Intercitiy nach Mailand – vielleicht

Karin saß am Küchentisch, und schaute ihm zu, wie er die Zeitung zusammenfaltete, die Kaffeetasse zur Tischmitte schob und sich nach seiner abgegriffenen Aktentasche bückte. Er hob sie auf den Stuhl neben sich. Karin hatte die Dose mit den belegten Broten und die Thermoskanne auf den Tisch  gestellt. Er mochte das Kantinenessen nicht und von dem Kaffee im Büro bekam er Sodbrennen. Sorgfältig räumte er die Aktentasche ein. Den Apfel rieb er am Hemdsärmel blank, bevor er ihn in der Tasche verstaute. Karin erinnerte sich: „An apple a day, keeps the doctor away“, hatte er früher lächelnd gesagt, wenn er auf seinen täglichen Apfel bestand. Keine Banane, kein anderes Obst, jeden Tag einen Apfel. Und jeden Morgen legte sie den Apfel auf dem Frühstückstisch für ihn bereit. Er stand auf, ging zum Fenster und zog sein Handy vom Ladekabel. Ein kurzer Blick nach draußen. Dieser Blick entschied, ob er einen Regenschirm mitnehmen würde. „Scheint ein sonniger Tag zu werden“, meinte er und schob das Handy in die Aktentasche. Der Autoschlüssel lag auf der Kommode neben der Tür, er griff danach : „Und vergiss nicht schon wieder, die Katzenbox in den Keller zu bringen“, sagte er noch, bevor er die Tür von außen zuzog. Als er gegangen war, saß sie da und schaute lange auf die Tür. Sie hatte den ganzen Morgen noch kein Wort gesprochen. Es war ihm nicht einmal aufgefallen. Karin stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Die Zeitung warf sie ins Altpapier. Die kleine graue Katzenbox stand neben der Kommode im Flur. Karin hatte sie gereinigt und die weiche Decke gewaschen. So viel Blut. Sie räumte die beiden Näpfe für Futter und Wasser in die Katzenbox. Als sie den kleinen Spielball dazu legte und das Glöckchen leise klingelte, brannten ihre Augen. Fast meinte sie, das zarte Trippeln von Katzenpfoten hinter sich zu hören. Er wollte keine neue Katze. Karin atmete tief durch, nahm die Wohnungsschlüssel und die Katzenbox und ging in den Keller. Sie schloss die Tür auf. Die Neonlampe flackerte und tauchte den Raum in ein kaltes, helles Licht. Sie stellte die Katzenbox neben die Tür und wandte sich zum Gehen, als ihr Blick auf den Koffer fiel. „Nur ein einziges Mal wurde er benutzt“, dachte Karin, strich mit den Fingerspitzen über das glatte Kunstleder und erinnerte sich.  Italien, Bibione. Sie nahm den Koffer mit nach oben.

Es war Nachmittag, als Karin mit dem Koffer die Wohnung verließ. Er war schwer. Sie ging die Straße hinunter und erschrak, als ein Wagen neben ihr anhielt. „Brauchen Sie ein Taxi?“ Karin nickte. Der Fahrer stieg aus und hob den Koffer in den Kofferraum. Als er ihr die Tür öffnete, stieg sie ein. „Zum Bahnhof?“ Sie nickte.

„35 Euro 40.“ Karin hätte nicht gedacht, dass ein Taxi so teuer war. Dann stand sie da, vor dem Bahnhof mit dem schweren Koffer. Andere Taxis kamen an. Reisende stiegen aus und betraten den Bahnhof. Karin folgte ihnen. Vor der großen Anzeigetafel blieb sie stehen. Sie las die Abfahrtszeiten der Züge und ihre Bestimmungsorte.  Intercity nach Hamburg, Berlin, Paris, Wien, Mailand. Vielleicht Mailand. Karin ging zur Rolltreppe und fuhr nach oben zum Café. Sie stellte ihren Koffer neben den Stuhl ganz vorne am Geländer und nahm Platz. Von hier aus konnte sie die Anzeigetafeln sehen und die ankommenden und abfahrenden Züge. Sie erinnerte sich. „Dies ist ein Kopfbahnhof“, hatte er ihr erklärt, als sie in den Zug nach  Latisana eingestiegen waren. Ihre Hochzeitsreise nach Bibione. Sie hatten einen Ausflug nach Venedig gemacht. Er hatte alles sorgfältig geplant und spielte ihren Reiseführer. Sie waren sogar in einer Gondel gefahren. „Ja bitte?“  Karin erschrak und schaute die Kellnerin verständnislos an. „Kaffee? Tasse? Kännchen?“, fragte die Kellnerin schnippisch. Karin bestellte eine Tasse Kaffee und schaute hinunter in die Bahnhofshalle. Reisende verabschiedeten sich von ihren Freunden, Eltern, Partnern und stiegen mit großen Koffern in den Zug. Andere kamen an und blickten sich suchend um. Sie beobachtete eine junge Frau, die auf einen Mann zuging, der ihr verlegen einen Strauß Blumen überreichte. Beide lachten. Er nahm ihren Koffer, sie hakte sich bei ihm ein und gemeinsam gingen sie den Bahnsteig entlang. Die Frau redete ununterbrochen und der Mann hörte aufmerksam zu. Karins Blick fiel auf die große Bahnhofuhr. Es war zwanzig Minuten nach vier. Sie saß schon über eine Stunde hier. Sie fing den ungeduldigen Blick der Kellnerin auf und bestellte einen zweiten Kaffee. In fünf Minuten würde er nach Hause kommen. Sie war immer daheim, wenn er nach Hause kam. Karin legte ihr Handy vor sich auf den Tisch. Er würde anrufen. Sie würde nicht abheben. „Auf Gleis Sechs fährt ein der Intercity von Mailand.“ Neugierig beugte sich Karin nach vorne. Der Zug hielt mit kreischenden Bremsen. Die Automatiktüren öffneten sich und die Reisenden stiegen aus. Eine ältere Frau blieb stehen und schaute sich suchend um. Dann griff sie entschlossen nach dem Griff ihres Rollkoffers, ging zügig den Bahnsteig entlang und verschwand aus Karins Blickfeld. „Sie weiß genau wohin sie will“, dachte Karin, “wahrscheinlich wartet er draußen auf sie.“ Karin schaute auf ihr Handy. Eigentlich müsste er jetzt anrufen. Als die Bahnhofsuhr Fünf Uhr zeigte, hatte er immer noch nicht angerufen. Wieso rief er nicht an? Karin wurde nervös. Wenn er zu Hause wäre, würde er anrufen. Ganz bestimmt. Wieso war er noch nicht zu Hause? Karin blickte wieder in die Bahnhofshalle hinab. Zwei Mitarbeiter des Roten Kreuzes schoben einen Mann im Rollstuhl zum Zug. Sie hatte nicht gewusst, dass es für Rollstuhlfahrer besondere Türen am Zug gab. Sie halfen dem Mann in den Zug und die Tür schloss sich. Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, wählte Karin die Handynummer ihres Mannes. „Ebert?“, seine Stimme klang überrascht, „ich bin gerade heimgekommen. Wo bist Du?“ Karin schluckte. „Wieso bist du so spät? Ist etwas passiert?“, fragte sie. „Nein, alles in Ordnung“, antwortete er ungeduldig, „ich bin am Tierheim vorbeigefahren. Es wäre gut, wenn du da wärst, das blöde Vieh hat mir den ganzen Arm zerkratzt und sitzt jetzt fauchend unter dem Sofa. Wo bist du?“ Karins Stimme zitterte: „ Ich bin am Hauptbahnhof. Ich habe einen Koffer dabei. Ich bin gerade angekommen“, sie zögerte, „gewissermaßen“, fügte sie hinzu, „kannst du mich abholen?“ Stille. Einen langen quälenden Moment fürchtete Karin, er würde einfach auflegen. Als er wieder sprach, klang seine Stimme anders als sonst, weicher, fast so wie früher: „Ich komme. Und hör auf zu weinen, was sollen denn die Leute denken!“

Karin zahlte und fuhr mit ihrem Koffer in die Bahnhofhalle hinab. Gemeinsam mit anderen Reisenden ging sie zum Ausgang.

Sie weinte.

Leute, die ihr entgegenkamen, bemerkten es und sahen ihr Lächeln und dachten, es wären Freudentränen.

Warum Wandschränke nachts geschlossen werden

Sie hätte ihm glauben sollen. Kleine Schwestern sollten großen Brüdern immer glauben. Er hatte sie gewarnt vor dem, was aus dem Wandschrank kriechen würde. Seine Großmutter hatte ihm erklärt, warum man Wandschränke nachts immer schließen sollte. Nachts, wenn es ganz dunkel ist, kommen sie hervor. Die lichtscheuen Ungeheuer. Kriechen heraus. Ihre milchig weißen Körper hinterlassen glitzerende Schleimspuren. Manche noch im Larvenstadium, durchscheinende Maden, blind, nur ihrem Geruchsinn folgend auf der Suche nach Futter. Würmer, unersättlich in ihrer Gier nach Fleisch. Menschenfleisch. Zartem, frischem Menschenfleisch. Andere, ausgewachsen, riesig, sich windend wie Aale. Hinter der Vertäfelung des Wandschrankes: Ein  unendlich großer, schwarzer, kalter, feuchter Raum. Ein Universum voller  Hass und  geifernder  Gefräßigkeit, das diese teuflischen Ungeziefer hervorbringt. Ausspuckt. Würde er den Wandschrank nachts unverschlossen lassen, kämen sie heraus. Muränen gleich. Große Augen ohne Lider. Riesige Mäuler mit spitzen Zähnen. Wie tollwütige Ratten würden sie nach seinen Gliedern schnappen. Sie fürchten nur eines: Licht. Licht tötet sie. Sein heller Schein durchdringt  ihre lidlosen Augen und verbrennt ihre aufgedunsenen Leiber. Deshalb scheuen sie das Licht. Deshalb sieht sie niemand am Tag. Deshalb kriechen sie nicht  hervor, wenn die Zimmerlampe brennt. Deshalb sehen sie sie nicht. Deshalb glauben sie ihm nicht, wenn er von ihnen erzählt. Von den schleifenden Geräuschen ihrer Schlangenkörper in dem geschlossenen Wandschrank. Von ihrer unablässigen nächtlichen Suche nach einer Öffnung, einem Weg zu ihm, um ihren Hunger nach seinem Fleisch zu stillen und von seinem Blut zu trinken. Niemand glaubt ihm. Nur die Großmutter.  Sie hat von ihnen erzählt, damals, als er sie besuchte und sie noch in diesem Zimmer wohnte. Sie sagen, die Alte sei verrückt gewesen. Sie war krank und alt, aber nicht verrückt.  Und sie hatten vergessen den Wandschrank zu schließen. Und dann war die Großmutter tot. Er hat die Spuren  gesehen. Auf ihrem Fleisch.  Er hat es ihnen erzählt. Sie haben ihm nicht geglaubt. Auch seiner kleinen Schwester hat er es erzählt. Er hat sie gewarnt. Auch in ihrem Zimmer war ein Wandschrank. Sie hat ihn ausgelacht. Kleine Schwestern sollten große Brüder niemals auslachen. Und dann ist sie gekommen. Aus Rache. Weil er sie nicht mit ins Schwimmbad genommen hatte. Sie schlich in sein Zimmer, während er schlief. Und sie hat die Wandschranktür geöffnet und das Licht gelöscht. Als sie die Zimmertür leise hinter sich ins Schloss zog, wurde er wach. Aber da war es schon zu spät. Er konnte sie hören. Unter seinem Bett. Ein Kriechen, ein Schleifen, als würde man mit Sandpapier über den Boden reiben. Er konnte den fauligen, moosigen Geruch ihrer Leiber riechen. Licht! Licht würde helfen! Aber bis zum Wandschalter waren es drei Meter. Er müsste durch sie hindurch waten. Drei Meter. Dreihundert Meter! Sie würden an seinen Beinen hochkriechen. Ihre spitzen Zähne in sein Fleisch schlagen. Er würde es niemals bis zum Lichtschalter schaffen. Sie hatten Witterung aufgenommen. Die Maden würden nach einer Körperöffnung suchen. Ohren. Nase. Augen. Po. Er zog die Decke über sein Gesicht. Machte sich ganz klein. Zog die Beine zum Bauch. Er versuchte, die Decke ganz fest um sich geschlossen zu halten. Ein Kribbeln an seiner Stirn. Nur Angstschweiß. Es war heiß unter der Decke. Es stank. Ihre Ausdünstungen nahmen ihm den Atem. Das Schaben ihrer Leiber. Das Schmatzen, Ausdruck ihres gierigen Verlangens, wurde immer lauter. Er spürte das Kriechen, ein Tasten neben sich. Er hielt den Atem an. Lag bewegungslos. Fühlte, wie sie sich über ihn hinweg schlängelten. Wie sie um ihn herum krochen, riechend, suchend, nach einem Weg unter die Decke, zu ihm. Es gab kein Entkommen. Die Hitze war unerträglich. Er schwitzte. Schweiß durchtränkte sein Bettlaken. Nur Schweiß? Blut? Hatten sie schließlich zu ihm gefunden? Er spürte keinen Schmerz. Fühlte fast so etwas wie Erleichterung. Morgen würden sie ihn finden. Kalt. Ausgeblutet. Zerfetzt. Sie würden in leere Augenhöhlen starren und sich fragen, ob das der Junge gewesen war, dem sie nicht glauben wollten. Warum hatten sie ihm nicht geglaubt? Eine Taschenlampe hätte schon genügt, um die Monster abzuwehren.

Es war nach sieben, als er aufwachte. Er hatte überlebt. Dieses Mal. Sie schimpften ihn aus. Sie glaubten ihm nicht. Grinsend hatte seine Schwester neben ihm gestanden. Sie hatte sich über ihn lustig gemacht, als er sein Bett neu beziehen musste. Kleine Schwestern sollten große Brüder nicht auslachen. Deshalb ist er in der nächsten Nacht zu ihr gegangen. Er hat den Wandschrank geöffnet und das Licht gelöscht. Als ihre grellenden Schmerzensschreie die Eltern herbei riefen, kroch er unter seine Decke. Er wusste: Es war zu spät. Das viele Blut. Überall. Er würde sein Bett neu beziehen müssen.  Kleine Schwestern sollten große Brüder niemals auslachen.

Deutschstunde

Sie hätte nicht gedacht, dass es sich so schnell herumsprechen würde. Eigentlich kümmerte es die Eltern nicht, was sie im Deutschunterricht mit den Schülern besprach. In den ersten beiden Klassen war es noch anders gewesen. Aber die Schüler wurden älter und schwieriger und die Eltern überließen die Bildung ihrer Sprösslinge dann doch lieber den Lehrern. Wozu waren die denn ausgebildet und wozu zahlte man schließlich diese enormen Schulgebühren. Allerdings – Elias Mutter war im Landeselternbeirat für die Referate Deutsch und Mathematik. Elias hatte Karin das gleich in der ersten Deutschstunde stolz verkündet. Ein unangenehmer Strebertyp. Aber sie hätte wirklich nicht gedacht, dass es sich so schnell herumsprechen würde.

Zaghaft klopfte Karin an die Tür des Direktorenzimmers. Bisher hatte sie der Direktor immer im Konferenzraum empfangen. Ihr Herz schlug bis zum Hals als seine dunkle Stimme sie zum Eintreten aufforderte. Karin öffnete die schwere Eichentür und betrat den Raum ihrer eigenen Schulzeit. Es hatte sich nichts verändert. In all den Jahren. Der riesige Schreibtisch, die hölzerne Vertäfelung an der Wand dahinter und das Porträt des Internatsgründers. Ein ernster Mann, der mit strengem Blick auf die Schüler herabblickte. Schüler, die sich ganz klein und unbedeutend fühlten, eingeschüchtert, weil sie zum Direktor zitiert wurden. Nein, es hatte sich nichts geändert. Selbst der Geruch des Bohnerwachses war gleich geblieben und erinnerte sie an das alte, beklemmende Gefühl der Angst. Das Drücken im Magen und den riesigen Kloß im Hals. Herr Direkter Münzner war aufgestanden und reichte Karin freundlich die Hand. „Bitte nehmen Sie Platz, Frau Treibel.“ Karin setzte sich auf den einfachen Holzstuhl vor dem Schreibtisch und betrachte die Vase mit frischen Blumen, die neben einem aufgeklappten Notebook stand. Sie atmete tief durch. Es hatte sich doch etwas verändert. „Sie wollten mich sprechen?“, begann sie mit fester Stimme und blickte den Direktor herausfordernd an. „Ja“, Direktor Münzner erwiderte ihren Blick. Er hatte lässig neben Karin auf der Kante des Schreibtisches Platz genommen und beugte sich zu ihr hinunter. „Sie müssen wissen, Frau Treibel, dass ich Sie als engagierte Kollegin außerordentlich schätze. Aber in Ihrer letzten Deutschstunde“, Herr Münzner räusperte sich,„also, mir ist da etwas zugetragen worden. Bestimmt ein Missverständnis, wo Sie ihren Unterricht doch immer so gewissenhaft vorbereiten. Ich habe der Mutter bereits erklärt, dass ihr Sohn da zweifelsohne etwas missverstanden hat.“ „Also doch die Frau Schönspecht“, überlegte Karin und sah den Schulleiter unverwandt an: „Ja?“  Direktor Münzner stand auf, ging zum Fenster und betrachtete die gepflegte Parkanlage. Es war ein sonniger Frühlingsmorgen. Selbst durch das geschlossene Fenster konnte Karin das Zwitschern der Vögel hören. Es übertönte sogar das tiefe Motorengeräusch des Baggers, der gerade die Baugrube für die neue Cafeteria am anderen Ende des Schulhofes aushob. Der Direktor drehte sich ihr wieder zu: „Verstehen Sie. Sie sind noch nicht lange im Schuldienst. Vielleicht ist es der ungewohnte Stress. Wir alle machen Fehler. Und die Kinder sind schwieriger geworden. So viele Verlockungen. Smartphone, Fernsehen, Internet. Aber umso wichtiger ist eine klare Führung. Diese jungen Seelen brauchen eine feste Struktur. Eindeutige moralische Grundsätze. Und wer, wenn nicht wir, ihre Lehrer, sollten ihnen diese Grundsätze vermitteln? Sie und ich“, Direktor Münzner war neben Karin getreten und hatte ihr väterlich die Hand auf die Schulter gelegt. „Sie und ich sind moralische Instanzen.“ Karin widerstand dem Impuls, die Hand des Direktors abzuschütteln. Der Direktor spürte ihren Widerstand. „Entschuldigen Sie.“ Er nahm die Hand von ihrer Schulter und ging zu seinem Schreibtischstuhl. „Wenn es um meine Schüler geht, reagiere ich immer etwas impulsiv. Was ich meine ist: Diese jungen Welpen brauchen eine klare Ansage. Eindeutige Regeln. Gut und böse. Schwarz und weiß. Sie müssen lernen, was für ihre Zukunft wichtig ist. Dass sie ihre Zeit nicht vergeuden dürfen.“ Direktor Münzner deutete auf das Buch, das vor ihm lag. „Jean de La Fontaine schenkte uns diese Fabeln. Kleine Gedichte und Geschichten voller Lebensweisheit. Tiere, die direkt zu den Seelen unserer Schüler sprechen. Die Schüler lieben diese Geschichten. Sie identifizieren sich mit den Tieren und erkennen so, welches Verhalten verwerflich und welches erstrebenswert ist. Die Grille und die Ameise.“ Direktor Münzner schlug das kleine Buch an der Stelle auf, aus der ein neongelber Klebezettel ragte, „eigentlich eine einfache didaktische Aufgabe. Die leichtsinnige Grille verbringt den Sommer mit Singen und Tanzen, anstatt Vorräte für den Winter zu sammeln, wie es die gewissenhafte, fleißige Ameise tut. Es ist nur folgerichtig, dass die Ameise der Grille ihre Hilfe verweigert, als diese im Winter hungrig an ihre Tür klopft. Ich kann wirklich nicht begreifen, was man daran missverstehen kann.“ Der Direktor schwieg, während er La Fontaines Fabel erneut las. Karin blickte sich abwartend im Büro des Schuldirektors um. „Der Direktor ist eine Ameise“, ging es ihr durch den Kopf, während sie die Diplome und Auszeichnungen betrachtete. Dann entdeckte sie den kleinen sorgfältig gerahmten Kunstdruck an der Wand neben der Tür. Chagalls Fiedler auf dem Dach. Karin stand auf und ging zu dem hohen Bücherregal auf der anderen Seite der Tür. Sie strich liebevoll über die alten Buchrücken. Goethe, Schiller, Böll, Hans Aeblis Grundlagen der Didaktik, und hielt überrascht inne: Eine  CD-Sammlung? Etwas so Persönliches hätte Karin hier nicht erwartet. Sie neigte den Kopf zu Seite um die Titel der CDs zu lesen, die sorgfältig aufgereiht neben den Buchklassikern standen. Klavierkonzerte, Mozart, Brahms. Pink Floyd?  Karin lächelte. „Naja, man kann es sich schlecht vorstellen, aber ich war auch einmal jung“, der Direktor war neben sie getreten, „und ehrlich gesagt, wenn es hier ganz besonders stressig wird, ist Pink Floyd genau das Richtige. Kennen Sie ‚Wish you were here?‘“ Karin zeigte auf die Diplome und die wissenschaftlichen Werke. „Sie sind eine Ameise.“ Empört sah Direktor Münzner sie an. „Was?“, dann zögerte er, „ach so, die Fabel. Genau“, er nickte eindringlich. „Ja, ich bin eine Ameise. Und ich kann ihn gar nicht sagen, wie mühsam das manchmal war. Aber mit Fleiß und Disziplin habe ich es bis zum Direktor dieses Internates geschafft.“ „Fleiß und Disziplin“, nickte Karin und deutete auf den Fiedler „aber sie mögen den Expressionismus und Klaviersonaten, die alten Klassiker und Pink Floyd und frische Blumen auf Ihrem Schreibtisch.“ Ehe der Direktor etwas erwidern konnte, fuhr sie fort:„Und das ist völlig in Ordnung. Wissen Sie, ich habe meinen Schülern gesagt, die Grille habe einen Fehler gemacht. Sie hat den ganzen Sommer die anderen Insekten mit ihrem Gesang unterhalten, aber sie hat sich für diese Leistung nicht bezahlen lassen. Meine Schüler haben es verstanden. Die meisten zumindest. Aber vielleicht sollte ich auch die Eltern zu einer Deutschstunde einladen. Und jetzt“, Karin blickte auf ihre Uhr, „müssen Sie mich entschuldigen, mein Unterricht fängt gleich an.“

Karin ließ einen nachdenklichen Direktor zurück, als sie die Tür leise hinter zu zog. Es hatte sich wirklich etwas verändert.

 

 

 

 

Fräulein Annabella Kleist

Horizonte

 

Es freut mich, dass meine Erzählung „Fräulein Annabella Kleist“ einen Platz in Horizonte 1  gefunden hat.

Die Anthologie wurde von Hanne Landbeck herausgegeben und beinhaltet eine Sammlung von Texten unterschiedlicher Art, von Short Short Stories über Kurzgeschichten bis zu Romanauszügen, die im Zusammenhang mit dem Schreibwerk Berlin entstanden sind.

Das E- Book ist unter diesem Link für 4,10 € bei Amazon erhältlich.

Die Erzählung gibt es auch hier: Drei Erzählungen 

 

Manchmal ändern sich unsere Ansichten, wenn wir genauer hinsehen.