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Weihnachten

Er hatte lange geschlafen. Es muss Nachmittag sein, überlegte er. Warum hatten sie ihn nicht zum Essen geweckt? Der Junge stand auf. Es war kalt im Zimmer. Jeans, T-Shirt und Pullover lagen noch am Boden, dort, wo er sie heute Morgen hingeworfen hatte. Schnell schlüpfte er in die Hose, zog das T-Shirt und den Pullover über. Dass die Kleider nach Rauch und Bier rochen, störte ihn nicht. Er hatte Hunger.
Der Junge stieg die Treppe hinunter. Zum ersten Mal bemerkte er die Spinnweben am Geländer. Die Treppe war schon lange nicht mehr geputzt worden. Sie lässt sich ganz schön hängen, dachte er. Seit dem Tod vom Alten war sie so. Zwei Monate ist das jetzt her. Mein Gott, war das ein Aufstand. Dabei wussten doch alle, was los war. Todgesoffen hat er sich. Leberkrebs. War ein Scheißtod. Eigentlich waren wir alle froh, als es endlich vorbei war. Sie hätte sich doch auch freuen müssen, so, wie der mit ihr umgesprungen war, die letzten Jahre.
Der Junge betrat die Küche. Heiß war es hier und stickig. Sie hatten sich nie eine Zentralheizung leisten können. Er hasste es, die Kohlen aus dem Keller hoch zutragen. Oft hatte er deshalb Streit mit dem Alten bekommen. Jetzt holte sie die Kohlen aus dem Keller. Er ging zum Radio. Mussten die denn von morgens bis abends Weihnachtslieder dudeln? Der Junge stellte den Sender mit Rockmusik ein und drehte die volle Lautstärke auf. Er setzte sich an den Küchentisch und schob das benutzte Geschirr beiseite. Während der Junge sich eine Zigarette anzündete, betrat die Mutter die Küche. Sie hatte die Katze herein gelassen. Wortlos ging sie um Radio und stellte es leiser. Die Katze war unterdessen zu dem Jungen auf die Bank gesprungen. Schnurrend reib sie ihren Kopf an seinem Arm.
„Na, wo kommst du denn her? Du bist ja ganz kalt und nass.“ Liebevoll strich er über das schwarze Fell.
„Was gibt’s denn zu essen?“ Die Mutter hatte begonnen, den Tisch zu decken: einen Teller, eine Gabel, die Schüssel mit Kartoffelsalat.
„Soll ich dir die Wurst warm machen?“ fragte sie.
„Nein, lass, ich hab‘ Hunger.“ Der Junge begann zu essen. Die Mutter setzte sich zu ihm und schaute ihm schweigend beim Essen zu.
„Weißt du“, begann sie endlich, „ich hab‘ gedacht, ich koch‘ erst heute Abend. Und danach die Bescherung. Nur die Familie, weißt du, genau so, wie es immer war – fast so.“ Sie verstummte.
Der Junge aß schweigend weiter. Das letzte Stückchen Wurst warf er der Katze zu. Er wusste genau, dass die Mutter das nicht mochte. Sie hat es genau gesehen, dachte er und sagt nichts. Sie sagt nie, wenn ihr etwas nicht gefällt. All die Jahre hat sie nie etwas gesagt.
„Soll ich dir noch eine Tasse Kaffee kochen? Zum Wachwerden?“
Die Mutter stand auf, um das Kaffeewasser aufzusetzen.
„Wo ist Eva?“ fragte er.
„Sie hat ihrem Chef versprochen, ihm im Laden zu helfen. Aber zum Abendessen wird sie da sein. Sie will Robert mitbringen. Es wird bestimmt ein gemütlicher Abend werden. Ich hab‘ Wein gekauft, von dem guten, den wir letztes Jahr zu Weihnachten hatten.“
Wieder verstummte sie, stand einfach nur da und wartete, bis das Kaffeewasser kochte. Also meine Schwester wird das Spielchen heute Abend wieder mitspielen, dachte er. Dabei ist doch keiner mehr da, der sie dazu zwingt. Immer, solange er zurückdenken konnte, hatte es Streit um den Heiligen Abend gegeben. Und immer wurde schließlich das getan, was der Alte wollte: Messe, Abendessen, Bescherung. Es blieb nicht bei den zwei Flaschen Wein und dann gab es wieder Streit, weil sie ihm nie alles recht machen konnten. Aber dieses Jahr würde er den Heiligen Abend anders verbringen. Noch nicht einmal Weihnachtsgeschenke hatte er gekauft. Die Mutter brachte ihm eine Tasse schwarzen Kaffee zum Tisch.
„Dein weißes Hemd und die gute Hose hab‘ ich gebügelt. Saubere Wäsche liegt auch schon oben.“
„Ich wird‘ mich nicht umziehen.“ Der Junge stand auf. Mit der Katze auf dem Arm ging er ins Wohnzimmer, streckte sich lang auf dem Sofa aus und stellte das Fernsehen an. Er gab sich Mühe, die Tanne in der Zimmerecke nicht zu bemerken. Die Mutter brachte ihm den Kaffee nach. Unschlüssig blieb sie neben dem Sofa stehen.
„Du willst dich nicht umziehen?“ fragte sie schließlich.
„Nein. Ich bin nicht da heute Abend. Ich geh‘ zu einem Kumpel. Wir machen eine Gegenveranstaltung. Alles Leute, denen Weihnachten aufn Geist geht.“ Lustlos spielte er mit der Fernbedienung. „Nicht mal ordentliche Filme bringen die zu Weihnachten. Lauter rührseligen Mist.“ Er schielte zur Mutter hinüber. Sie war zur Tanne gegangen und hatte begonnen, Lamettafäden über die Äste zu hängen. Sie muss heute Morgen schon früh aufgestanden sein, um die Schachteln mit den Kugeln vom Dachboden zu holen, überlegte er. Die schwarzen Kleider sehen schrecklich aus, die machen sie so dünn. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass die Mutter eine alte Frau war. Alt und krank sah sie aus. Sie ist noch nicht einmal fünfzig, dachte er. Und warum muss sie wegen dem die grässlichen Kleider anziehen! Missmutig wandte er sich ab, wieder dem Fernsehprogramm zu.

Die Katze weckte ihn auf. Der Junge ließ sie hinaus und ging dann zum Bad. Dort sah er die Mutter vor den Spiegel stehen. Sie hatte sich zur Christmette umgezogen. Ihr Gesicht war wie immer: alt, grau, ohne Make up. Sie kämmte sich die Haare. Dann suchte sie in ihrer Handtasche und heilt schließlich ein kleines Fläschchen in der Hand. Sorgsam drehte sie es auf, wollte einige Tropfen des Parfüms auf die Innenseite ihres Handgelenkes geben. Sie wartete lange auf einen einzigen Tropfen, doch das Fläschchen war leer. Der Junge sah das Gesicht der Mutter, als sie das Fläschchen wieder verschloss und zurück in die Handtasche tat. Als sie dann das Bad verließ, saß er schon wieder vor dem Fernsehen. Die Mutter nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken und kam noch einmal ins Wohnzimmer:“ Ich geh‘ dann jetzt. Eva wird bald kommen.“
Sie war gegangen. Zur Mette. Alleine. Sie hatte kein Wort zu seinem Vorhaben am Abend gesagt. Das war das Parfüm vom Alten, dachte der Junge. Jedes Jahr hatte er ihr das gleiche Parfüm geschenkt. Das ganze Jahr über nichts. Nichts zum Geburtstag, nichts zum Muttertag. Aber das Parfüm zu Weihnachten, so ein winziges Fläschchen, total vornehm verpackt. Das Parfüm hatte er nie vergessen. Sie hat’s immer ganz sparsam benutzt. Und es hatte gerade so gereicht, bis zum nächten Weihnachten.
Der Junge sah auf die Uhr. Fünf Uhr. In einer Stunde würden die Geschäfte schließen. In zwei Stunden würde die Mutter zurück sein. Wenn er sich beeilte, würde er es gerade noch schaffen. Schnell zog er seine Jeansjacke über, steckte den Haustürschlüssel ein und machte sich auf den Weg. Vierzig Euro hatte er noch, seinen Beitrag zur Party am Abend. Es machte sich bemerkbar, dass er jeden Abend mit seinen Freunden in der Kneipe saß, und was verdiente man schon als Malerlehrling im zweiten Jahr? Es war kurz vor sechs, als er endlich in der Kosmetikabteilung des Kaufhauses stand. Und es vergingen nochmals einige Minuten, bis er das richtige Parfüm gefunden hatte. Er wollte es gerade aus dem Regal nehmen, als er das Preisschild sah.
„Verdammt“, fluchte er leise. „Hätt‘ nie gedacht, dass der Alte so spendabel war. Dann lassen wir’s eben. War sowieso ne blöde Idee.“ Unschlüssig stand er vor dem Regal. Dann fiel ihm das Gesicht der Mutter ein, wie sie im Bad gestanden hatte. Und dann tat er etwas, was er schon öfter getan hatte, allerdings noch nie in der Kosmetikabteilung: Er öffnete seine Jacke, sah sich kurz um und schob dann schnell und geschickt die Packung unter seinen Pullover. Zwei Minuten später war er draußen und auf dem Weg nach Hause. Er wurde nicht erwischt. Sie hatten ihn hier noch nie erwischt. Wenn er sich beeilte, überlegte er, könnte er duschen und sich umziehen bevor die Mutter kam. Vielleicht würde er dann später, nach der Bescherung noch zu seinen Kumpels gehen, mal sehen.
Vor der Haustür wartete die Katze. Gemeinsam betraten sie das Haus. Die Mutter kam eine viertel Stunde später nach Hause. Sie hörte den Jungen unter der Dusche.
Er pfiff ein Weihnachtslied.