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Die Mutter ( Warten )

Bevor er davon fuhr legte er kurz den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich: „Nicht weinen! Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt.“ Sie schaute zu ihm auf. Wie groß er geworden war! In der ersten Zeit rief er an. Manchmal. Am Wochenende. Viel zu tun. Der Job. Die neue Wohnung. Die Leute hier sind klasse. Geile Schnecken in den Kneipen. Ich komme vorbei, wenn sich alles eingespielt hat. Oder Weihnachten. Vielleicht. Mal sehen, was die anderen vorhaben.

Die Christmette hat sie zu Hause am Fernsehen angeschaut. Ihr war immer so kalt in der Kirche. Und was wäre, wenn er käme, während sie in der Kirche war. Niemand würde ihm öffnen.  Und seine Schlüssel hatte er hier gelassen.  Ihre Schwester lud sie am ersten Weihnachtstag zum Essen ein. Sie lehnte ab. Ginge leider nicht.  Könnte sein, dass Jens kommt, dann musste sie doch daheim sein. Rouladen hatte sie gekocht. Und Rotkohl. Sein Lieblingsessen. Er kam auch am zweiten Weihnachtstag nicht. Am Neujahrstag schickte er eine SMS. Der Sohn der Nachbarin hat sie ihr vorgelesen. „Der besten Mutter der Welt! Ein gutes, neues Jahr! Viele Grüße aus Paris!“ Ob man das ausdrucken kann, hat sie den Nachbarjungen gefragt.

Einmal hat sie ihn angerufen. Nur so. Auf seinem Handy. Er war wütend geworden. Was das solle? Er sei gerade in einem wichtigen Meeting. Sie solle ihm nicht immerzu nachspionieren.

Eine Woche später hat er sie angerufen. Sich entschuldigt. Ja. Ostern klingt gut. Vielleicht Ostern. Falls nicht Rita … Mal sehen.

Freunde hatten sie eingeladen in ihr Ferienhaus an der Nordsee. Ein nettes Angebot. Ja, sie würde gerne mitfahren. An Ostern? Nein, zu Ostern würde Jens kommen. Und er würde Rita mitbringen. Sie hat sich beeilt mit den Ostereinkäufen. Schließlich sollten die beiden nicht vor verschlossener Tür warten müssen. Die Sahnetorte warf sie am Dienstag in die Mülltonne. Den Osterzopf aß sie unter der Woche. Er war trocken, aber zum Kaffee. Bestimmt war ihm etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Sie prüfte, ob ihr Handy geladen war, falls er anrief. Oder hatte er nach Ostern gesagt? Am nächsten Freitag kaufte sie für drei ein und wartete. Samstag und Sonntag verließ sie nicht das Haus. Sie betrachtete die Fotos auf der Kommode. Wie groß er geworden war. Und so selbständig. Dienstag wählte sie mit zitternden Fingern seine Handynummer. „Diese Rufnummer ist nicht vergeben.“ „Nein“, sagte der Nachbarjunge, „dein Handy ist nicht kaputt. Vermutlich hat Jens eine neue Handynummer.“ Sie nickte. Er hatte wohl vergessen, ihr die neue Handynummer zu geben.

Ihre Freunde schüttelten den Kopf. „Du musst doch nicht jedes Wochenende zu Hause sitzen und auf den Kerl warten. Er kann anrufen, bevor er vorbei kommt.“ Sie verstanden nicht. Er hatte noch nie vorher angerufen. So war er nicht. Eines Tages würde er einfach vor der Tür stehen. Sie würde da sein und ihm öffnen. Er würde wieder seinen Arm um ihre Schulter legen und sie kurz an sich ziehen. „Ich besuche Dich. Berlin ist nicht aus der Welt“, hatte er gesagt. Sie würde zu ihm aufschauen und lächeln. Ihr Junge! So groß! So erwachsen! So selbständig! Nein, sie würde am Wochenende nicht mehr mit ihren Freunden weggehen. Die Freunde konnte sie auch unter der Woche treffen. Aber ihren Jungen …  Was wäre sie eine schlechte Mutter, wenn sie nicht daheim wäre, wenn der Junge käme.

Den Muttertag verbrachte sie zu Hause in der Nähe des Telefons. Sie hatte Kuchen gebacken und die Türklingel kontrolliert. Manchmal trat sie auf die Türschwelle und schaute die Straße hinunter. Dabei hatte sie so ein Gefühl. Als wenn er jeden Moment käme.

Vielleicht käme er auch gar nicht an einem Wochenende. Vielleicht war er schon da gewesen. Letzte Woche. Am Dienstag vielleicht. Während sie beim Frisör war. Er hatte sie überraschen wollen, aber sie war nicht da. Bestimmt hatte ihn das enttäuscht. Oder verärgert. Bestimmt hatte er deshalb zu Muttertag nicht angerufen. Was sollte er auch von einer Mutter halten, die lieber zum Frisör geht, anstatt nur dieses eine Mal für ihren Sohn zu Hause zu sein?

So fing es an, dass sie das Haus nicht mehr verließ. Noch nicht einmal zum Einkaufen. Den Nachbarjungen freute das zusätzliche Taschengeld. „Du musst Dir helfen lassen. Das ist nicht mehr normal“, sagten die Freunde. Sie schüttelte den Kopf. Was wussten sie schon von diesem besonderen Band zwischen Mutter und Sohn. Jeden Morgen nahm sie sein Foto von der Kommode, stellte es vor sich hin und sprach mit dem Sohn. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie die Verbindung spüren. Sie konnte fühlen, dass er an sie dachte. Sie fühlte seine Sehnsucht nach ihr. Sie fühlte wie sehr er unter der Trennung litt. Wie gerne er gekommen wäre. So erwachsen. So selbständig. Jeden Morgen versprach sie ihm, zu warten, da zu sein, wenn er an ihre Tür klopfen würde. Für ihn da zu sein. Immer.

Als die Schmerzen begannen, ließ sie sich vom Nachbarjungen Schmerzmittel aus der Apotheke besorgen. Als die Schmerzen heftiger wurden, überlegte sie, ob sie den Arzt ins Haus bestellen sollte. Der Nachbarjunge war rot geworden, als sie ihn zum ersten Mal bat, Binden zu kaufen, die größte Größe und eine Flasche Korn. Die blutdurchtränkte Unterwäsche hatte sie in den Müll geworfen. Sie kannte ihren Körper. Sie wusste, was die Schmerzen bedeuteten. Der Arzt würde sie ins Krankenjaus überweisen. Operation. Mehr als acht Tage nicht zu Hause. Deshalb rief sie keinen Arzt. Sie litt. Aber es war normal für eine Mutter, zu leiden. Das war das Los der Mutter. Sie hatte ihn unter Schmerzen geboren. Es hatte sie fast zerrissen. Wieder fühlte es sich an, als würde etwas in ihr zerreißen. Fast als würde sie ihn ein zweites Mal zur Welt bringen. Sie würde auch diese Schmerzen aushalten. Nur noch diese Schmerzen aushalten, und er wäre da. Wieder bei ihr.

Der Nachbarjunge hat sie gefunden und die Eltern gerufen. Der Arzt schüttelte bedauernd den Kopf:  „Ich kann nichts mehr tun.“ „Sie müssen loslassen“, sagte der Priester. „Nein“, stöhnte sie. „Warten. Er kommt. Bestimmt.“ Sie kämpfe verbissen. Schweißnass. Stöhnte. Weigerte sich zu gehen. Ihre Schwester war da, weinte, streichelte ihre Hand:“ Es ist in Ordnung. Mach es Dir nicht so schwer.“ Mühsam hob sie den Kopf. Das Foto. „Warten!“ Ihr Blick zur Tür. Die Schwester schüttelte den Kopf: „Nein! Er wird nicht kommen. Wir haben ihn nicht einmal erreicht!“

Sie schloss die Augen. Warten. Er wird kommen. Dieses besondere Band. Er würde ihr nie verzeihen, wenn sie jetzt ging. Wenn sie ihn verließ, ohne dass er sich verabschieden konnte. Er würde ihr das nie verzeihen.

Er war auch zur Beerdigung nicht gekommen. Den Verkauf des Hauses hatte er von Berlin aus abgewickelt. Er war großzügig: Die Schwester konnte sich aus dem Haushalt nehmen, was sie wollte. Es war ihm egal.

Der Makler stöhnte, als er das Haus schon wieder zum Verkauf anbieten sollte. „Ich kann in diesem Haus nicht glücklich werden“, sagten alle, die es bewohnten, „immer wenn ich es betrete, umfängt mich diese traurige Sehnsucht.“

„Es ist ihre Seele“, vertraute die Nachbarin der Schwester an. „Ihre Seele kann das Haus nicht verlassen, sie wartet immer noch.“

Einsamkeit

Einsamkeit

Ich habe die Batterien aus der alten Küchenuhr genommen. Ich konnte ihr lautes Ticken nicht mehr ertragen. Eigentlich müsste ich aufräumen und endlich einmal Geschirr spülen. Aber wozu? Aber es ist niemand da, den die Unordnung stört. Und wenn doch jemand käme – aber es kommt bestimmt keiner – könnte ich die Küchentür und die anderen Türen schließen und ihn auffordern im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Ich müsste vorher die Fensterläden hochziehen. Irgendwann habe ich sie einfach unten gelassen. Wozu die Anstrengung jeden Morgen und jeden Abend? Ich gehe sowieso nie ins Wohnzimmer. Den Fernseher habe ich in die Küche gestellt. Die Küche reicht mir. Eigentlich ist die Wohnung  zu groß. Ich habe die Suppe von gestern warm gemacht. Gestern hatte ich auch die Suppe von gestern warm gemacht. Eigentlich ist es egal, was ich esse. In der Nachbarwohnung streiten sie. Sie streiten immer. Wahrscheinlich hat sie wieder die Kartoffeln anbrennen lassen.  Bis in meine Küche kann ich den Geruch nach Verbranntem riechen. Schade, dass ich bei denen nicht einfach die Batterien herausnehmen kann. Ich löffele meine Suppe direkt aus dem Topf  – sieht ja keiner – und schalte den Fernseher ein. Ich drehe ihn laut. So hole ich die ganze Welt in meine Küche und übertöne den Streit meiner Nachbarn.

Geht mich ohnehin nichts an.

Solitär

Er war schon lange nicht mehr in seiner Stammkneipe gewesen.
„Seltsam, wie schnell die Zeit verging“, dachte er.
Kurt ging zur Theke, setze sich und bestellte ein Bier.
„Na, du anonymer Held! Bist ja richtig berühmt geworden!“
Karl, der Wirt, schob ihm das Bier hin.
„Von was redete der eigentlich?“
Dann brachte Karl sein Notebook, tippte eine Zeit lang auf der Tastatur herum und drehte es schließlich so, dass Kurt den Desktop sehen konnte.
„Da! Guck! Facebook! Eine eigene „Der-Mann-im-Wald“-Fanseite! Ich war ja lange nicht mehr draußen, aber das ist doch deine Hütte!“
„Scheiße!“ Kurt starrte auf den Bildschirm. „Ja, das war seine Hütte.“
Jemand hatte ein Foto davon in Facebook gestellt. Und darunter stand: „Wer mag das sein, der dieses abgeschiedene Leben im Wald gewählt hat? Was hat ihn wohl bewogen, der Welt den Rücken zu kehren?“
„Da! Da musst du lesen!“, der Wirt deutete auf den linken Rand des Bildschirms:
„3467 gefällt das, 756 waren hier, 234 sprechen darüber! Im ganzen Dorf bist du Gesprächsthema Nr. 1. Dabei kennen dich doch alle! Zumindest die Älteren. „Unbekannter Mann im Wald!“ So ein Quatsch!“
Kurt starrte immer noch wortlos auf den Bildschirm. Jetzt wurde ihm Einiges klar. Er hatte sich schon gewundert, warum sich letztes Wochenende so viele Spaziergänger in seinen Wald verlaufen hatten.
„Werden welche von der Volkswanderung sein, die falsch abgebogen sind“, hatte er gedacht.
Neugierig hatten sie durch das kleine Gittertor zu seiner Hütte herüber geschaut. Er war neugierige Blicke gewöhnt. Niemand rechnet damit, dass hier am Grund des Tales mitten im Wald eine Hütte steht. Eigentlich ein idealer Ort, um allein zu sein. Der schmale Fußweg führt nirgendwo hin, außer zu seiner Hütte. Und die Hütte liegt so versteckt, dass man sie erst bemerkt, wenn man schon fast davor steht. Es kam immer mal wieder vor, dass sich Wanderer hierher verliefen. Sie blieben neugierig eine Weile stehen, drehten dann um und kamen nie wieder. Warum auch, wie gesagt, der Fußweg führte nirgendwo hin.
Aber die Leute am letzten Wochenende waren anders. Sie blieben länger stehen, deuteten auf seine Hütte und unterhielten sich. Als sie weg waren, war er rausgegangen und hatte nachgeschaut, ob etwas anders war als sonst mit seiner Hütte. Aber er hatte nichts gefunden. Er konnte sich das seltsame Verhalten der Leute nicht erklären. Jetzt wusste er den Grund.
„Schieb mal das Bild weiter runter.“
Er wollte die Kommentare auf der Seite lesen. Nach zwei Minuten hatte er genug. „Spinnen die denn alle? Wie kommen die dazu, sich irgendwelche blödsinnigen Geschichten über ihn auszudenken? Am Leben gescheitert! Dem Konsumterror abgeschworen! Eine alternative Lebensweise suchend! Krank! Arm! Verbittert! Eigenbrötler! Sogar ein Kommentar zu Hartz IV Empfängern! Hatten die nichts anderes zu tun, als so einen Schwachsinn öffentlich von sich zu geben? Eine Anmerkung mit der Überschrift: „Meine persönliche Begegnung mit dem Heiler,“ machte ihn besonders wütend. Er konnte sich an den Vorfall erinnern.

Es war im Frühjahr gewesen, am 1. Mai. Ein kleines Kind schrie erbärmlich. Er wollte gerade nachschauen, was da los war, als es an seiner Tür klopfte. Eine Gruppe aufgeregter Wanderer stand vor ihm. Maiwanderung! Ihrer Fahne nach zu urteilen waren sie schon eine Weile unterwegs.
Ob er Eis habe, wollten sie wissen. Zum Kühlen. Der kleine Junge sei von einer Wespe gestochen worden. Eine Frau hielt ihm das schreiende Kind entgegen. Er hatte sich im letzten Herbst einen kleinen Kräutergarten angelegt. Er nahm ein paar Stiele Petersilie und verrieb sie auf dem Insektenstich.
„Petersilie hat eine antiseptische Wirkung“, erklärte er der Frau.
In der Hütte hatte er noch buntes Kinderpflaster gefunden. Das hatte er einmal in der Apotheke bekommen, als Probepäckchen. Er klebe das Pflaster über den Wespenstich. Wünschte allen einen schönen Tag und schloss die Tür.
Und jetzt schrieb diese Frau über ihre Begegnung mit dem Heiler.
„Sogar die Presse war schon da. Wollte mich über deine Geschichte ausfragen.“
Karl unterbrach seine Gedanken.
„Da müssen sie Kurt schon selber fragen“,habe ich der Frau Journalistin geantwortet. Würde mich nicht wundern, wenn die demnächst bei dir da draußen auftaucht.“
Noch war es früh und Kurt der einzige Gast in der Kneipe.
Er schob dem Wirt vier Euro hin.
„Stimmt so. Ich geh jetzt. Ich muss das Ganze erst einmal verdauen.“
„Kann ich verstehen. Lass dich mal wieder blicken. Und sei vorsichtig! Du hast die Kommentare gelesen. Unterschätz die Leute nicht. Die machen dich zum Helden oder, wenn du nicht so bist, wie sie dich wollen, zum Verbrecher.“
Kurt hatte die Kneipe verlassen. Es hatte zu schneien begonnen. Eigentlich wollte er noch Vorräte einkaufen. Er hatte den Rucksack dabei. Aber ihm war die Lust vergangen.
„Ob diese Journalistin wirklich kommen wird, um ihn zu interviewen, “ überlegte er, während er durch den Schnee marschierte.
„Was sollte er ihr denn erzählen?“
Eigentlich wusste er selbst nicht so richtig, wie das kam, dass er jetzt in einer Hütte im Wald wohnte. Sie hatten ein Haus im Dorf bewohnt, er und seine Frau. Diese kleine Hütte im Wald hatten sie von der Oma der Frau geerbt. Irgendwann begann er, die Hütte wohnlich herzurichten. Wenn seine Frau sonntags nachmittags ihre Freundinnen zum Kaffee einlud, ging er zur Hütte. Andere hatten eine Werkstatt im Keller. Er hatte keinen Platz für eine Werkstatt im Keller; sie hatten noch nicht einmal eine Garage. Also ging er zur Hütte. Dann wurde er pensioniert. Mit 45! Viel zu früh! Aber die Grube brauchte keine Bergleute mehr. Zu Hause stellte er fest, dass seine Frau auch wochentags Freundinnen zum Kaffee einlud. Deshalb ging er auch wochentags zur Hütte. Er staute den kleinen Bach und setzte Fische ein. Jetzt konnte er an seiner Hütte sogar angeln. Frisches Quellwasser hatte er auch. Als ihn ein Kumpel fragte, ob er keine Verwendung für einen alten Kohleofen hätte, vergrößerte er die Hütte. Nun war es sogar im Winter gemütlich warm dort. Irgendwann probierte er aus, ob er im Tal mit einer SAT-Schüssel Fernsehempfang haben würde. Dazu brauchte er Strom. Er baute einen kleinen Holzturm und darauf ein paar Solarzellen. Der Strom reichte gerade für den Kühlschrank, die Glühbirne und an sonnigen Tagen für den Fernseher. Er war gerne an der Hütte. Man sollte ihn nicht falsch verstehen. Er hatte keinen Streit mit seiner Frau. Er ging jeden Abend nach Hause zu ihr. Aber irgendwie zog er die Gesellschaft des Waldes doch der seiner Frau vor. Und ihr ging es wohl ähnlich. Sie war auch zufrieden, so wie es war. Sie hatte ihre Vereine und ihre Freundinnen. Aber dann wurde sie krank. Er konnte nur noch selten zur Hütte gehen. Bald darauf starb sie. Bei manchen Krankheiten geht das ganz schnell. Nach der Beerdigung wollte er allein sein und ging zur Hütte. Von diesem Tag an war er jeden Tag da. Er stellte sich ein Bett in die Hütte, weil er nicht wusste, warum er abends ins Dorf zurückkehren sollte. Den Kohleofen hatte er gegen einen Kohleherd getauscht. Letztes Jahr im Herbst fiel ihm auf, dass er schon seit vier Wochen nicht mehr im Dorf war. Er hatte es überhaupt nicht vermisst. Als er das nächste Mal zur Post ging, um sein Postfach zu leeren, ging er zur Bank. Wenig später hatte die Bank das Haus verkauft. Die Möbel hatte er mit verkauft. Das Wenige, das er behalten wollte, lagerte er in einer gemieteten Garage ein. Das Geld ließ er einfach auf der Bank.

Kurt war an der Hütte angekommen. Das war also seine Geschichte. Was sollte daran besonders sein. Aber mehr könnte er der Journalistin nicht erzählen. Er bekam eine Rente, zahlte Steuern und GEZ, hatte ein Postfach im Dorf und brachte seine Kleider in die Reinigung. Im Herbst hatte er sich gegen Grippe impfen lassen. Er wurde ja schließlich nicht jünger.
Und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Geschichte irgendjemanden interessierte.
Die Journalistin kam nicht. Nicht am nächsten Tag und auch nicht in der Woche danach. Zum Glück!
Vielleicht hatten sie ihn ja wieder vergessen. Vielleicht jagten sie schon einem neuen Geheimnis hinterher. Vielleicht war aber auch das Wetter schuld. Es hatte in der letzten Woche geschneit. Der Weg zu seiner Hütte bedeutete jetzt einen halbstündigen Marsch durch tiefen Schnee. Vielleicht kam die Journalistin deshalb nicht.
Dafür kamen andere.
Es war der 11. November. Seit er von seiner Facebook-Berühmtheit erfahren hatte, war er nicht mehr im Dorf gewesen. Das war jetzt vierzehn Tage her. Seine Vorräte wurden langsam knapp. Er hatte sich gerade eine Dosensuppe warm gemacht, als er sie draußen singen hörte. Kinderstimmen.
„Ach hilf mir doch in meiner Not, sonst wird der bittre Frost mein Tod.“
Er schaute durch das kleine Fenster der Hütte. Sah die Kinder mit ihren Laternen.
„Ach du Scheiße!“, dachte er.
„Haben sie den Martinszug umgeleitet?“
Er öffnete die Tür. Tatsächlich! Da standen Kinder mit Martinslaternen vor ihm. Eine ältere Frau trat auf ihn zu. Kompromisslose Hilfsbereitschaft brannte in ihren Augen. Sie sei die Lehrerin der Klasse 1b. Sie hätten von seinem Schicksal erfahren, und die Kinder hätten spontan beschlossen, ihm zu helfen.
Sie hätten Kleider und warme Decken für ihn gesammelt. Jetzt wo der Winter käme, könne er diese Geschenke sicherlich gut gebrauchen. Kurt hätte die Tür am liebsten sofort wieder geschlossen. Aber die Warnung seines Freundes fiel ihm ein. Karl kannte die Menschen, er hatte sicherlich recht. Außerdem wollte er die Kinder nicht enttäuschen. Sie hatten es ja gut gemeint. Also bat er die ganze Schulklasse herein, bevor sie ihm den Garten noch mehr zertrampeln würden. Er bedankte sich für die Geschenke, besonders für den kleinen Weihnachtsbären, der ihm an langen Winterabenden Gesellschaft leisten sollte. Er bot den Kindern Tee und seine letzten Äpfel an. Sie griffen herzhaft zu. Vertilgten seinen gesamten Vorrat an Trockenpflaumen und machten sich schließlich gestärkt an Leib und Seele singend und Laterne schwenkend auf den Heimweg:
Er blieb zurück und betrachtete mit einem mulmigen Gefühl die Schneepfützen auf dem Boden.
„Was, wenn das erst der Anfang war?“

Und es war erst der Anfang.
Die Menschen hatten ihn zum Mittelpunkt ihrer vorweihnachtlichen Wohltätigkeit auserwählt. Jeder Verein im Ort fand einen Grund, ihn in seine weihnachtlichen Aktivitäten einzuschließen. Am 1. Advent veranstaltete der Gesangsverein ein Adventsingen mit Glühwein und Plätzchen vor seiner Hütte. Am schlimmsten war der 2. Advent, als ihn morgens ein festliches Trompetensolo aus dem Schlaf riss und er lange warten musste, bis seine Wohltäter wieder abgezogen waren. Was hätten sie gesagt, wenn er einfach so, vor ihren Augen im Wald verschwunden wäre. Er hatte nie in Erwägung gezogen, seine Hütte mit einer Toilette auszustatten. Im Wald war schließlich Platz genug. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendeiner vor seiner Hütte stand. Die Menschen wollten ihm zeigen, dass sie gerade Weihnachten auch ihn in ihre Gemeinschaft einbezogen. Die Messdiener schickten eine Delegation. Sie hatten Plätzchen nach der Messe angeboten und ihm von den Spenden eine elektrische Heizdecke gekauft, die sie ihm feierlich überreichten. Er fragte sie nicht, woher er den zusätzlichen Strom für die Decke nehmen sollte. Er erinnerte sich an die Warnung des Wirtes. Tatsächlich machte ihm die Wohltätigkeit der Menschen Angst. Was versprachen sie sich davon? Und was würde passieren, wenn sie das Erhoffte nicht bekämen?

Er war noch einmal in seiner Stammkneipe gewesen. Das Postamt hatte ihn angerufen und ihn gebeten, seine „Fanpost“ abzuholen.
Danach war er auf ein Bier in seine Kneipe gegangen. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen; und er war ziemlich frustriert. Deshalb bleib es nicht bei einem Bier. Er konnte die eisigen Blicke der Menschen in seinem Rücken spüren. Sie flüsterten über ihn. Laut genug, dass er jedes Wort verstehen konnte.
„Wie kommt der dazu, das wenige Geld, zu versaufen.“ „Undankbar!“ „Penner!“ „Schmarotzer!“
„Tut mir wirklich leid für Dich“, flüsterte Karl ihm zu.
„Aber du solltest besser gehen.“
Da bezahlte er und ging.
Drei Tage später stand die Frau vom Gesundheitsamt vor seiner Hütte. Sie hätte da so Einiges gehört. Er solle sie jetzt nicht falsch verstehen, aber sie sei von Amts wegen verpflichtet, den Dingen nachzugehen. Es sei ja schon seltsam, dass er da so alleine wohne. Und eigentlich sei eine Hütte im Wald ja nicht zum Wohnen gedacht. Besonders im Winter. Und die Leute meinten, er würde sich irgendwie merkwürdig benehmen. Auch das Grab seiner Frau sei so ungepflegt. Ob sie einmal hereinkommen dürfte.
„Nein!“, sagte Kurt und schlug der Frau die Tür vor der Nase zu.
Er wartete, bis sie weg war. Dann zog er seine Stiefel an und ging zur Bank.
Nur eine Woche später war er wieder in der Kneipe.
„Ich wollte noch ein letztes Bier mit dir trinken“, sagte er zu Karl.
„Ab morgen ist die Hütte leer. Ich ziehe aus. Ich habe eine Eigentumswohnung in der Stadt gekauft. Möbliert. Weißt du, letzte Woche haben sie im Fernsehen gemeldet, dass ein Mann in seiner Wohnung in der Stadt gestorben ist. Kein Mensch hat das bemerkt. Erst als der Gestank aus der Wohnung nicht mehr zu ertragen war, haben sie ihn gefunden. Hat mir irgendwie gefallen.“

Kurt bezahlte sein Bier, trank aus und ging ein letztes Mal durch den winterlichen Wald zu seiner Hütte.