen.  Kleine Schwestern sollten große Brüder niemals auslachen.